Zusammenfassung
Im folgenden möchte ich mich mit der Entstehung des Gebildes „Krankenkasse“ näher beschäftigen. Wie bereits in Kapitel II.2. ausgeführt, verkörpert sich die organisationale Gebildedimension primär in Form der juristischen Person, in unserem Falle insbesondere als Körperschaft des öffentlichen Rechts, das heißt in einer durch den modernen Staat kodifizierten Rechtsform, die bewußt von der Rechtssphäre der natürlichen Person getrennt wird.
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Literatur
Der moderne Staat wird von Hirsch als der „verobjektivierte Ausdruck eines sozialen Verhältnisses, eine verselbständigte Gestalt der Beziehungen zwischen den Individuen, Gruppen, Klassen und Klassen’fraktionen’“der bürgerlichen Gesellschaft betrachtet (1992, S. 211). Im modernen Staat spiegeln sich das jeweilige Kompromißgleichgewicht innerhalb der herrschenden Klasse sowie die repressiv–ideologischen Beziehungen zwischen hersehender und beherrschter Klasse wider. Die Trennung von modernem Staat und burgerlcher Gesellschaft ist somit keine absolute. Beide befinden sich vielmehr in einem komplexen und konflikthaften Vermittlungszusammenhang von Staatsinterventionen und gesellschaftlichen Einflüssen. Der moderne Staat kann seine spezifische Formbestimmtheit nur solange erhalten, wie er den ökonomischen Reproduktionsprozeß als Kapitalverwertungsprozeß sichern kann. Gleichzeitig setzt die Aufrechterhaltung des ökonomischen Reproduktionsprozesses die Existenz des Staates voraus. Der moderne Staat ist deshalb seiner Form nach eine verselbständigte, auf den Akkumulationsprozeß des Kapitals bezogene und von dessen Widersprüchen geprägte „Institutionalisierung der physischen Zwangsgewalt“(Hirsch 1992, S. 211). Die politische Macht bleibt damit das „Kind der ökonomischen Macht“(Marx). Auch der moderne Staat ist also Klassenstaat, wird aber gleichzeitig zum entscheidenden Ort für die Vermittlung der für die bürgerliche Gesellschaft überlebenswichtigen Klassenkompromisse bzw. zur „ideologisch–materiellen Integration der beherrschten Klassen“(Hirsch 1992, S. 212). Deshalb ist er notwendigerweise ein Interventionsstaat, ohne deshalb aber wieder mit der Gesellschaft zu verschmelzen. Er sichert die bürgerliche Klassengesellschaft als „Einheit von Zwang und Konsens“(Gramsci). Gegen Ende des 19. Jahrhundert hat er sich zum Staat der Gesellschaft bzw. zum „Sozial–Staat“(Lemke) entwickelt. Seine Interventions–und Rechtsetzungsmacht hängt aber weiter von der jeweiligen gesellschaftlichen Klassenkampfkonstellation ab. Vgl. Hirsch, J.: Kapitalismus ohne Alternative? Hamburg 1990; Hirsch, J.: Regulation, Staat und Hegemonie, in: Demirovic, A./Krebs, H.–P./Sablowski, T. (Hrsg.): Hegemonie und Staat, Münster 1992, S. 203–231; Hirsch, J.: Der nationale Wettbewerbsstaat, Berlin 1995; Kebir, S.: Gramsci’s Zivilgesellschaft, Hamburg 1991; Priester, K.: Studien zur Staatstheorie des italienischen Marxismus: Gramsci und Della Volpe, Frankfurt/Main; New York 1981
Bieback 1976, S. 61
Vgl. Endrös 1985, S. 157
Bieback 1976, S. 107
Bieback 1976, S. 71
Bieback 1976, S. 108
Bieback 1976, S. 107
Vgl. Turk, K.: Organisation als Institution der kapitalistischen Gesellschaftsformation, S. 169, in: Ortmann, G./Sydow, J./Turk, K. (Hrsg.): Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft, Opladen 1997, S. 124–176
Zum Reichsversicherungsamt vgl.: Bödiker, T.: Reichsversicherungsamt, in: Zeitschrift fur Sozialreform, Heft 9/1984, S. 527–539; allgemeiner: Bogs, W.: Krankenversicherung (II), S. 284f., in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften (HDSW), 6. Band, Göttingen; Stuttgart; Tübingen 1959, S. 276–296
Bieback 1976, S. 72
Vgl. Lenhardt, G./Offe, C.: Staatstheorie und Sozialpolitik, S. 102, in: Ferber, C.v./ Kaufmann, F.–X. (Hrsg.): Soziologie und Sozialpolitik, Opladen 1977, S. 98–127; Polanyi, K.: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaft und Wirtschaftssystem. Frankfurt/Main 1995, S. 120
Tennstedt, F.: Sozialgeschichte der Sozialpolitik in Deutschland, Göttingen 1981, S. 35
Frevert 1984, S. 141
Hegel 1981, S. 268 (§ 244)
Hegel 1981, S. 270 0245) [kursiv im Original]
Frevert 1984, S. 149
Kalisch zitiert nach: Frevert 1984, S. 149
Ritter, G.: Arbeiter, Arbeiterbewegung und soziale Ideen in Deutschland, München 1996, S. 24 [kursiv im Original]
Mehring, F.: Geschichte der deutschen Sozialdemokratie, Band 2, Berlin 1960, S. 586
Frevert 1984, S. 149
Frevert 1984, S. 149
Nipperdey zitiert nach: Tenfelde, K.: Sozialgeschichte der Bergarbeiter an der Ruhr im 19. Jahrhundert, Bonn 1981, S. 347
Tenfelde 1981, S. 347
Frevert, U.: Arbeiterkrankheit und Arbeiterkrankenkassen im Industrialisierungsprozeß Preußens (1840–1870), S. 299, in: Conze, W./Engelhardt, U. (Hrsg.): Arbeiterexistenz im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1981, S. 293–319
Rodenstein 1978, S. 134
Die Vertreter dieser Linie innerhalb des Staatsapparates mußten sich gegen liberale Vertreter der Klein - u. Mittelbourgeoisie durchsetzen, die aus „Wettbewerbsgründen“keine staatliche Kontrolle und Verrechtlichung der gesundheitlichen Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft akzeptieren wollten.
Ullmann, H.–P.: Industrielle Interessen und die Entstehung der deutschen Sozialversicherung 1880–1889, S. 610, in: Historische Zeitschrift, Bd. 229, 1979, S. 574–610
Reininghaus, W.: Das erste staatlich beaufsichtigte System von Krankenkassen: Preußen 1845–1869. Das Beispiel der Regierungsbezirke Arnsberg und Minden, S. 271, in: Zeitschrift far Sozialreform, Heft 5/6 1983, S. 271–296
Reininghaus 1983, S. 271
Reininghaus 1983, S. 271
Fabrikkrankenkassen bestanden in vielen Großbetrieben als freiwillige, betriebliche Einrichtungen. Der Fabrikherr hatte über die Beitrags - und Leistungsfestsetzung direkten Einfluß auf die Reproduktionsbedingungen seiner Arbeiter und band diese so an den Betrieb. Die akkumulierten Mitgliederbeiträge wurden i.d.R. zur Rücklagenbildung des Unternehmens genutzt. In den Kapiteln V.4. u. VI.1.2 wird auf die Fabrikkassen näher eingegangen.
Vgl. u.a. Peschke 1962, S. 116
Rodenstein 1978, S. 138
Für Baron handelte es sich bei der Bismarck’schen Sozialversicherungsgesetzgebung um keinen „Sieg der Arbeiterklasse“, sondern um einen Sieg der konservativen Teile der Bismarckregierung und der Großbourgeoisie in ihrem Kampf gegen den Liberalismus und für eine Stärkung des autoritär–konservativen Staates. Bezweckt wurde v.a. eine Schutzzollpolitik, die zur Stärkung der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exportproduktion dienen sollte, von der wiederum die beherrschende Stellung des grundbesitzenden Adels und der Großbourgeoisie abhing. Der Anschluß an die Entwicklung der westlichen Industriemächte war für diese Kreise zur Bedingung ihrer Herrschaft geworden. Ab 1883 versuchte man dieser Herausforderung durch eine „überlegene Arbeitskraftökonomie in Gestalt des Zwangsversicherungssystems zu begegnen“(S. 14). Vgl.: Baron, R.: Weder Zuckerbrot noch Peitsche. Historische Konstitutionsbedingungen des Sozialstaats in Deutschland. In: Gesellschaft. Beitrage zur Marxschen Theorie Bd. 12, Frankfurt/Main 1979, S. 13–55. Krätke weist darauf hin, daß die Sozialversicherung auch den Boden für die Lohnsteuer bereitete. Dank der durch sie eingetretenen Stabilisierung der Lebenslagen der Lohnarbeiter wurde die Einkommensteuer auch für gewöhnliche Lohnempfänger möglich. Die Arbeiter bezahlten also nicht nur ihre soziale Sicherheit selbst, sie wurden auch zu vollwertigen Steuerzahlern erzogen. Vgl.: Kratke, M.: Steuergewalt, Versicherungszwang und ökonomisches Gesetz, in: PROKLA Heft 82/1991, S. 112–143
Rodenstein 1978, S. 148
Der sozialdemokratisch beherrschte Zentralverband der Ortskrankenkassen forderte z.B. 1904 eine „Abstufung der Beiträge und Unterstützung nach Klassen, denen die Versicherten nach ihrem wirklichen Einkommen zugeteilt werden“. Zitiert nach Rodenstein 1978, S. 154. Müller bezeichnete die Krankenkassen auch als „`Unterofzierschulen der Sozialdemokratie’.“Zitiert nach Peschke 1962, S. 320 [kursiv im Original]
Tennstedt 1981, S. 90
Vgl. Herder - Domreich 1994, S. 84
Vgl. Hentschel, V.: Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880–1980. Soziale Sicherung und kollektives Arbeitsrecht, Frankfurt/Main 1983, S. 12f.
Tennstedt 1981, S. 82
Fröhlich 1976, S. 266
Vgl. Turk 1995a, S. 84
Tennstedt 1983a, S. 412
Frevert 1981, S.317
Allgemeine deutsche Arbeiterzeitung, Nr. 7/1863. Zitiert nach Frevert 1981, S. 316
Zitiert nach Peschke 1962, S. 321
Vgl. Peschke 1962, S. 322
Wehler 1995, S. 800
Rödel, U./Guldimann, T.: Sozialpolitik als soziale Kontrolle, S. 24, in: Guldimann, T. u.a.: Sozialpolitik als soziale Kontrolle, Frankfurt/Main 1978, S. 11–55
Frevert 1984, S. 235
Frevert 1984, S. 235
Huerkamp, C.: Der Aufstieg der Ärzte im 19. Jahrhundert, Göttingen 1985, S. 307
Frevert 1984, S. 236
Vgl. Frevert 1984, S. 237
Tennstedt, F.: Soziale Selbstverwaltung. Geschichte der Selbstverwaltung in der Krankenversicherung. Band 2, Bonn 1977a, S. 77
Satzung des Hartmannbundes, zitiert nach Tennstedt 1977a, S. 77
Huerkamp 1985, S. 307
Reininghaus 1983, S. 275
Reininghaus 1983, S. 276
Vgl. Tennstedt, F.: Die Errichtung von Krankenkassen in deutschen Städten nach dem Gesetz betr. die Krankenversicherung der Arbeiter vom 15. Juni 1883. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland, S. 309, in: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 5/6 1983b, S. 297–338
Tennstedt, F.: Sozialwissenschaftliche Forschung in der Sozialversicherung, S. 485, in: Ferber, C.v./Kaufmann, F.–X. (Hrsg.): Soziologie und Sozialpolitik, Opladen I977b, S. 483–523
Tennstedt 1977b, S. 485 [kursiv im Original]
Turk, K.: Organisation und gesellschaftliche Differenzierung, S. 183, in: Turk, K.: „Die Organisation der Welt”. Herrschaft durch Organisation in der modernen Welt, Opladen 1995d, S. 155–216
Rödel/Guldimann 1978, S. 27
Vgl. hierzu: Achinger, H.: Soziologie und Sozialreform, S. 44, in: Soziologie und moderne Gesellschaft. Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages vom 20. bis 24. Mai 1959 in Berlin, Stuttgart 1966, S. 39–52
Achinger 1966, S.41f.
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Tauchnitz, T. (1999). Die Entwicklung der Krankenkassen zu korporativen Akteuren: Die Gebildedimension. In: Krankenkassen — Zwang oder Segen?. Forschung, vol 41. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10556-5_4
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