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Krisensemantik in der Geschichtsphilosophie

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Krisensemantik
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Zusammenfassung

Alle bisher existierenden Gesellschaften waren Entwicklungsphasen ausgesetzt, in welchen ihr Stoffwechsel mit der natürlichen Umwelt oder ihr inneres Gleichgewicht gestört waren. Diese Perioden, gekennzeichnet durch wirtschaftliche Mangelzustände, interne oder externe Konflikte, auch soziokulturelle Desintegrationserscheinungen — etwa die Niedergangsphasen der antiken Gesellschaften, die Zeiten der Kreuzzüge im Mittelalter und der konfessionellen Bürgerkriege in der beginnenden Neuzeit — werden im Rückblick des Historikers als Krisen klassifiziert, ohne daß dieser Topos in der Selbstbeschreibung jener Gesellschaften schon verwendet worden wäre.

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Literatur

  1. Reinhard Koselleck hat die Frühgeschichte der Krisensemantik ausführlich dokumentiert (vgl. Koselleck 1982, 624ft). Randolph Staus führt sie für das spezielle Feld der Geschichtsschreibung vor (vgl. Starn 1976, 4tf). Beide datieren den verallgemeinerten Gebrauch des Topos auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts.

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  2. Die Begriffsgeschichte dieses Topos, der sich noch innerhalb der antiken Welt (bei Cicero) herausbildet, und den Prozeß seiner Auflösung in dem Kontext des modernen Geschichtsbewußtseins hat Reinhart Koselleck beschrieben (Koselleck 1979, 38f1). Er arbeitet hier den Zusammenhang von ‘Verzeitlichung’ und ’Singularisierung der Geschichte’ heraus (ebd., 62), der sich besonders nach der Französischen Revolution zur dominanten Reflexionsform des Historischen herausbildet.

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  3. Koselleck beschreibt die Formierung des Fortschrittsmodells als dreistufigen Entwicklungsprozeß: “zunächst wird das Subjekt des Fortschritts universalisiert, es bezieht sich nicht mehr auf umgrenzbare Sektoren wie Wissenschaft, Technik, Kunst usw., die bisher das konkrete Substrat des Fortschreitens waren. Das Subjekt des Fortschritts wird ausgeweitet zu einem Agens von höchster Allgemeinheit oder von zwingendem Allgemeinheitsanspruch, dem sich niemand mehr entziehen kann: Fortschritt der Menschheit… Fortschritt der Moral, des Geistes, der Kultur, der Gesellschaft, ferner, bereits formaler. Fortschritt der Zeit und, sehr viel später, Fortschritt der Geschichte. So wird aus den Geschichten der (einzelnen) Fortschritte der Fortschritt der Geschichte.” (ebd., 388)

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  4. Kittsteiner betont diese Doppelbödigkeit des geschichtsphilosophischen Denkens, wenn er festhält: “Die Geschichtsphilosophie behauptet ihre `Modernität` durch Ausschaltung der Autonomieposition des Menschen.” (Kittsteiner 1980, 157) Er arbeitet die innere Spannung der geschichtsphilosophischen Sinnkonstruktionen heraus, die charakterisiert werden durch eine “Betrachtungsweise, die einem objektiv hinter dem Rücken der agierenden Individuen sich vollziehenden Prozeß ein bestimmtes Ziel zuweist…” (ebd., 34) Allerdings verwirklicht das Telos der Geschichtsphilosophie doch gerade die Autonomie des Menschen, zu der er sich in der Jetztzeit ja noch nicht befähigt zeigt. Die Autonomieposition wird also keineswegs ‘ausgeschaltet`, sondern in die Zukunft verschoben.

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  5. Diese Struktur des Zeitbewußtseins unterscheidet die Geschichtstheorien des Fortschritts wesentlich von der christlichen Eschatologie, die ja nicht von der Vorstellung eines ziellosen Kontinuums, vielmehr von der Erwartung einer plötzlich hereinbrechenden Zeit der heilsgeschichtlichen Erfüllung bestimmt wird. Die Säkularisierungsthese, wie sie etwa Karl Löwith vertreten hat (Lówith 1979), verwischt diese Differenz.

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  6. Kant ist sich auch dieses Grundproblems futurisierter Sinnmodelle bewußt. Er empfindet als “befremdend”, daß “die ältem Generationen nur scheinen um der späteren willen ihr mühseliges Geschäft zu treiben, um nämlich diesen eine Stufe zu bereiten, von der diese das Bauwerk, welches die Natur zur Absicht hat, höher bringen könnten: und daß doch nur die spätesten das Glück haben sollen, in dem Gebäude zu wohnen, woran eine lange Reihe ihrer Vorfahren (zwar freilich ohne ihre Absicht) gearbeitet hatten, ohne doch selbst an dem Glück, das sie vorbereiteten, Anteil nehmen zu können.” (Kant, IAG, 37)

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  7. Koselleck hat in dieser Differenz die Entstehungsvoraussetzungen des geschichtsphilosophischen Krisenbegriffs identifizieren wollen: ‘Die zyklische Vorstellung von der Geschichte erlaubte es eher, einen Wendepunkt, eine Peripetie zu konzipieren, für die im gezielten Progreß kein Platz ist.’ (Koselleck 1973, 134)

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  8. Dies zeigt schon jene Passage im ‘Diskurs über die Ungleichheit“, worin Rousseau die Vorstellung einer möglichen Rückkehr zum Naturzustand als Vulgarisierung seiner Gedanken durch ihre Gegner zurückweist (vgl. DU, 319).

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  9. Gegen alle Deutungen des Konservativismus, die seine Entstehung erst mit der Französischen Revolution datieren, weist Kondylis (Kondylis 1986 ) nach, daß schon seit dem 16. Jahrhundert - zeitlich parallel mit der Herausbildung des absolutistischen Staates - sich diese ideologische Formation als Reaktion des politisch weitgehend entmachteten Adels herausbildet. Kondylis vernachlässigt jedoch die Differenzen jener ‘modernen’ Varianten des Konservativismus, wie sie mit Burke und der politischen Romantik aus überwiegend bürgerlichen Intellektuellenschichten heraus entstehen, zu denjenigen Spielarten, in welchen sich die adlige Reaktion zunächst gegen den Absolutismus, dann gegen die Revolution artikuliert, also etwa de Maistre oder Donoso Cortäs. Dadurch verliert er die Wandlungen der Semantik aus dem Blick und konstruiert einen absoluten Bruch in der Mitte des 19. Jahrhunderts, der das Ende des Konservativismus darstelle. Alle weiteren Entwicklungen der ideologischen Formation bis hin zur “Konservativen Revolution” stellt er dann als ’neoliberale Formen dar. Mit gleichem Recht könnte aber auch schon Burke, der ja die Revolution nur wegen ihrer anarchischen Form und ihres `übersteigerten` Bruchs mit der Tradition ablehnt, um eine `reformistische` Transformation des politischen Systems zu empfehlen, als Spielart des Liberalismus gegen die adlige Reaktion abgegrenzt werden.

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  10. Weitere Belege, die die gleiche Vorstellung auch bei Donoso Cortes, Friedrich von Gentz u.a. aufdecken, finden sich bei Kondylis (Kondylis 1986, 341ft), der sie allerdings fälschlicherweise auch Erneuerern des konservativen Gesellschaftsdenkens wie Burke und de Bonald unterstellt.

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  11. Auf die Differenz zwischen dem Zeitmodus der Tradition und dem der Erinnerung weist auch Mannheim, darin Max Scheler folgend, hin: “An die Stelle eines schlichten Lebens aus einem alten Lebenskeime tritt ein Haben der alten Lebensformen auf der Ebene der Reflexion, auf der `Ebene der Erinnerung’. Das konservative Erleben rettet sich gleichsam dadurch, daß es immer mehr auf die Ebene der Reflexivität und der methodischen Beherrschbarkeit jene Einstellungen zur Welt erhebt, die für das originäre Erleben sonst verlorengegangen wären.’ (Mannheim 1984, 126)

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  12. So glaubt der späte Friedrich Schlegel die ‘allgemeine Weltkrisis“ (PG, 386) in der ”religiöse(n) Hoffnung’ auf die ’Wiederherstellung des Zeitalters in dem christlichen Staat und in der christlichen Wissenschaft“ (PG, 419) aufheben zu können. Er deutet die Krise als Einbruch des Bösen in die göttliche Ordnung: ’Nur erst dann, wenn dieses höhere Prinzip des menschlichen, frei erschaffnen Willens erloschen, zurückgetreten, unwirksam geworden, gestört, verdunkelt, und in völlige Verwirrung geraten ist, kann hernach jenes Naturgesetz auch in das historische Gebiet eintreten; und können alsdann die Symptome einer kranken Zeit, die organisch gewordnen Fehler einer Nation, die Vorboten einer herannahenden allgemeinen Weltkrisis allerdings bis auf einen gewissen Grad, auch nach einem bloß naturwissenschaftlichen Standpunkt, und Begriff des erkrankten Lebens aufgefaßt werden.’ (PG, 338) Diese Theologie der Krise versucht geschichtliche Kontingenz durch Verschiebung bewältigen, wird allerdings, theologisch wiederum, mit ihr konfrontiert in den unauflösbaren Widersprüchen der Theodizee: Das Problem der Existenz des Bösen in einer göttlichen Ordnung und seiner geschichtlichen Wirkungsmacht muß Schlegel als ”das größte historische Geheimnis“ (PG, 340) im Dunkeln belassen. So mündet die theologische Rücknahme der Einsichten Burkes nur in die potenzierte Reproduktion seiner Widersprüche: Im Entwurf einer providentiellen Geschichte, die die wirkende Allmacht Gottes nur mehr postulieren kann, bereitet sich die Selbstauflösung eines Geschichtsmodells vor, welches sich die Rückkehr einer vergangenen Sinntotalität wünscht, doch von der Einsicht in die Irreversibilität der Zeit überwältigt wird.

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  13. Von Auguste Comte führt die Entwicklung der positivistischen Soziologie, die mit Saint-Simon einsetzt, unmittelbar weiter zu einem Klassiker. Emile Durkheim, der sich in seiner Studie über den Sozialismus nicht zufällig mit Saint-Simon ausführlich beschäftigt hat (vgl. Kapitel 4). Eine zweite Entwicklungslinie bildet der Historische Materialismus von Marx und Engels, der bedeutensten Gestalt der sozialistischen Tradition (vgl Kapitel 3 dieser Arbeit).

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  14. Allerdings beobachtet auch August von Cieszkowski eine ‘gegenwärtige Krise, eine ’Periode der Desorganisation, des chaotischen Durchbruchs, des Vergehens’ (zit. nach Stuke 1963, 93), die in der Auflösung der Religion ihren Ursprung habe. Er bleibt aber in dieser Wendung ein Außenseiter im rechten Hegelianismus. Und nicht zufällig ist er gerade für den Linkshegelianismus einflußreich geworden.

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Steil, A. (1993). Krisensemantik in der Geschichtsphilosophie. In: Krisensemantik. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10565-7_3

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-10565-7_3

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  • Online ISBN: 978-3-663-10565-7

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