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Die Dekonstruktion der Krisensemantik: Soziologische Theorien Gesellschaftlicher Pathologien

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Krisensemantik
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Zusammenfassung

Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzogene Terrainwechsel des Krisen-Topos spiegelt die Erschöpfung der in ihm transportierten Sinnressourcen. Beide Varianten dieses Terrainwechsels konvergieren daher in der Konsequenz jener Erfahrung, die sich in der Desillusionierung geschichtsphilosophischer Hoffnungen ihnen schrittweise aufgedrängt hat: dem Verlust sozialer Transzendenz. Allerdings blenden beide den Tatbestand dieses Verlusts auch wieder aus, indem sie Sinnmodelle konstruieren, die an die Stelle der verlorenen Transzendenz treten — als ein in der ästhetischen Erfahrung gewonnener Entlastungseffekt bei Burckhardt und Nietzsche, als eine nur durch Verdrängung noch sich erhaltende Motivationsressource im marxistischen Krisendiskurs. Sie bilden eine analytische Optik aus, die noch von der Sehnsucht nach dem Verlorenen durchdrungen ist. Sei es der katastrophische Finalismus Tocquevilles, sei es die Asthetisierung der Geschichte in der historiographischen Erinnerungsarbeit bei Burckhardt, die leere Transzendenz der „Ewigen Wiederkehr“ Nietzsches oder das immer problematischere Verfahren der Hoffnungsbegründung bei Marx und Engels die soziale Welt der Jetztzeit erscheint stets noch in der Spiegelung auf ein Jenseits, dessen Verwirklichung zwar nicht mehr (oder kaum noch) erhofft werden kann, dessen Rückprojektion auf eine als völlig sinnleer empfundene Wirklichkeit den Blick des analytischen Beobachters aber dennoch leitet. So kann die Unwirklichkeit des Wunsches sogar noch dann, wenn die Vergeblichkeit des Wünschens erkannt ist, als Maßstab des Wirklichen fungieren. Doch geschieht dies nur, weil der desillusionierte Blick die Wirklichkeit zunächst in einer doppelten Konfrontation erfaßt: im Gegensatz von faktisch Wirklichem und einem ideal Erwünschten, dem normativer Rang zuerkannt wird. Das eigene Hoffnungsbild wird zwar von der Wirklichkeit als Illusion enthüllt, doch ist das faktisch Wirkliche dadurch nicht etwa gerechtfertigt. Es wird vielmehr in der Differenz zum vergeblich Erwünschten als Sinnfremdes beschrieben. Zwar erweist das Wirkliche dem Erhofften gegenüber seine überlegene Stärke, aber es wird noch an diesem gemessen — also verurteilt.

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Literatur

  1. Victor Karady führt am Beispiel der Durkheim-Schule diese Logik des intellektuellen Feldes vor und zeigt, wie der Kampf gegen die etablierte Disziplin der Philosophie auf die Konstitution des soziologischen Gegenstandes riickwirkt (vgl. Karady 1981).

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  2. Aber neben diesen klassischen Theorieansàtzen sind auch die Werke Werner Sombarts, Ernst Troeltschs, Max Schelers und anderer von diesem Erfahrungshintergrund und dieser Problematik beherrscht. (vgl. dazu Lenk 1972, 911 )

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  3. Nur kurzzeitig brachte der Hoffnungsimpuls, den die Kriegsbegeisterung von 1914 einem Volk von “Helden” einflößte, die sich von der kulturzerstörerischen Macht der “Handler” abzulösen können glaubten, noch einmal eine Renaissance der Krisensemantik hervor. Georg Simmel baute den Krisen-Topos in seine “Tragödie der Kultur” als Gegenkraft ein, um die Unentrinnbarkeit des Verfalls zu relativieren: “Wenn dies nun die Symptome einer erkrankten Kultur sind, bezeichnet der Krieg den Ausbruch der Krisis, an den die Genesung sich ansetzen kann?” (Simmel 1917, 48) Aber selbst in diesem momentanen Hoffnungsschub der Kriegsbegeisterung konzipierte Simmel die Krise lediglich als retardierendes Moment,nicht als Aufhebungsfigur. Er kehrt zurück zur Vorstellung einer “Krise in Permanenz”, wie Tocqueville sie entwickelt hatte, und postuliert als die “Schicksalsformel einer hochgesteigerten Kultur”: “…daß sie eine fortwährend aufgehaltene Krisis ist. Das heißt, daß sie das Leben, aus dem sie kommt und zu dessen Dienst sie bestimmt ist, in das Sinnlose und Widerspruchsvolle auflösen will, wogegen die fundamentale, dynamische Einheit des Lebens sich immer wieder zur Wehr setzt, die lebensfremde, das Leben von sich abführende Objektivität wieder von der Quelle des Lebens selbst her zusammenzwingt.” (ebd., 64) Als retardierendem Moment eines unaufhaltsamen Verfallsprozesses ist der Krise ihr Ende vorherbestimmt: sie führt in die Zukunft eines zivilisatorischen Reichtums, einer “objektiven Kultur”, worin die katastrophische Kehrseite nur deshalb nicht mehr bemerkbar ist, weil die “subjektive Kultur” schon restlos zerstört sein wird.

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  4. Eine andere Gestalt hat das Motiv der ‘Kulturkrise bei Husserl angenommen. Das Krisenbewußtsein reflektiert hier die kategorialen Grundlagen der wissenschaftlichen Erkenntnis: als “Krisis der Wissenschaften”, die aus dem ’Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit“ erwächst (Husserl 1969, 3). Diese Perspektive geht sowohl in eine Richtung der Soziologie ein, die in den ”Strukturen der Lebenswelt“ (Alfred Schütz) ihren Gegenstand findet, als auch in die Existentialphilosophie Heideggers, die, wie noch gezeigt wird, das Programm einer ’Anti-Soziologie” ausarbeitet.

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  5. Zwar nicht in der Konstruktion ihres Gegenstandes, aber als Erfahrung ist die Unauthebbarkeit des sozialen Zwangs natürlich auch Max Weber und anderen deutschen Soziologen bewußt gewesen. Wie sehr ihre Denkfigur der ‘Verselbständigung’ latent noch die Fiktion seiner Authebbarkeit festhält, zeigt die Rezeptionsgeschichte. Denn neben der ’Anti-Soziologie’ von rechts versuchen auch die linken Schüler Webers wie Lukàcs, Bloch u.a. Authebungsgewißheiten zu rekonstruieren. Auch wenn diese Konstrukte einer in Marx wiedergewonnenen Geschichtshoffnung dann enttäuscht werden, wendet sich das wiederum ’tragisch’ gewordene Bewußtsein mit Vehemenz gegen die Prinzipien Durkheims und ihre ernüchternden Implikationen. Adornos Kritik an Durkheim, die ihm ’sein Bündnis mit falschem Bewußtsein’ (Adorno 1976, 44) vorhält, steht exemplarisch für diese Affekte der Verdinglichungstheoretiker gegen einen Begriff des Sozialen, der noch die Spurenelemente der sinnstiftenden Intention auflöst.

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  6. Auf diese doppelte Frontstellung der Durkheimschen Theorie sozialer Integration hat Anthony Giddens hingewiesen: “One (interpretation; A.S.) was that suggested by Spencer,…: the thesis that solidarity in the division of labor is produced automatically by each individual persuing his own interests in economic exchange with others. (…) The other view which Durkheim was concerned to question was expressed by Comte, among others. According to this conception, social solidarity always and everywhere necessitates the existence of a strongly formed consensus universell,or unity of moral belief. The implication of such a view is that the weakening of this consensus brings about a decline in social cohesion.’ (Giddens 1978, 22)

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  7. Neben Comte glaubten dies übrigens, wie schon dargestellt, auch Lorenz von Stein, Tocqueville und lange Zeit auch Marx.

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  8. Schlüsselbegriffe Durkheims werden im folgenden von mir, wenn notwendig, im französischen Original in Klammern hinzugefügt, weil in den deutschen Übersetzungen die begriffliche Scharfe der Durkheimschen Terminologie oft verwischt wird. Sie werden zitiert aus: Durkheim 1960 und Durkheim 1973.

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  9. Besnard setzt diese Philosophie der Mäßigung, die alle extremen Zustände von hoher Spannungsintensität als pathologisch klassifiziert, scharf gegen das Gleichgewichtsmodell des Selbstmordbuches ab: “La conception du bonheur social et individuel qui ressort des premiers écrits de Durkheim peut être décrite comme une philosophie du juste milieu: rien de ce qui est extrême ou excessif ne saurait produire quoi que ce soit d’utile ou d’agréable. Plus précisément, on peut caractériser cette conception comme relevant d’un modèle de la courbe en U.. ” (Besnard 1987, 86) So bedeutend diese Differenz aber auch für die Periodisierung des Durkheimschen Werks sein mag, so springt doch im Kontext einer Entwicklungsgeschichte der Krisensemantik ins Auge, wie sehr bereits dieses erste Hauptwerk den theoretischen Bruch durchführt, der dann in der Selbstmordstudie seine klassische Form findet.

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  10. Die Beziehung des Werks von Durkheim zu Nietzsche und Marx bleibt jedoch latent und realisiert sich weniger explizit als implizit über theoretische Vermittlungsglieder, die sich im Kontext derselben Problematik bewegen. Im Falle Nietzsches stellt die physiologische Schule der französischen Psychologie diese Vermittlung her (vgl. Gierl 1988; Busch 1989). Im Buch über die Arbeitsteilung wird nur einmal direkt das Marxsche “Kapital” angesprochen (vgl. Durkheim 1977, 434). Marcel Mauss weist aber darauf hin, daß Durkheim während seines Aufenthaltes in Deutschland Marx gründlich studiert hat (vgl. Mauss 1971, 29 ).

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  11. In der amerikanischen Durkheim-Rezeption wird diese doppelte Reflexionsstruktur des Anomie-Begriffs meist unterschlagen und auf die bloße Faktizität der Norm verkürzt. Diese vereinseitigte Interpretationsweise beginnt schon mit dem Werk, das die Durkheim-Rezeption in Amerika einleitet: Parsons’ ‘Structure of Social Action’, wo Anomie einfach als ein Zustand der abgeschwächten Wirkung kollektiver Normen, als ’weakening of dicipline’ definiert wird (Parsons 1949, 336). Wie stark diese Interpretation im angelsächischen Raum gegen den Text selbst weiterwirkt, zeigt die Interpretation von Steven Lukes, der Durkheim vorwirft, daft er die möglichen anomischen Konsequenzen sozialer Normen unterschlage: He never clearly conceived of the possibility that there might be socially given goals that are non-integrative, and social rules and norms that do not lead, in general, to social harmony and individual contentment… He failed to realize that anomie can itself be seen as a norm, culturally prescribed and accepted, rather than a state of normlessness.’ (Lukes 1973, 2171) Stärker noch als das Arbeitsteilungs-Buch zeigt aber die Selbstmord-Studie, daß dieser Gedanke gerade eine der Pointen der Durkheimschen Konzeption bildet. Daß diese interpretatorische Verkürzung nicht einfach der Textignoranz geschuldet ist, sondern der Spezifik des amerikanischen Anomie-Begriffs entspricht, wird noch dargelegt.

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  12. Die breite soziologische Diskussion um die Beziehung und Gewichtung der vier Selbstmordtypen zeichnet Philippe Besnard in seiner Geschichte des Anomie-Begriffs ausführlich nach. Er wendet sich gegen die Identifikation von Integrations-und Regulationsfunktion (Besnard 1987, 62ff) und zeigt im Anschluß an die Interpretation von J. D. Douglas, daß sich sowohl die Differenz als auch die Parallelität der beiden Funktionen nur in der strikt viergliedrigen Typologie der Selbstmordarten begreifen läßt (vgl. ebd., 580. Durkheim ist an jenen Interpretationen, die den “fatalistischen’ Typ unterschlagen, allerdings selbst nicht unschuldig, weil er ihm so wenig Bedeutung zuerkennen will, daß der klassifizierende Begriff nur in einer Fußnote erscheint. Er versucht, diese Vernachlässigung noch durch den Verweis auf die schlechte Materiallage zu erklären. Ein wesentlicher Grund für die ungleichartige Gewichtung der vier Typen - auch die Problematik des ”Altruismus“ wird ja gegenüber den beiden ersten Selbstmordtypen vernachlässigt - dürfte aber vor allem die theoretische Strategie der Studie sein, die in Form einer strikt empirischen Untersuchung zugleich auch eine programmatische Schrift darstellt, worin die Zeitdiagnose einer ”Kulturkrise“ in eine sozialreformerische Lösungsperspektive gerückt wird. Dies wird noch ausgeführt.

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  13. Innerhalb der Theorieentwicklung der Politischen Ökonomie steht Durkheim ungefähr auf dem Niveau Sismondis, der die kapitalistische Ökonomie von chronischer Deregulierung befallen sah. Halbwachs dagegen knüpft an Marx und seine Einsicht in die Doppelfunktion der Krisen an: “I1 n’est pas jusqu’aux crises qui ne jouent un rôle régulateur. (…) Loin d’être déréglée et anarchique, la vie sociale, dans nos civilisations modernes, comporte donc une sorte de discipline spontanée qui restreint singulièrement le libre jeu des activités individuelles.” (Halbwachs 1930, 501)

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  14. Diese Tendenz zeigt sich im Spätwerk Durkheims, vor allem in seiner Religionssoziologie, wo die Anomie-Problematik aasgeklammert bleibt.

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  15. Dies zeigt Philippe Besnard ausführlich (vgl. Besnard 1987, 142ff), ohne diese Tatsache jedoch auf die Problematik des Begriffs und die Zwiespältigkeit des Durkheimschen Wissenschaftsprogramms zurückzuführen. Er benennt lediglich biographische Ursachen für die Konzentration des frühen Durkheim auf das Anomie-Konzept.

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  16. Mertons Unterscheidung ist jedoch keineswegs eindeutig, denn sie taucht in seinem Text zugleich als Differenz von Elementen der “cultural structure’ (vgl. Merton 1957, 133) sowie, in völliger Verwischung aller Begriffsbestimmungen, als ”several elements of social and cultural structures“ (ebd., 132) auf. Besnard diskutiert ausführlich die Widersprüche und Inkonsistenzen des Modells, die sich im Vergleich der verschiedenen Textfassungen noch vervielfachen, und gelangt zu dem vernichtenden Fazit: ”… que les analyses subtiles de Merton: 1) ne constituent pas une théorie; 2) ne portent pas sur l’anomie. Elles ne constituent pas une théorie, en raison de l’équivoque des concepts utilisés et de l’absence de liaison entre les propositions avancées; elles ne constituent pas une théorie de l’anomie parce que cette notion est à la fois incertaine quant à son statut et inutile au propos de Merton.“ (Besnard 1987, 224)

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Steil, A. (1993). Die Dekonstruktion der Krisensemantik: Soziologische Theorien Gesellschaftlicher Pathologien. In: Krisensemantik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10565-7_6

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