Zusammenfassung
Die Frage muß im Kreise einer Disziplin als ungehörige Provokation gelten, die bei dem Wenigen, über das sie sich einig ist, doch zu wissen glaubt, daß „Dezisionismus“ ein Schimpfwort ist. Auffällig ist ja: Selbst diejenigen, für die „Dezision“ oder mindestens „Entschlossenheit“ im Rahmen ihrer Theorie oder Philosophie einen zentralen Platz einnimmt, verwenden diesen Begriff nicht zur Selbstkennzeichnung — er ist als Fremdbenennung stets pejorativ gemeint. Eine „dezisionistische Schule“ oder Richtung, zu der sich jemand bekennen würde oder stünde, gibt es nicht. „Dezisionismus“ als Anklage ist zentral, wenn von Krockow — die Tradition für die westdeutsche Diskussion in der Politikwissenschaft gewissermaßen begründend — über E. Jünger, C. Schmitt und M. Heidegger schreibt, aber auch bei H. H. Holz über J.P. Sartre oder J. Habermas über R. M. Hare oder nun zuletzt bei K. von Beyme anläßlich aller möglichen von ihm entdeckten Versuche, mit den durch die Entwicklung zur Moderne oder gar Post-Moderne aufgeworfenen Problemen „dezisionistisch“ umzugehen.’ Die Einhelligkeit so ganz verschiedener Autoren, die Tatsache, daß sich der Vorwurf gegen „Rechte“ wie „Linke“ richten kann, müßte eigentlich stutzig machen: wo es Denkverbote im strengen Sinne nicht mehr gibt, könnte da eher traditionsbestimmte Denkfaulheit ein normatives clichée gestiftet haben — der Dezisionismus als on-dit, das fraktions- und schulübergreifend aufkeimende Auseinandersetzungen beendet? Handelt es sich um ein wohlfeiles Schlagwort, das möglicherweise auch Fragen an den jeweils eigenen Ansatz, insbesondere als unangenehm empfundene Fragen zu unterdrücken und verdrängen hilft? Das wäre ja „menschlich“ verständlich — wirft aber doch unvermeidlich im Wissenschaftsbetrieb, dem bekanntlich nichts — nicht mal das „Menschliche“ — „heilig“ bleibt und bleiben soll, irgendwann Fragen auf.
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Literatur
C. Graf von Krockow (1958); H.H. Holz (1951); J. Habermas (1969); K. von Beyme (1991a)
Computer kennen nur zwei Zustände, weil sie so konstruiert wurden, aber warum soll es in sozialen Beziehungen, also den Verkettungen menschlicher Handlungen, stets nur zwei mögliche Zustände geben?
Von Beyme verrät mir fürsorglich, wo in der Gefahr das Rettende zu finden wäre: „Diese Erfahrung ist es wohl, welche Grevens Lanze für eine aktionsbestimmte Sicht der Dinge zugrunde liegt. Aber sie würde im Dezisionismus enden, wenn sie nicht durch systemtheoretische Restriktionsanalysen ergänzt würde (1991b: 21).
Wenn J. Agnoli aufgrund der Diagnose „Dezisionismus“ mich in die Nähe eines italienischen Faschisten rückt (1990: 230) oder J. Gebhardt sich an C. Schmitt erinnert sieht (1990: 241), dann ist das offenkundig mehr als kritisch gemeint und auch K. von Beyme versteht die Kennzeichnung „Links-Schmittianismus” (199la: 342) ja nicht als Lob. Nun wird etwas aber noch nicht dadurch falsch, daß es auch andere ähnlich denken — und seien sie noch so „schlimm“ — sondern es kommt wohl doch auf den jeweiligen Zusammenhang an, in dem der kritisierte Gedanke auftritt. Die Bedeutung einzelner Worte erschließt sich nur aus dem Kontext, nicht aber durch solche Insinuierungen: beachtet man aber den jeweiligen Kontext, in dem „Dezisionisinus” steht, so ergeben sich die nachfolgend aufgezeigten Differenzen.
Siehe „Die Politische Gesellschaft als Gegenstand der Politikwissenschaft“ in diesem Band.
Rechtsstaat“ hier nur zum Zwecke der Abkürzung und Verständlichkeit, aber wegen der zweiten Worthälfte („Staat” — was ist das?) apostrophiert.
Am Beispiel der individuellen Entscheidung gilt dasselbe: „… dem Gedanken der Selbstbindung läßt sich keine haltbare Fassung geben. Es ist nicht zu sehen, was dem, wozu einer sich heute entschieden hat, den überlegenen Anspruch gegenüber dem neuen Wollen morgen verschaffen sollte. Wer sich entschieden hat, will etwas. Er hat sich nicht festgelegt, dies zu wollen“ (R. Bittner 1992: 22 ).
Was ja auch praktisch überhaupt keinen Sinn machen würde!
So der Titel bei C.J. Friedrich (Hrsg.)(1964), der aber wenig über den Inhalt des Sammelbandes verrät, in dem vor allem eine Kritik des „Existenzialismus“ als (emphatischem) Dezisionismus enthalten ist: pragmatischer Dezisionismus wird eher bei D. Braybrookel/D. Lindblom (1962) schulbildend vorgeführt.
Ich habe an anderer Stelle zu zeigen versucht, daß der „okkasionelle Dezisionismus“ (K. Löwith 1960) von C. Schmitt kein Nihilismus ist, sondern clandestin an einen bestimmten Katholizismus rückgebunden und zusätzlich mit zeitgenössischen normativen Substanzbegriffen (z. B. „Volk”) aufgeladen ist, daß also der „reine Dezisionismus“ bei Schmitt selbst nicht vorliegt (M. Th. Greven 1989 ).
Siehe dazu H. Kelsens Beiträge zur Ideologiekritik, insbesondere des Naturrechts und des Neo-Platonismus (1964).
So K. Lenk, der Lübbe aber in einen Zusammenhang von Autoren rückt (Arndt, Hepp, Maschke u.a.), in den er m.E. nicht gehört (1989: 285), weil bei dem „liberalkonservativen“ Lübbe vielleicht das „konservative” Element das nliberale“ gelegentlich in den Hintergrund treten läßt — insbesondere in seiner Kritik der 68er —, weil Lübbe aber ohne jeden Zweifel und im deutlichen Gegensatz zu den genannten für eine liberale Auffassung der Demokratie plädiert und nicht deren Feind ist.
Der Apologievorwurf auch in der Festschrift für H. Lübbe: „Der zweite Einsatzpunkt des politischen Dezisionismus ist daher neben der Metakritik an der Technokratiekritik eine apologetische Sozialphilosophie der Institutionen einer liberalen Ordnung mit der Leitdifferenz,liberale Demokratie/Totalitarismus“’ (H. Kleger 1990: 65). Auch in dieser Apologie des status quo kommt noch einmal deutlich die Differenz zum Vorschein. Interessant ist, wie Kleger die Verbindung zwischen pragmatischem Dezisionismus und Systemtheorie als „Institutionalisierung von,Beliebigkeiten’’ (1990: 78) darstellt.
Auch in „Routinen“ wird natürlich entschieden, wie N. Luhmann in seiner Analyse von „Verfahren” deutlich macht: „So läuft das Verfahren ab als eine Entscheidungsgeschichte, in der jede Teilentscheidung einzelner Beteiligter zum Faktum wird, damit den anderen Beteiligten Entscheidungsprämissen setzt und so die gemeinsame Situation strukturiert…“ (1975: 40). Allerdings sind Verfahren und auf sie bezogene Entscheidungsprobleme durch die Zerlegung des ursprünglichen Entscheidungsproblems, durch Kompetenz-und Zuständigkeitsdifferenzierungen, durch zeitliche Sequenzierung u.ä. charakterisiert, d.h., im Ergebnis wird über das Ausgangsproblem nicht „entschieden”, sondern es wird „kleingearbeitet“ — nicht zuletzt mit dem Effekt „struktureller Verantwortungslosigkeit” eines jeden Beteiligten für das Gesamtergebnis (M. Th. Greven: 1984).
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Greven, M.T. (2000). Über demokratischen Dezisionismus. In: Kontingenz und Dezision. Studien zur politischen Gesellschaft, vol 3. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10522-0_5
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Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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