Zusammenfassung
Wenn man die Fähigkeit zur Negation als spezifisch menschliche Eigenart annimmt, dann könnte man davon ausgehen, dass auch die Fähigkeit zur Kritik gleichsam als universal anthropologischer Sachverhalt anzunehmen sei. Dass es dennoch so etwas wie,die Schwierigkeit, Nein zu sagen’ (vgl. Heinrich 1982) zu geben scheint, könnte man im Lichte der europäischen Aufklärung darauf zurückführen, dass die Menschen noch zu sehr in Vorurteilen und Autoritätsstrukturen verhaftet sind. Solche Strukturen lassen es zwar zu, dass man Kritik übt, wenn die allseits akzeptierten Standards sozialer Identität nicht eingehalten werden, aber sie erlauben keine ,autonome’ Stellungnahme des Einzelnen, der sich noch zu diesen selbstverständlichen Erwartungshorizonten in ein kritisches Verhältnis setzt. Eine solche kritische Verhältnisbestimmung verlangt eine reflexive Wendung auf das eigene Selbst. Kritisch wird diese Wendung dadurch, dass man eine Differenz einzieht zwischen der sozialen Normalisierungsperspektive, die auch noch den Maßstab von Kritik abgibt, und einem diesem Erwartungsdruck entzogenen ,Selbst’, das als sozial möglichst wenig korrumpiertes den Ort angeben soll, von dem her kritische Urteile auch gegenüber sozialen Selbstverständlichkeiten möglich erscheinen. Die Kritik des Sozialen und der eigenen sozialen Vermitteltheit und die Konstitution eines autonomen Subjekts, dessen Autonomie ihren Grund jenseits des Sozialen und das heißt: in diesem Subjekt selbst haben soll, scheinen zwei Seiten einer Medaille zu bilden. Ohne die Vorstellung einer autonomisierten Subjektivität, die ihren Grund in sich selbst findet und ausweisen kann, scheint es eine Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen, die nicht einfach nur deren Standards zum Maßstab der Kritik an Abweichungen nimmt, nicht zu geben.
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