Zusammenfassung
„SCHON vor Jahren hat E. gesagt, sie habe Lust, in die damals noch sogenannte DDR zu verschwinden. Politische Motive können dieser Absicht nicht zugrunde gelegen haben. Der Liberalismus stak ihr in den Knochen und gewiß wäre sie drüben sehr bald durch allerlei Gerede über den Dritten Weg und dergleichen aufgefallen. In der Luftlinie sagte sie, sind es noch keine hundert Kilometer, stelle dir das vor. Heute drückte sie sich wieder so aus, obwohl es dort, wo sie hin wollte, gar keine Flugverbindungen gab. Ich könnte, sagte sie, auch in den Urwald gehen, nach Brasilien zum Beispiel, da habe ich Verwandte, und es würde eine Weile dauern, bis man mich bei denen entdeckte. Aber dorthin zieht es mich nicht. Ich versuchte herauszubekommen, warum und vor wem eigentlich sie fliehen wollte, ein neues Leben anfangen, sie war nicht mehr die Jüngste, außerdem, so weit ich wußte, beliebt und von niemandem verfolgt. Hast du denn Angst, fragte ich, und sie sagte Angst, wovor? und brachte das Gespräch auf die praktischen Fragen der Auswanderung, ob sie zum Beispiel mit der U-Bahn nach Ost-Berlin fahren sollte oder mit der Sightseeing-Tour und irgendwo zurückbleiben, sagen wir auf dem Heldenfriedhof, und sich dann bei der Polizei melden, und ob sic das gleich oder an ihrem Bestimmungsort tun sollte. Ich fragte, ob sie denn einen bestimmten Ort im Sinn habe, in der Mark Brandenburg oder in Pommern, da sei sie doch früher einmal gewesen, und vielleicht zöge es sie dorthin zurück. Aber das wollte sie nicht wahrhaben. Ich möchte, sagte sie, nirgendwohin, sondern nur fort. Vielleicht will ich, setzte sie fröhlich hinzu, sterben, wo mich niemand kennt. — Unter Fremden also, sagte ich erstaunt. — Ja, sagte sie, unter Fremden, die meine Sprache sprechen.“1
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Schmelz, A. (2002). Einleitung. In: Migration und Politik im geteilten Deutschland während des Kalten Krieges. Forschung Politik, vol 43. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10795-8_1
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