Zusammenfassung
Die drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen, gelten aufgrund ihrer Geschichte und Geographie als eine homogene Subregion des postkommunistischen Osteuropa. Sie konnten ihre staatliche Unabhängigkeit nach dem gescheiterten Coup d’État gegen Michail Gorbatchov im August und September 1991 wiederherstellen und wurden damit zum Vorbild für andere sezessionswillige Sowjetrepubliken. Die baltischen Staaten waren auch die einzigen Territorien der Sowjetunion, die auf eine Periode unabhängiger, demokratischer Staatlichkeit in der Zwischenkriegszeit zurückblicken konnten. Trotz dieser vergleichbaren Ausgangsposition haben sich die baltischen Demokratien über die neunziger Jahre hinweg aber erheblich auseinanderentwickelt und sehr ungleiche Parteiensysteme, Koalitions- und Stabilitätsmuster hervorgebracht. Auch wenn — selbst im regionalen osteuropäischen Vergleich — die drei baltischen Staaten von den relativ instabilsten Regierungen und Koalitionsbündnissen regiert werden, zeigt eine Analyse der Tiefenstruktur politischer Dynamik, dass in Estland und Lettland auch wechselnde Regierungskoalitionen einen relativ hohen Grad an pragmatisch-politischer Kontinuität aufweisen. In Litauen dagegen, das vordergründig das höchste Maß an parteiensystemischer Stabilität erreichte, entstand ein bipolares Parteiensystem, welches — weiterhin durch den Gegensatz von Post-Kommunisten und Reformkräften gekennzeichnet — zu alternierenden Regierungsmehrheiten führte und so stärkere Affinitäten zur Konstellation im übrigen Osteuropa entwickelte.1
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Literatur
Zu allgemeinen Aspekten des politischen Wettbewerbs im Baltikum vgl. Axel Reetz, Demokratische Transformation im Baltikum, in: ZParl 30. Jg. (1999), H. 4, S. 925–955.
Vgl. zur Methodik des Vergleichs Arend Lijphart, The Comparable-Cases Strategy in Comparative Research, in: Comparative Political Studies, 8. Jg. (1975), H. 2, S. 158–177; Adana Przeworski/Henry Teune, The Logic of Comparative Social Inquiry, New York 1970.
Vgl. Jon Elster/Claus OffelUlrich K. Preuß Institutional Design in Post-Communist Societies. Rebuilding the Ship at Sea, Cambridge 1998, S. 254–261.
Demographische Daten nach Juan Linz/Alfred Stepan, Problems of Democratic Transition and Consolidation, Baltimore, London 1996, S. 403. Die Daten zu Estland stammen aus dem Jahr 1984, die übrigen aus 1989.
Die Verwendung des deutschen Terminus „Konfliktlinie` geschieht hier in bewusster Teilabgrenzung vom Konzept der cleavage structures nach Seymour Martin Lipset/Stein Rokkan,Cleavage Structures, Party Systems, and Voter Alignments, New York 1967. Die aktuellen Fraktionierungen der „neuen“ osteuropäischen Gesellschaften sind nur sehr bedingt mit den dort skizzierten und durch politische Eliten organisierten, langfristig entwickelten cleavage structures vergleichbar.
Zur theoretischen Systematik und Begrifflichkeit: Adam Przeworski, Democracy and the Market. Political and Economic Reforms in Eastern Europe and Latin America, Cambridge 1991, S. 66–79.
Vgl. Ole NOrgaard/Lars Johannen, The Baltic States after Independence, 2. Aufl., Cheltenham 1999, S. 87f. Ein Aspekt, der bei der Transformation half, war, dass die litauische kommunistische Partei — im Gegensatz zu ihren estnischen und lettischen Pendants — nicht von russischen Eliten dominiert war, sondern stets nationalisiert blieb; vgl. Algis Krupavicius, The Post-Communist Transition and Institutionalization of Lithuania’s Parties, in: 46. Jg. (1998), H. 3, S. 472f.
Eine ausführliche Genealogie der politischen Parteien in den drei Vergleichsstaaten versuchen Vello PettailMarcus Kreuzer,Party Politics in the Baltic States: Social Bases and Institutional Context, in: East European Politics and Societies, 13. Jg. (1999), H. 1, S. 185189.
Vgl. John T. Ishiyama, Founding Elections and the Development of Transitional Electoral Parties: The Cases of Estonia and Latvia, 1990–1992, in: Communist and Post-Communist Studies, 26. Jg. (1993), H. 3, S. 292.
Vgl. Ole NNrgaard/Lars Johannsen, a.a.O., S. 75.
Vgl. Ole NprgaardlLars Johannen,a.a.O., S. 80.
Vgl. Axel Reetz, Demokratische Transformation, a.a.O., S. 937.
Vgl. exemplarisch Mikko Lagerspetz/Henri Vogt,Estonia, in: Sten Berglund/Thomas Hellén/Frank H. Aarebrot (Hrsg.), Handbook of Political Cleavages in Eastern Europe, Cheltenham 1998, S. 72–74; Herrmann Smith-Sivertsen, Latvia, ebenda, S. 97–102.
Giovanni Sartori, Comparative Constitutional Engineering, London 1994.
Vgl. zu den Details der Wahlsystemdebatte in Estland Bernard Grglman/Evald Mikkel/Rein Taagepera, Electoral Systems Change in Estonia, 1989–1993, in: Journal of Baltic Studies, 30. Jg. (1999), H. 3, S. 227–249.
In diesem Beitrag zur Koalitionsbildung kann die Wahltechnik nicht im Detail dargestellt werden. Vgl. dazu etwa Vello Pettai/Mareus Kreuzer, a.a.O., S. 148–189 oder die einschlägigen Appendices der Länderkapitel bei Sten Berglund/Thomas Hellén/Frank H. Aarebrot (Hrsg.), a.a.0.
Implementiert im Kontext eines einigermaßen strukturierten Parteiensystems können Majorzregeln das Systemziel Stimmenkonzentration und Mehrheitsbildung noch erreichen. Für das kombinierte Wahlsystem in Litauen ist diese Bedingung erfüllt, generell wird diese funktionale Erwartung von den noch fragilen, wenig verankerten Parteiensystemen Osteuropas regelmäßig konterkariert. Vgl. Robert G. Moser, Electoral Systems and the Number of Parties in Postcommunist States, in: World Politics, 5I.Jg. (1999), H. 3, S. 359–384.
Vgl. Jon Elster/Claus Oriel Ulrich K. Preuff, a.a.O., S. 95–108.
Verfassungstexte können z.B. über die Webseite des Projekts „Political Transformation and the Electoral Process in Post-Communist Europe“ eingesehen werden: http;//www.essex.ac. uk/elections (11. März 2002). Kurze Skizzen der jeweiligen Regierungssysteme enthalten die einschlägigen Appendices der Länderkapitel bei Sten Berglund/Thomas Hellén/Frank H. Aarebrot (Hrsg.), a.a.O.
So exemplarisch Jon Elster, Afterword, in: Ray Taras, Postcommunist Presidents, Cambridge 1997, S. 226f.
Vgl. Ole Norgaard/Lars Johannsen,a.a.O., S. 58f. verweisen weiter auf Versuche Meris, die materiellen Kompetenzen des Präsidenten auf den außenpolitischen Bereich auszudehnen und die formalen Befugnisse bei der Regierungsbildung zu erweitern.
Vgl. Wolfgang C. Müller/Kaare Strom, Koalitionsregierungen in Westeuropa — eine Einleitung, in: dies., Koalitionsregierungen in Westeuropa. Bildung, Arbeitsweise und Beendigung, Wien 1997, S. 16; vgl. auch die Kriterien bei Jaap Woldendorp/Hans Keman/tan Budge, Party Government in 48 Democracies (1945–1998): Composition — Duration — Personnel, Dordrecht 2000, S. 10.
Vgl. Wolfgang C. Müller/Kaare Strom, a.a.O., S. 17.
Vgl. Anthony Downs, An Economic Theory of Democracy, New York 1957.
Vgl. William H. Riker, The Theory of Political Coalitions, New Haven 1962.
Vgl. z.B. Michael Lover/Norman Schofield, Multiparty Government. The Politics of Coalition in Europe, Oxford 1990; Michael Laver/Kenneth Shepsle, Making and Breaking Governments, Cambridge 1996.
Robert Axelrod, Conflict of Interest: A Theory of Divergent Goals with Applications to Politics, Chicago 1970.
Herbert Kitschelt u.a., Post Communist Party Systems, Cambridge 1999, S. 88f.
Vgl. im Einzelnen Anatol Lieven, The Baltic Revolution: Estonia, Latvia, Lithuania, and the Path to Independence, New Haven/London 1993, S. 282f.
Zu den Fraktionswechseln vgl. Axel Reetz,Demokratische Transformation, a.a.O., S. 925927.
Als Beispiel vgl. etwa die emphatische Stellungnahme des ehemaligen österreichischen Botschafters in Tallinn: Wendelin Ethnayer, Estland. Der Aufbruch nach Europa, Berlin 1999. Mikko Lagerrpetz/Henri Vogt, a.a.O., S. 76–78 vergleichen diese Politik mit dem Konzept der „extraordinary politics“ des polnischen Ökonomen und Finanzministers Leszek Balcerowiez und schreiben diese Phase bis in die Gegenwart fort.
Vgl. Mikko Lagerspetzlienri Vogt, a.a.O., S. 75.
Zur Riigikogu-Wahl 1995 und den folgenden Koalitionsverhandlungen vgl. Rein Taagepera, Notes on Recent Elections: Estonian Parliamentary Elections, March 1995, in: Electoral Studies, 14. Jg. (1995), H. 3, S. 328–332.
Vgl. zu den Regierungsturbulenzen East European Constitutional Review, Constitution Watch: Estonia, 6. Jg. (1997), H. 2, 3.
Zur parteipolitischen Blockbildung im Vorfeld der Wahl vgl. John Fitzmaurice, Notes on Recent Elections: The Parliamentary Election in Estonia, March 1999, in: Electoral Studies, 20. Jg. (2001), H. 1, S. 141–146.
Dies soll auch als Beleg dafür gelten, dass Minderheitsregierungen nicht per se weniger produktiv sein müssen als Regierungen mit einer breiteren parlamentarischen Basis. Vgl. Vello PettailMareu.s Kreuzer, a.a.O., S. 156.
Zu den begleitenden Parteienquerelen vgl. East European Constitutional Review, Constitution Watch: Latvia, Spring 1994, S. 11–14.
Vgl. Ole Norgaard/Lars Johannsen,a.a.O., S. 83. Tabelle 3: Kabinette in Lettland 1990 bis 2002
Vgl. im Überblick Axel Reetz, Demokratische Transformation, a.a.O., S 946f.
Zu einer detaillierten Chronologie der Ereignisse East European Constitutional Review, Constitution Watch: Latvia, 6. Jg. (1997), H. 4.
Vgl. East European Constitutional Review, Constitution Watch: Latvia, 7. Jg. (1998), H. 2.
Vgl. auch The Baltic Review, Vol. 16, S. 28f.
Zu den einzelnen Parteien-und Koalitionsmanövern vgl. auch John Davies/ Andrejs Valdis Ozolins,Notes on Recent Elections: The 1998 Parliamentary Election in Latvia, in: Electoral Studies, 20. Jg. (2001), H. I, S. 135–141.
Zum Ende dieser Regierung, zum dubiosen „Abtauchen“ des Übergangspremiers Albertas,iinénas vgl. den Bericht bei Vytautas Landsbergis, Jahre der Entscheidung. Litauen auf dem Weg in die Freiheit. Eine politische Autobiographie, Ostfildern 1997, S. 289–301.
Vgl. z.B. die systematische Aufstellung bei Darius 2eruolis, Lithuania, in: Sten Berglund/ Thomas Hellén/Frank H. Aarebrot (Hrsg.), a.a.O., S. 149–151.
Vgl. Alvidas Luko3aitis, Parliament and Parliamentarism in Lithuania: 1918–1940 and 1990–1997, in: Algis Krupavicius, Lithuania’s Seimas Election 1996: The Third Turnover, Berlin 2001, S. 43.
Vgl. Algis Krupavicius, a.a.O., S. 546; ders., Political Results of the Seimas Election of 1996, w: ders., Lithuania’s Seimas Election 1996, S. 165.
Vgl. East European Constitutional Review, Constitution Watch: Lithuania, 8. Jg. (1999), H. 4.
Vgl. East European Constitutional Review, Constitution Watch: Lithuania, 9. Jg. (2000), H.1/2.
Vgl. East European Constitutional Review, Constitution Watch: Lithuania, 9. Jg. (2000), H. 3.
Mögliche Kriterien formuliert Scott Mainwaring Party Systems in the Third Wave, in: Journal of Democracy, 9. Jg. (1998), H. 3, S. 67–81.
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Tiemann, G., Jahn, D. (2002). Koalitionen in den baltischen Staaten: Lehrstücke für die Bedeutung funktionierender Parteien. In: Kropp, S., Schüttemeyer, S.S., Sturm, R. (eds) Koalitionen in West- und Osteuropa. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10487-2_11
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