Zusammenfassung
Wie die Revolution Frankreichs von 1789 so markieren auch die europäischen Revolutionen von 1848 und 1849 eine epochale Zäsur. Sie veränderten die Erfahrungswirklichkeit der europäischen Gesellschaften — eigenartigerweise gerade dadurch, daß sie eine verborgene Kontinuität aufzeigten. In der revolutionären Ereigniskette, die im Februar 1848 in Paris einsetzte und sich dann in den Nachbarländern des europäischen Kontinents fortsetzte, erwies sich die Dauer jener Konfliktdynamik, die in der ersten Revolution Frankreichs aufgebrochen war: der ‚permanenten Revolution‘, die sich bereits in der sozialrevolutionären Programmatik des Jakobinismus, vor allem aber dann im Frühkommunismus Babeufs und der „Verschwörung der Gleichen“ ankündigte. Schon die Revolution von 1830 bewies, daß die Konfliktpotentiale der Revolution erhalten worden waren, ja sogar an Schärfe noch gewonnen hatten. Jene Konfliktdynamik, die am Ende des 18. Jahrhunderts noch ein Epiphänomen der politischen Revolution zu bilden schien, enthüllte sich nunmehr als allgemeine Tendenz: das Umschlagen einer bloß politischen in eine soziale Revolution. Doch schien zunächst die konstitutionelle Monarchie des ‚Bürgerkönigtums‘ das Ende der revolutionären Epoche zu besiegeln. Der Februar 1848 offenbarte jedoch den illusorischen Charakter dieses Sekuritätsgefühls, dem selbst ein so scharfer Beobachter wie Alexis de Tocqueville erlag, als er einige Wochen vor ihrem Ausbruch in einer Parlamentsrede die Revolution zwar voraussagte, ohne aber dieser Prognose, wie er in seinen „Erinnerungen“ gesteht, selbst recht zu glauben (vgl. Tocqueville, Er, 54f).
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Literatur
Auf die Differenz zwischen dem Orgnismus-Begriff Steins und dem des ständischen Denkens weist auch Eckart Pankoke hin: ‘Für eine Interpretation von Steins organizistischer Metaphorik der Personifizierung des Staates ist andererseits jedoch auch zu beachten, daß sich auf dem Hintergrund der Entwicklungen neuzeitlicher Biologie auch der metaphorische Bezugskontext verändert hat. Der politische Organismus suggeriert nicht mehr nach dem Muster des anatomischen Korpus die Stabilität ständischer Gliederung oder die Totalität monokratischer Herrschaft, vielmehr wurden in der organischen Politikmetaphorik des 19. Jahrhunderts stärker die Bezüge auf die sich damals entfaltenden physiologischen und psychologischen Analysen von Lebensprozessen gesucht, womit sich im t)bertragungsbereich der politischen Organisation Perspektiven eröffneten, die Komplexität und die Dynamik von Austausch-und Vermittlungsprozessen mit einprägsamer Bildhaftigkeit vorzustellen.’ (Pankoke 1977, 1301 )
Dagegen glaubt Heinz Nitzschke, in Steins Theorie eine Geschichtsphilosophie erkennen zu können, die den “Sinn und das Ziel des geschichtlichen Werdens” (Nitzschke 1932, 8) aufzudecken versuche. Gleichzeitig muß er aber feststellen, es habe “den Anschein, als ob sein Interesse vor allem auf der historischen Bewegtheit als solcher und nicht auf der Erreichung eines Endziels ruhe” (ebd., 67). Nitzschke übersieht die grundlegende Differenz zwischen den noch geschichtsphilosophisch argumentierenden Schriften von vor 1848 und den späteren. Diese wird vor allem auch von Manfred Hahn betont (Hahn 1969).
Wie Stein ist auch Tocqueville ein Außenseiter. Raymond Aron hat seinen sozialen Standort prägnant charakterisiert: Tocqueville ist, wie er selbst gesagt hat, ein politisch Einsamer. Er kam von der legitimistischen Partei und stellte sich nicht ohne Zögern und Gewissensbisse hinter die Dynastie des Hauses Orléans, denn er brach damit mit der Tradition seiner Familie. Er hatte aber in die Revolution von 1830 die Hoffnung gesetzt, sie würde sein politisches Ideal endlich verwirklichen, d.h. die Verbindung einer Demokratisierung der Gesellschaft mit einer Stärkung der liberalen Einrichtungen zu einer Synthese…: zur konstitutionellen Monarchie.“ (Aron 1971–1, 235 )
Tocquevilles emotionale Bindung an die vorrevolutionäre Welt der Aristokratie zeigt eine Episode, worin er, mitgeteilt in einem späten Brief; eine Kindheitserinnerung festhält: “Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre, noch an einen gewissen Abend im Schloß meines Vaters: ein Familienfest hatte uns alle und unsere nächsten Verwandten vereinigt. Die Diener hatte man weggeschickt und die ganze Familie saß um den Kamin. Meine Mutter, die eine süße und eindringliche Stimme hatte, begann ein Lied zu singen, das während der Revolution berühmt war und dessen Worte sich auf das Unglück Ludwig XVI. und dessen Tod bezogen. Alle weinten, als sie aufhörte, nicht so sehr über die zahlreichen schweren Einzelschicksale, die ihnen widerfahren waren, oder über die vielen Verwandten, die man im Bürgerkriege und auf dem Schafott verloren hatte, sondern über das Schicksal dieses Mannes, der fünfzehn Jahre vorher verstorben war. Die meisten, die nun ihre Tränen vergossen, hatten ihn niemals gesehen. Aber dieser Mann war der König gewesen.’ (Tocqueville, zit. nach Mayer 1954, 14f )
Vor allem Raymond Aron hebt Tocquevilles Bedeutung für die Soziologie hervor. Neben Montesquieu begründe er ‘eine Schule nichtdogmatischer Soziologen“, die Aron als Alternative zur Schule Comtes, aus der Durkheim hervorgeht, und zur marxistischen Theorie darstellt: ”Sie (die Soziologen in der Nachfolge Tocquevilles; A.S.) interessieren sich vor allem für die Politik, betonen, ohne die soziale Grundstruktur gering zu achten, die Selbständigkeit der politischen Ordnung und denken liberal.’ (Aron 1971–1, 264)
Ich übernehme diesen kaum übersetzbaren Begriff von Fernand Braudel, der darin das Programm einer “Geschichte des langen, selbst des sehr langen Zeitablaufs” (Braudel 1977, 50) formuliert und gegen eine Geschichtsschreibung der bloßen Aufeinanderfolge von Ereignissen abgrenzt. Tocquevilles Analyse der Französischen Revolution kann durchaus als ein erstes Beispiel eines solchen Typs der Historiographie gelesen werden.
François Furet weist allerdings nach, daß Tocqueville dazu neigt, den Entwicklungsgrad dieses Prozesses zu überschätzen. (vgl. Furet 1980, 1611)
François Furet hat dies auch an der historischen Argumentationlinie der Revolutionsanalyse gezeigt. Tocqueville schwanke zwischen ‘zwei Grundhypothesen zur Geschichte Frankreichs’: einerseits einer sich auf die Zentralisierung der Verwaltung konzentrierenden Perspektive, andererseits der Darstellung der Revolution ’als einen raschen Wandel der Sitten und Einstellungen und als ein radikales ideologisches Vorhaben’ (Furet 1980, 181). Wegen der Dominanz der ersten Hypothese verstricke sich Tocqueville in einen grundlegenden Widerspruch: ’Aber indem sie (die Hypothese von der Verwaltungszentralisierung; A.S.) durch diesen Inhalt die Revolution bestimmt, annulliert sie sie als Prozeß und als Modalität der Geschichte, d.h. was an ihr spezifisch ist.’ (ebd.)
Es war schon der Gegenstand des Amerika-Buches, in der Differenz der politischen Formen von ständisch-hierarchischer und demokratisch-egalitärer Gesellschaft auch die daraus notwendig entspringende Differenz der rechtlichen, moralischen, kulturellen und ideologischen Systeme nachzuweisen. Tocqueville nimmt darin schon Ergebnisse und Methoden der Soziologie, speziell der Wissenssoziologie vorweg.
Zwei andere zeitgenössische Autoren entwickeln von entgegengesetztem politischem Standort aus ein analog operierendes Argumentationsmuster, nach welchem sich alle Integrationsressourcen der kapitalistischen Moderne in einem selbstzerstörerischen Aufzehrungsprozeß ersatzlos verflüchtigten: Karl Marx und Friedrich Engels in den Jahren 1847 bis 1852, vom ‘Kommunistischen Manifest“ bis zum ”18. Brumaire“ (vgl. dazu Kapitel 3).
Im Umkreis des Junghegelianismus gab es allerdings schon einen Vorläufer, der sich selbst als ‘Einzigen’ in seiner Einzigartigkeit gefeiert und dem real Allgemeinen der Gesellschaft und ihrer Geschichte entgegengestellt hat: Max Stirner. Die Verbindung von Stirner und Nietzsche betont Hans Heinz Holz. (Holz 1976, 31f1)
In diese Richtung argumentiert Karl Löwith, der die Lehre von der ‘Ewigen Wiederkunft’ als Gegensatz zu dem von ihm teleologisch interpretierten Motiv des ’Übermenschen’ begreift (vgl. Löwith 1956). Zur Kritik dieser Auffassung vgl.: Müller-Lauter 1971, 184f.
Die Parallelität der Intentionen ihres so völlig entgegengesetzten Denkens hält Nietzsche selber an dieser Stelle fest: “Auch ich rede von `Rückkehr zur Natur’, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein Hinaufkommen ist..? (Nietzsche, Gd, 469)
Bereits bei Jacob Burckhardt zeichneten sich die Konturen eines solchen Krisenbegriffs ab, der in der Reproduktion des sozialen Lebens die Funktion der Krisen bestimmt. Walter Busch hat auf Nietzsches zweite Inspirationsquelle aufmerksam gemacht: die Forschungen der französischen Physiologie, vor allem die Arbeiten Claude Bernards. (vgl. Busch 1989, 14 )
Eine parallele Widersprüchlichkeit im Denken Nietzsches zeigt Walter Müller-Lauter. Aus der Erkenntnistheorie des “Perspektivismus”, die alles Denken als perspektivisch gebundene Wahrnehmung spezifischer Macht-Willen interpretiert, folgen divergierende Wahrheits-Konzeptionen: einerseits kann “Wahrheit” durch “Absolutsetzung seiner jeweiligen Perspektive”, andererseits durch ihre ‘Nicht-Absolutsetzung“ (Müller-Lauter 1971, 115) qua Reflexion der eigenen perspektivischen Beschränktheit konstituiert werden: ’So findet jeder sich selbst durchschauende Wille zur Macht eine eigentümliche Widersprüchlichkeit in sich: er muß von der Wahrheit seiner jeweiligen Perspektive uneingeschränkt überzeugt sein, und er muß doch zugleich… sich diese Überzeugung verbieten.” (ebd.) Die erste Denkmöglichkeit führt in das Modell der Macht-Steigerung, die zweite, von Nietzsche vernachlässigt, würde seinem Werk eine wissenssoziologische Perspektive eröffnen, die aber durch die Verabsolutierung des “Willens zur Macht’ zugleich wieder verstellt wird.
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Steil, A. (1993). Von der Geschichtsphilosophie der Revolutionären Krise zur ‚Kulturkrise‘. In: Krisensemantik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10565-7_4
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