Zusammenfassung
In gewissem Sinn haben die Kritiker der Selbstregierung recht: Zu völlig selbständiger effektiver Verwaltung oder Regierung im Sinne einer reibungslosen Staatsmaschinerie sind die — oft geschädigten — Heimjugendlichen weitgehend unfähig. Heim-Selbstregierung ist eine für alle Beteiligten sehr mühselige Angelegenheit!
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References
Kapitel 8 siehe Bernfeld (1974d) und Wills (1941, 1945, 1964a.).
m völligen Gegensatz zu den Junior Republics, welche die Staatsorgane tänschend echt und bewußt mit aller formalen Würde nachahmten, wird beim hier beschriebenen Konzept auf die staatlichen und politischen Bezeichnungen möglichst verzichtet, da sie (hier) unerwünschte Assoziationen wecken. Beim Gericht etwa die Vorstellung von Zwangsautorität, Vergeltung, förmlicher Würde und Angst. Ähnlich steht es mit Gesetz (besser: Beschluß), Präsident etc. Lane beschrieb (in Bazeley 1948: 50–54) den Effekt, als jemand im Little Commonwealth das Wort Gericht für die rechtsprechenden Versammlungen aufbrachte: Der Charakter der Versammlung schlug sofort (und für einige Wochen) um, der weibliche Richter wurde widerstandslos abgesetzt und durch einen Jungen ersetzt, da es (in England 1913) keine weiblichen Richter geben konnte. Ähnlich verlief es in der George Junior Republic im Jahre 1895, sobald das bis dahin selbstverständliche gleiche Wahl-und Stimmrecht der Mädchen umdefiniert wurde zum politischen Frauenstimmrecht, das im Staat New York noch nicht durchgesetzt war.
Analog läßt sich dies auch für den Machtgebrauch formulieren. W. D. Wills betonte, daß die ganze Arbeit in Hawkspur wesentlich geprägt war durch seine Überzeugung als Quäker. Von Quäkern ist bekannt, daß sie nicht nur offene Gewalt ablehnen (Pazifismus), sondern auch den Machtgebrauch selbst, und so auch das Mehrheitsprinzip, und stattdessen das Prinzip der allgemeinen Übereinstimmung bevorzugen. Die Vermutung liegt nahe, daß die Jugendlichen in Hawkspur hier lediglich die innerste Überzeugung ihres Lagerleiters und Vorbildes Wills praktizierten, und sich Wills Erfahrungen deshalb hier nicht ohne weiteres verallgemeinern lassen. Wieweit die Interpretation des mit Abstand besten Theoretikers Wills wirklich nur für seine eigene Arbeit zutreffen, ließe sich nur durch den Vergleich mit den Kinderrepubliken der anderen Lane-Nachfolger überprüfen, der hier aber nicht geleistet werden kann.
Wohlgemerkt: gegen die Tyrannen soll entschieden vorgegangen werden, sie sollen verurteilt und ggf. auch bestraft werden. Die Erzieher müssen aber Sorge tragen, daß nicht in berechtigter (!) Empörung allzuscharfe Maßnahmen ergriffen werden.
Allerdings berichtete Neill auch von entrüsteten Reaktionen und Favoritismus-Vorwürfen, wenn er einen unter Zwang handelnden Jugendlichen der Rechtsprechung der Vollversammlung und damit seiner gerechten Strafe entzog.
Neill arbeitet zwar prinzipiell ebenso wie Wills, doch fällt im Vergleich auf, daß in der Literatur von und über Neill nirgends eine wirklich klare Abgrenzung zwischen den Bereichen der erwachsenen Heimleitung einerseits und der von den Kindern / Jugendlichen dominierten Vollversammlung andererseits erfolgt Nur sehr allgemein wird gelegentlich (z. B. Hemmings 1972: 148) darauf verwiesen, daß die Regeln in bestimmten Bereichen, insbesondere Sicherheitsregeln, unumstößlich von der Heimleitung erlassen werden. Es war klar, daß Neill und Mrs. Lins in einigen Bereichen
etztlich das Sagen hatten: Bei der Sicherheit, Gesundheit, bei der Anstellung und Entlassung von Personal und beim Schul-Eigentum. Doch auch in diesen Bereichen bestand einige Flexibilität: Da Neills Vorschläge nicht immer konsistent und überzeugend waren und manchmal auch seine Frau anderer Meinung war, diskutierte die Versammlung darüber, welche gefährlichen Teile des Geländes (etwa bestimmte Wege, auf bestimmte Dächer zu klettern) für welche Kinder verboten werden sollten. So kam es, daß die Versammlung auch über Sicherheitsregeln und (auf Neills Antrag) über Neills Privat-Werkstatt diskutierte und abstimmte (vgl. Segefjord 1971:27, Neill 1969: 146 f.). Neill scheint in einigen (seltenen!) Fällen auch gezielt Einfluß auf die Versammlung ausgeübt zu haben, ohne daß ein Grund oder eine Ro-gel ersichtlich wäre. Die Abgrenzung der drei Sphären scheint in Summerhill also nur unvollkommen reflektiert worden zu sein. Dafür spricht auch die Kritik des mehrjährigen Summerhill-Lehrers Stephens (1988: 36) an der selbstherrlichen Regelsetzung der jetzigen Leiterin Zoe Readhead: „Eine andere und für die Zukunft besorgniserregende Entwicklung ist die Schaffung einer Institution, durch die die Direktorin Schulgesetze auch ohne die Beteiligung des Meetings einführen kann. Dieses Gremium, die Lehrerversammlung, wurde 1988 eingerichtet“ ... Es kam in Summerhill vor, daß die Versammlung sehr antisoziale Kinder aus der Schule ausschloß. Croall (1984: 182) betont jedoch, daß Neill solche Fälle nur dann der Versammlung vorlegte, wenn er Ihren Ausschluß selber schon so gut wie beschlossen hatte und nur noch die öffentliche Zustimmung wünschte. Es konnte auch vorkommen, daß Neill einem Beschluß der Versammlung bewußt zuwiderhandelte, etwa einem Kind entgegen der Versammlung sein Gewehr und Messer zurückgab, weil es kein allgemeines Gesetz dagegen gab. Segefjord (1971: 103) beschreibt seine Verwunderung, als Neills Stiefsohn ihm 1966 die künftigen Sicherheitsregeln für das im Bau befindliche Schwimmbecken erläuterte, ohne daß sie je Thema in der Versammlung gewesen wären. In den 50er und 60er Jahren erließ Neill selbst (nicht die Versammlung) ein (weiter unten zitiertes) Rauchverbot. Stephens (1988: 36) beklagt, daß die Schulleitung von sich aus Alkohol und Tabak verboten hat. Hammelmann (1991: 106) und Rollin (1992: 53) berichten davon, daß die Vollversammlung über das Rauchverbot abstimmte, also nicht die Schulleitung bestimmte. Dies zeigt die Unklarheit der Zuständigkeiten. Zu den Summerhill-Gesetzen siehe: Segeijjord (1971: 27, auch 72 f., 84, 95 f., 100, 103); das Neill-Zitat zu Horrorfilmen in Segefjord (1971:73). „Freiheit bedeutet in Summerhill jedoch nicht die Abschaffung des gesunden Menschenverstandes. Wir sorgen in jeder Weise für die Sicherheit der Schüler. Die Kinder dürfen nur in Anwesenheit von Rettungsschwimmem baden, von denen jeder für je sechs Kinder verantwortlich ist. Schüler unter elf dürfen nicht allein auf öffentlichen Straßen radfahren. Diese Bestimmungen sind von den Schülern in der Schulversammlung durchgesetzt worden. Es gibt jedoch keine Bestimmung, nach der das Klettern auf Bäumen verboten ist. Das Besteigen von Bäumen gehört zum Prozeß der Lebensertüchtigung. Man würde ein Kind zum Feigling erziehen, wollte man Ihm alles verbieten, was mit Gefahr verbunden ist. Unsere Schüler dürfen allerdings nicht auf die Dächer steigen, und auch der Besitz von Luftgewehren und anderen gefährlichen Waffen ist nicht gestattet. Jedesmal, wenn wieder Holzschwerter vorübergehend in Mode kommen, stehe ich Todesängste aus. Ich verlange dann immer, daß die Schwertspitzen durch einen Gummi-oder Stoffüberzug gesichert werden; trotzdem bin ich jedesmal froh, wenn die Mode abgeklungen ist. Es ist nicht leicht, eine Grenze zwischen realistischer Vorsicht und Überängstlichkeit zu ziehen.” (Neill 1969: 38) „Natürlich gibt es Grenzen der Ungezwungenheit. Wir können einem sechs Monate alten Kind nicht erlauben, selbst herauszufinden, daß eine Zigarette wehtun kann. Aber auch da sollte man die Gefahr ohne viel Aufhebens beseitigen.“ (Neill 1969: 117 f.) „In Summerhill fragen wir unsere Fünfjährigen nicht, ob sie einen Feuerschutz brauchen oder nicht. Wir lassen einen Sechsjährigen nicht entscheiden, ob er ins Freie gehen kann oder nicht, wenn er Fieber hat. Und wir fragen auch kein übermüdetes Kind, ob es ins Bett gehen will oder nicht. Man fragt ein krankes Kind nicht nach seiner Einwilligung, wenn man ihm Medizin gibt.” (Neill 1969: 157)
„ ,I want to say something quite serious, and I don’t want any laughter about it.’ He then said, ,I made a law at the beginning of this term about smoking if you are under sixteen.* He explained why he had made this law: that because of the cancer threat, the government had told all schools to discourage children from smoking and ,Summerhill can’t stand out against the whole of the schools of England’. But now he found that many underage children were still smoking ,and quite openly ... Some of you think rm an old softie. Neill is an easy going guy. Well, I’m going to tell you all something’. What he told them was that they either had to stop smoking or he’d tell their parents that they could not come back to Summerhill. Neill: rm going to have this law carried out for my own safety and for yours as well. So don’t feel you can come home here, and do as you like. You can’t.
airman: Right. We’ve all heard Neill. You take it from there. Is there any more business? Meeting closed, then.“ (Hemmings 1972: 148, Auslassung (...) dort) * „The phrase ,1 made a law’ suggests that Neill considered this matter to belong to one of the categories for which he reserved the right of decree. It may have been a ,danger to life’ rule, or one made to ensure conformity to national regulations.” [Original-Anmerkung bei Hemmings] Eine ganz ähnliche Rede Neills aus dem Jahr 1966 (mit Verweis auf eine weitere Rede von 1964) zitiert Segefjord: „Vor zwei Jahren sagte ich in einer Samstagabendversammlung ein paar Worte über das Rauchen: Ich habe ein Gesetz erlassen, das Kindern unter sechzehn Jahren das Rauchen verbietet. Fs ist nicht leicht, sich an ein solches Gesetz zu halten und seine Einhaltung zu kontrollieren. Und es wird natürlich auch nicht leichter dadurch, daß ich selbst und mehrere Mitarbeiter rauchen; Ich habe es aber erlassen, weil das Ministerium verfügt hat, daß alle Schulen das Rauchen für Jüngere wegen der Gefahr von Lungenkrebs verbieten sollen. Summerhill kann sich in diesem Fall nicht außerhalb des englischen Schulsystems stellen. Nun raucht aber ein Teil der unter Sechzehnjährigen, und er raucht ganz offen. Diesen Schülern muß ich sagen: Ihr habt die Wahl, ihr könnt auf der Schule bleiben oder abgehen und rauchen, soviel ihr mögt. Ich muß mich an das Gesetz halten. Ich kann euch nicht dafür bestrafen, daß ihr raucht. Ich kann euch nur vor die Wahl stellen. Wenn ihr wollt, könnt ihr das eine Strafe nennen, aber wir müssen uns um meiner und eurer Sicherheit willen an das Gesetz halten. Glaubt also nicht, ihr könnt daherkommen und tun wozu ihr gerade Lust habt. Das geht nicht.“ (Neill am 5.11.1966 in einer Fragestunde, in Segefjord 1971: 72 f.) Eine eigentlich besser zu Neills Pädagogik passende und offenbar recht erfolgreiche Methode gegen das Rauchen, bei der ein (faktisch auch kaum durchsetzbares) Verbot bewußt sorgfältig vermieden und auf Einsicht gesetzt wurde, beschreibt Shaw (1969: 39–57) aus seiner selbstregierten Red Hill School.
allerdings behandelte Makarenko auch alle Erwachsenen wie Kinder!
Bei aller Kritik an Makarenkos Ansatz muß betont werden, daßer eine Unmenge an wertvol
praktischen und auch theoretischen Hinweisen bietet!
Es gab bei Wills wie auch bei Neill kein festes Verfassungssystem, ganz im Gegensatz zu den unveränderlichen und lediglich ergänzbaren Verfassungen der Junior Republics. Schon Lane hatte alle festen Systeme abgelehnt, auch die Freiheitssysteme, die Freiheit in ein System pressen und schon dadurch massiv einschränken. Für ihn blieb Freiheit stets eine Sache der Kreativität.
Diese Berichte sind — wie sehr vieles in Summerhill — zeitlich nicht einzuordnen.
„A meeting was called in the hall the following evening, and Neill decided that all roles were to be abolished. Everyone went haywire, beds were turned over, things thrown over the bannisters, kids running everywhere, staying up all night. We were all so exhausted by the next evening that we begged Neill to put all the rules back. I guess he knew what he was doing.“ (Rowna Ely, eine der Speisekammer-Räuberinnen, in Croall 1984: 178)
Diese Berichte sind — wie sehr vieles in Summerhill — zeitlich nicht einzuordnen.
„Before long a state of anarchy reigned: no rules were being kept, and the officers were in despair. Neill suddenly announced that as democracy had obviously failed he was pronouncing himself dictator, and we had only ourselves to blame. At first everyone laughed, but when they discovered there were very strict restrictions on mealtimes, how many times you could go to the cinema or down town, within a fortnight there was gloom and despair. Then there was a rebellion — but Neill said it would get worse still. Finally a deputation was send to ask him to consider relaxing all these restrictions, but he said he wouldn’t do that, we were finding what it was like to live under a totalitarian regime. At the right moment he said he would be prepared to have a meeting to listen to what was being said, and he would then outline his conditions for stopping to be dictator. If the conditions were not accepted, then the dictatorship would be stepped up. There was quite an argy-bargy at the meeting, and at one stage Neill said: ,Right, dictatorship it is’ and got up as if to go out. Finally he won the day, and we went back to self-government, having agreed to take responsibility for ourselves. It was brilliant.“ (Roger Anscombe in Croall 1984: 178)
„I remember at one meeting he suddenly said„ It’s getting so boring, it’s nothing but rules.’ They started to run through them all, to see as they could scrap any. But one kid said, ,No, no, we must keep that one.’ And another said, ,No, no, we must keep that one.’ And then Neill said, ,I propose that we scrap the whole lot and start again.’ And very surprisingly this was accepted. But when the meeting was over, they had this great emotional reaction, and went to bed with their private, precious possessions — bicycles and things — because they didn’t feel they could live without rules. And they kept going to Neill and saying, ,This is terrible.’ And he said cheerfully, ,Oh, I think it’s marvellous.’ So finally, at another meeting, they voted to make Neill a dictator. But that didn’t help them, because as a dictator he just didn’t dictate any rules.“ (Lucy Francis, in Croall 1984: 178 f.)
Die Pistole wurde konfisziert, ebenso wie eine andere Pistole desselben aggressiven Jungen im Bericht von Rollin, weil der Junge damit andere belästigte bzw. verletzte. Der Junge kämpfte wortreich um seine Waffe, lieferte sie nach dem Beschluß aber willig und ohne Groll aus.
Diese sprechen tatsächlich von magischen (bzw. beinahe magischen Fähigkeiten, ohne die Einschränkung beinahe zu erklären (vgl. Kapitel 8.7.2.5.).
Von Zauberei und Magie wird dann gesprochen werden, wenn deutlich ist, daß eine Person über Wirkkräfte verfügt, deren Wirkung ein Beobachter zwar deutlich wahrnimmt, aber mit seinen Ursache-Wirkungs-Modellen nicht zu erklären vermag. Er schreibt darum hilfsweise der Person persönliche Fähigkeiten einer ganz besonderen und außergewöhnlichen Art zu. Konzepte wie Genie und Charisma scheint mir nicht allzuweit von einer so verstandenen Magie entfernt zu liegen. Insofern bezeichnen die Konzepte Genie und Magie vor allem das grundlegende Unverständnis der Vorgänge. Sobald eine hinreichende Beschreibung der Ursache-Wirkungs-Beziehung gefunden ist, verschwindet die unerklärliche Magie und wird zu einer prinzipiell lehr- und erlembaren erklärbaren Technik oder Methode.
Sie weist dort ihre zentrale These detailliert und überzeugend nach, „dass die antiautoritäre Erziehung Neills keinesfalls als ein Verzicht auf erzieherische Einflussnahme zu verstehen ist“ (Schmidt-Herrmann 1987: V), sondern daß der zentrale Fehler der Rezeption Neils gerade dieser Irrtum ist. Neills Konzept besteht, im Gegensatz zu landläufigen Behauptungen, keineswegs im Gewährenlassen und in bloßer Untätigkeit. Neill lehnt das Gewährenlassen (laissez faire) ausdrücklich als Zügellosigkeit (license) ab, verurteilt es als kinderverderbend und fordert selbst eine aktive (wenngleich indirekte) Erziehung. Die wenigen erwähnten Tätigkeiten des Erziehers: Verständnis, die Haltung des Vertrauens, therapeutische Arbeit und Erlaß von Sicherheitsregeln scheinen mir zur Beschreibung einer erzieherischen Tätigkeit durchaus unzureichend.
Die Untersuchung der etwaige Behandlung derartiger Probleme in der Fachliteratur hätte den Rahmen dieser Arbeit gesprengt und wurde nicht geprüft
Bott (1973: 12) nennt „Alexander Neill und Siegfried Bernfeld (Gärtnerbeispiele für Pädagogen)“ als Beispiele einer „Pädagogik des bloßen Wachsen-und Reifenlassens”. Theo Dietrich (in Kron 1973: 125–132) unterteilt zwei Stränge der antiautoritären Erziehung, mit fließenden Übergängen, vor allem was Freud betrifft: Zum einen den sozialistischen Strang von den Utopischen Sozialisten und Marx mit Freud zur Kinderladenbewegung, die sich dann aber als revolutionäre Erziehung an die Autorität der politischen Ideologie des Leninismus anlehnt und damit nicht mehr antiautoritär ist. Zum anderen den unpolitischen, rein pädagogischen Strang, der durch negative Erziehung, ,,,Nicht-Tun` (S. Bernfeld)“ und Wachsenlassen charakterisiert wird, mit Rousseau, Key, der Pädagogik-vom-Kinde-aus und Neill, „unter gleichzeitiger Mithilfe eines gütigen, verständnisvollen Erziehers, so u. a. bei A. S. Neill.” (S. 127). Dietrich faßt anti-autoritär faktisch als anti-Autorität und setzt(!) dann, daß Erziehung immer im Voraus festliegende Erziehungsziele und damit Autorität enthalte. Er nimmt vernünftigerweise die Existenz eines angeborenen Aggressionstriebes an, verweist die antiautoritären Grundannahmen ohne weitere Begründung ins Reich der Utopie und folgert daraus, die antiautoritäre Erziehung sei unlogisch und wirklichkeitsfremd (S. 131), um sodann eine eigenes Modell einer repressionsarmen Erziehung zu entwerfen. Prinzipiell ähnlich (unter Berufung auf Dietrich) argumentieren auch Breinbauer (1980) und Claßen (1980). Breinbauer (1980: 304) behauptet, „daß in dem einen Modell durch die Absolutsetzung des Prinzips der Selbstregulierung das Kind der Autorität der eigenen Triebansprüche ausgeliefert wird, in dem anderen Fall, dem Postulat des Klassenkampf folgend, der Autorität der Utopie einer
„Wenn ich jedoch sage: ,Der mittlere Teil des Gartens ist frisch gepflanzt. Niemand darf darüber laufen!’, dann akzeptieren das alle Kinder in der gleichen Weise, wie sie Derricks Kommando hinnehmen: ,Niemand darf mit meinem Ball spielen, wenn er mich nicht vorher gefragt hat!“’ (Neill 1969: 158)„Ich bin für die Kinder keine Obrigkeit, vor der man Angst haben muß. Ich stehe auf gleicher Stufe mit ihnen, und wenn ich wegen meiner Kartoffeln Krach schlage, dann hat das für sie nicht mehr zu bedeuten, als wenn ein Schüler sich über seinen durchgestochenen Fahrradschlauch aufregt. Steht man mit dem Kind auf gleicher Stufe, dann ist gar nichts dabei, mit ihm einen Streit zu haben. Nun wird man vielleicht sagen: ,Das ist ja alles Quatsch, es kann keine Gleichheit geben. Neill hat zu sagen; er ist stärker und klüger.’ Das stimmt allerdings. Ich bin Herr im Haus, und wenn die Schule in Brand geriete, würden die Kinder zu mir gelaufen kommen. Sie wissen, daß ich stärker bin und mehr weiß. Das hat aber nichts zu sagen, wenn ich ihnen auf ihrem Gebiet begegne - auf dem Kartoffelbeet sozusagen.” (Neill 1969: 26) (freie Familie...) ,ich behaupte nicht, in einer solchen Familie könnten die Kinder tun und lassen, was sie wollten. Die Erwachsenen haben ihre Rechte. Der Vater muß energisch sagen, er wünsche nicht, daß sein Wagen beim Spielen als Räuberhöhle benutzt wird. Mutter hat das Recht zu sagen, daß sie nicht wünscht, daß Mary ihre besten Pfannen benutzt, um Sahnebonbons zu machen und sie dann ungespült stehen läßt. Da herrscht faires Geben und Nehmen, und wenn zwischen allen Familienmitgliedern ein liebevolles Verhältnis besteht, hinterlassen solche Unstimmigkeiten weder Hass noch Groll.“ (Neill 1973: 23) „Einem Kind Freiheit zu geben ist nicht einfach. Es bedeutet, daß wir uns weigern, es Religion, Politik oder Klassenbewußtsein zu lehren.” (Neill 1969: 120) Wobei Neill hier unter Lehren wohl nicht die pure Informationsvermittlung, sondern das nachdrückliche Aufdrängen von absoluten Wahrheiten versteht. „Die Öffentlichkeit glaubt von freien Kindern, daß sie den ganzen Tag Fensterscheiben einschlagen. Das hat mit Freiheit nichts zu tun. Freiheit in Summerhill bedeutet, daß man sein Leben lebt ohne andere zu belästigen und daß die anderen einen nicht belästigen. Wenn Kinder erst im Alter von zwölf oder dreizehn zum erstenmal in ihrem Leben Freiheit angeboten bekommen, wissen sie nicht, was das bedeutet; sie brauchen eine ganze Zeit, bis sie entdekken, daß es nicht gleichbedeutend ist damit, daß sie tun und lassen können, wozu sie gerade Lust haben. Darüber kann man sich klar werden, wenn man einen Blick auf das Schwarze Brett wirft, wo einige der gültigen Gesetze angeschlagen sind, und wenn man an der Samstagabend-Versammlung teilnimmt. Wie in jedem anderen System gibt es auch bei uns Übertretungen der Gesetze, aber man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Kinder hier die Gesetze besser einhalten, als die Gesetze von der Gesellschaft eingehalten werden. Das gilt nur für die inneren Verhältnisse, aber es gibt ja auch eine Welt außerhalb von Summerhill. (Neill in Segefjord 1971: 72 f.)
„Es waren so viele Eltern, die Neill mißverstanden haben, daß sein Verleger ihn beschwor, ein Buch zur Erläuterung zu schreiben: ,Sie müssen das tun, denn sehr viele Eltern in Amerika, die Summerhill gelesen haben, empfinden nun ein Schuldgefühl wegen der bisherigen strengen Erziehung ihrer Kinder und erklären ihnen deshalb, man lasse ihnen von nun an ihre Freiheit. Und das Ergebnis ist dann gewöhnlich ein verzogenes Balg, weil die Eltern einfach keine klare Vorstellung davon haben, was mit Freiheit eigentlich gemeint ist.’ (Erich Fromm in: Summerhill Pro und Contra (1971: 213), aus S. 7 der US-Ausgabe von Freedom - not License zitierend). „Diesen Unterschied zwischen Freiheit und Zügellosigkeit können viele Eltern nicht begreifen. In einem Heim, in dem Disziplin herrscht, haben die Kinder keine Rechte. In einem Heim, in dem sie verwöhnt werden, haben sie alle Rechte. In einem guten Heim haben Kinder und Eltern jedoch die gleichen Rechte. Und dasselbe trifft auf die Schule zu.“ (Neill 1969: 116 f.) „Allzu viele neue Lehrer und Hausmütter haben Schwierigkeiten, zwischen Freiheit und Zügellosigkeit zu unterscheiden. Eine Hausmutter ließ es zu, daß ihre Gruppe einen Haufen Möbel zertrümmerte: ,Ich dachte, ich solle nie nein sagen.” (Neill 1982: 188) „Freiheit heißt, tun und lassen zu können, was man mag, solange die Freiheit der anderen nicht beeinträchtigt wird. Das Ergebnis ist Selbstdisziplin.“ (Neill 1969: 123, vgl. 158, 314). „Ein Kind muß ja lernen, daß man nicht die Werkzeuge eines anderen ausleihen und zugrunde richten oder ihm sonst einen Schaden zufügen darf. Wenn man nämlich einem Kind seinen Willen auch auf Kosten eines anderen lässt, dann ist das schlecht für das Kind. Es wird verwöhnt, und ein verwöhntes Kind ist ein schlechter Mitmensch.” (Neill 1969: 168) ,Ich möchte hier deutlich sagen, daß ich mich nicht für Libertinage einsetze. Man muß sich immer die Frage stellen: Fügt, was Herr X tut, irgend jemandem Schaden zu? Kann die Frage verneint werden, dann ist jeder, der sich über Herrn X erregt, lebensfeindlich.“ (Neill 1969: 311)
„Man sollte einem Kind nicht alles geben, was es haben will. Im allgemeinen bekommen Kinder heutzutage viel zuviel, so daß sie es gar nicht mehr zu schätzen wissen, wenn man ihnen etwas schenkt. Eltern, die ihre Kinder mit Geschenken überhäufen, lieben sie häufig gar nicht. Sie möchten ihr Versagen kompensieren, indem sie ihre Elternliebe demonstrativ zur Schau stellen. Sie handeln damit ähnlich wie ein Mann, der seine Frau betrogen hat und ihr nun großzügig einen Pelzmantel schenkt, den er sich eigentlich gar nicht leisten kann.“ (Neill 1969: 280)
Neill befürwortet Gehorsam und Autorität und lehnt zugleich beides ab, und gibt statt einer klaren Regel nur vage Beispiele zur Unterscheidung an. Er fordert / behauptet hintereinanderweg, Erwachsene und Kinder sollten einander gegenseitig gehorchen (das ist nicht das, was man üblicherweise Gehorsam nennt!), in Summerhill gäbe es fast keinen Gehorsam und fast keine Autorität, doch Gehorsam sei manchmal doch wichtig und in der Praxis gebe es in Summerhill natürlich doch Autorität. „Denn Gehorsam sollte eine Frage von Geben und Nehmen sein. Gelegentlich kommt es vor, daß ein von der Schulversammlung erlassenes Gesetz nicht beachtet wird. Dann können die Kinder selbst etwas dagegen unternehmen. Im großen und ganzen existiert Summerhill jedoch ohne jede Autorität und ohne Gehorsam. Jedes Individuum hat die Freiheit, das zu tun, was es will, solange es die Freiheit der anderen nicht beeinträchtigt. Und das ist ein Ziel, das in jeder Gemeinschaft verwirklicht werden kann. Bei dem Prinzip der Selbstbestimmung gibt es keine Autorität in der Familie. Das heißt, es gibt keine laute Stimme, die ruft: ,Ich sage das, und damit basta! In der Praxis gibt es natürlich Autorität. Diese Art von Autorität kann man vielleicht Schutz, Fürsorge, Verantwortung der Erwachsenen nennen. Eine solche Autorität verlangt manchmal Gehorsam, doch bei anderen Gelegenheiten gehorcht sie auch. So kann ich zu meiner Tochter sagen: ,Du kannst diesen Schmutz und das Wasser da nicht mit ins Wohnzimmer bringen! Das ist nicht mehr, als wenn sie zu mir sagt: ,Geh hinaus, Papi. Ich mag nicht, dass du jetzt in meinem Zimmer bist!, ein Wunsch, dem ich natürlich ohne Widerrede Folge leiste.“ (Neill 1969: 158) Hier ist neben der Übersetzung allerdings zu berücksichtigen, daß das Zitat aus Theorie und Praxis der antiautoritären Erziehung stammt, einem Buch, das z. T. Satz für Satz aus anderen Büchern kombiniert wurde. Möglicherweise sind die hier zitierten Sätze aus mehreren Büchern unterschiedlicher Entstehungszeit zusammengefügt und nicht als fortlaufender Text geschrieben worden. Ohne eine historisch-kritische Ausgabe von Theorie und Praxis (um von einer Neill-Gesamtausgabe ganz zu schweigen), die zumindest die Herkunft des jeweiligen Satzes angibt, können solche Passagen schwerlich gewertet werden.
Man könnte erwägen, ob für diese andere Art der Einwirkung, für dieses funktionale Äquivalent zur traditionellen Erziehung das Wort Erziehung verwendet oder ob ein anderes Wort dafür gefunden werden sollte. Hier liegen Vorschläge vor wie Antipädagogik oder Unterstützung.
Es wird beschrieben, daß Neill sich gelegentlich und wohlüberlegt selbst gegen mehrstündige heftige und schmerzhafte körperliche Angriffe eines gestörten Kindes nicht wehrte, in anderen ebenfalls wohlüberlegten Fällen (Neill 1969: 168) aber konsequent zurückschlug (vgl. Croall 1984: 143).
Vgl. zur natürlichen Tendenz des Kindes zu Einordnung auch Schmidt-Herrmann (1987: 20, 83, 101, 104, 111, 194). Diese Tendenz wird auch von Wills stark betont.
Erziehung arbeitet mit bedingter Bedürfnisbefriedigung, ist hier also gerade nicht gemeint. Allerdings könnten einzelne (mißverständliche) Äußerungen Neills auch im Sinne purer Anlagenreifung gelesen werden. Gern zitiert (z. B. Breiteneicher u. a. 1971: 45; Krieger 1970: 15;) wird Neills (1969: 22 f.) naive Behauptung, ein unbeeinflußt sich selbst überlassenes Kind entwickle sich gemäß seinen angeborenen Fähigkeiten. Diese tatsächlich als eine Pädagogik des bloßen Wachsen-und Reifenlassens auffassbare Äußerung machte Neill übrigens im Zusammenhang mit Schullernen, dem einzigen Bereich, in dem er die Kinder tatsächlich sich selbst überließ (wofür er von den meisten Freunden kritisiert wurde, vgl. Kapitel 18.2.2. u. 18.4.1.). Insgesamt gesehen geht Neills Konzept aber eindeutig von der Vorstellung des selbständig aktiv lernenden Menschen aus und nicht von einer pflanzenhaften bloßen inneren Reifung von bereits fest vorgegebenen Anlagen. „Nach meiner Ansicht ist das Kind von Natur aus verständig und realistisch. Sich selbst überlassen und unbeeinflußt von Erwachsenen, entwickelt es sich entsprechend seinen Möglichkeiten. Logischerweise ist Summerhill eine Schule, in der Kinder mit der angeborenen Fähigkeit und dem Wunsch, Gelehrte zu werden, Gelehrte werden, während jene, die nur zum Straßenkehren geeignet sind, Straßenkehrer werden. Bisher ist jedoch aus unserer Schule noch kein Straßenkehrer hervorgegangen. Ich sage das ohne Snobismus, denn ich sehe eine Schule lieber einen glücklichen Straßenfeger hervorbringen als einen neurotischen Gelehrten.“ (Neill 1969: 22 f.)
Infolge der Gleichberechtigung von Erwachsenen und Kindern kann Verhalten hier viel unmittelbarer abgeschaut werden als in Verhältnissen, in denen Erwachsenen-und Kinderrollen nicht gleich, sondern komplementär sind. Hinzu kommt Erziehung mit Hilfe von Übertragungsbeziehungen.
Erziehung zu etwas setzt immer voraus, daß der Erziehende objektiv weiß, was für den Erzogenen gut und richtig ist und dem Erzogenen darum vorschreiben kann, wie er künftig zu leben hat. Neill bestreitet prinzipiell, daß irgendjemand einem Anderen autoritativ vorschreiben darf, wie er richtig zu leben hat, was für den Anderen gutes leben heißt. Eine solche objektive Wertentscheidung ist tatsächlich schwerlich begründbar.
Hiermit sind vor allem die grundlegende Sicherheit und Unversehrtheit der Kinder, allgemeine Gleichheit und Toleranz gemeint. Daraus ergibt sich fast naturwüchsig eine Art Demokratie.
Nicht alle Kinderrepubliken haben ein Verbot von Schlägen beschlossen (obwohl mir keine bekannt ist, die Schläge erlaubt hätte). Bei einigen wurden Schläge auch ohne formellen Beschluß als verboten betrachtet, in anderen gingen die Kinder (realistischerweise!) davon aus, daß ihnen die Einhaltung eines strikten Gebotes nicht gelingen würde, und beschränkten sich darauf, Schläge grundsätzlich zu mißbilligen. Diese Mißbilligung hatte beträchtliche Wirkungen: Dora Russell berichtete, daß es bei den (kleinen) Kindern in ihrer selbstregierten Beacon Hill School häufig vorkam, daß sie zu Schlägereien hinzuliefen und lauthals zitierten: , dieser Rat mißbilligt...`.
Neill (1923a: 133) betonte, idealerweise müßte eine Schule Lehrer aller Überzeugungen (bis auf die allzu lebensgefährlichen) haben.
Die Anarchie-und Diktaturperioden dienen dem Beweis, daß Demokratie notwendig ist, und sind deshalb kein Gegenargument.
„Während der Versammlung wachte Neill aufmerksam über alles und gab sein Mißfallen deutlich zu erkennen, wenn einer der Kleinen störte. Es fiel mir aber auf, daß er nicht böse wurde. Es sah beinahe so aus, als ob es ihm zuviel Mühe gemacht hätte. Faulheit auf diesem Gebiet ist etwas sehr Wesentliches; viele Menschen täten gut daran, sich etwas davon zuzulegen.“ (Segefjord 1971: 21)
ill hatte manchmal sein Vergnügen daran, den Ton einer Versammlung zu setzen: Er konnte absichtlich Unfug treiben und herumtoben, um vom Vorsitzenden bestraft zu werden, und sein Vorschlag, sämtliche Speisesaal-Helferdienste abzuschaffen, brachte mehrfach wieder Leben in schläfrige Versammlungen. Seine — sehr ernsten oder auch weniger ernsten oder bewußt unsinnigen — Vorschläge wurden oft abgelehnt, keineswegs leichten Herzens (vgl. Croall 1984: 179–182).
Segefjord (1971: 46) beschrieb, daeine von ihm besuchte Schulversammlung bei einem komplizierteren Problem offenbar auf eine Äußerung Neills wartete, die dann auch erfolgte und (neben anderen) zur Abstimmung gestellt wurde. Die Kleinen wurden von den Großen manchmal gezielt beeinflusst, etwa um bestimmte Kinder freizusprechen. Dies Stimmverhalten der Kleinen war häufiger Anlaß für den (stets erfolglosen) Versuch, den unter 11 Jahre alten Kindern das Stimmrecht zu entziehen. Doch manchmal hatten auch sehr kleine Kinder die Selbstregierung durchaus verstanden, etwa ein Vierjähriger, der, als die völlig entnervte Hausmutter mit dem Fuß aufstampfte, weil alles zu langsam ging, sagte: ,wenn Du noch einmal mir gegenüber aufstampfst, bringe ich das vor die Samstagabend-Versammlung’ (vgl. Croall 1984: 180 f.). 128 Ein Problemkind hatte in den 30er Jahren so viel Schaden angerichtet, daß Neill den Schaden nicht allein den Eltern abfordern konnte, sondern auch in der Schule einsparen wollte. Trotzdem stimmte er als Finziger (I) gegen den Verzicht auf die nachmittägliche Teemahlzeit, weil er seinen Tee so liebte. „I remember a brick coming through the staffroom window when I was having Tea. She broke so many windows it was brought up at the general meeting. Neill said he couldn’t put the money on the parents bill because they wouldn’t have enough to pay. It was suggested that the school should go without tea for a time, to cover the cast. I think the idea was carried; Neill voted against it, because he liked his cup of tea.“ (Ruth Allen, Hausmutter in den 30er Jahren, in Croall 1984: 179)
Viele Besucher und Freunde der George Junior Republic waren überzeugt, daß die Erfolge der Republik einzig Georges charismatischer Persönlichkeit zuzuschreiben waren und nicht seinen Methoden: daß die Republik also letztlich eine one man affair sei. George, Osborne und die übrigen Mitarbeiter protestierten heftig dagegen (Ho11 1971: 256 f., 281), sie sahen die Erfolgsursache in der (richtig erkannten) Natur (=Instinkte) der (=aller) Jugendlichen selbst, sowie in der darauf aufbauenden Methode, Jugendliche die (üblen / guten) Folgen ihres (üblen / guten) Handelns spüren zu lassen, woraufhin die Jugendlichen das (erlernte) schlechte Verhalten als erfolglos ablegen und das erfolgreiche gute beibehalten würden. Eigentlich war ihrer Meinung nach die Aufgabe rein negativ, es ginge gar nicht um aktive Erziehung, sondern darum, die unsinnige Einmischung Erwachsener (Eltern, Pädagogen etc.) in diesen quasi natürlichen Lem-Prozeß zu verhindern. Auch Blumenthal (1909: 77) setzt bei der Kurzbeschreibung der George Junior Republic auf die Persönlichkeit: „Die Jugendrepublik hat unleugbare Erfolge gehabt, die ihr Begründer lediglich dem von ihm gewählten System zuschreibt, die jedoch wohl nur zum Teil hierauf, im übrigen jedoch auf die herzgewinnende Persönlichkeit des Leiters, der wirklich jedem seiner Zöglinge ein Vater im besten Sinne des Wortes ist“... (zwei Seiten weiter schreibt er auch den Erfolg des teilweise selbstverwalteten House of Refuge in Philadelphia der Persönlichkeit der Leiterin zu und fährt fort: „Überhaupt habe ich den Eindruck gewonnen, daß der Erfolg einer Anstaltserziehung nicht nur von dem Bauplan und der Zweckmäßigkeit in Einrichtung, Erziehung und Unterricht, sondern vor allem von der Persönlichkeit abhängt, die an der Spitze steht.” Auch Lane wehrte sich entschieden und erbittert gegen die Anschuldigung, eine große Persönlichkeit und ein Genie zu sein, und beharrte darauf, lediglich eine (neue) wissenschaftliche Methode anzuwenden. Mit der Persönlichkeit war die Vorstellung eines auf die Jugendlichen ausgeübten hypnoseähnlichen Einflusses verbunden, mit dem man seinen Willen aufdrängt. Solchen Einfluß sah Lane als äußerst demoralisierend an, als Ursache aller Probleme, nicht als ihre Heilung. Doch sahen nicht nur die Besucher Lanes Persönlichkeit als den wesentlichen Wirkfaktor an, sondern auch die Jugendlichen und die Haupt-Mitarbeiterin selbst (Lytton, Vorwort zu Bazeley 1948: 10 f.). „I related this incident to a friend some times later, and he spoke about the great power of ‚personality‘ as an influence on children’s conduct, so I suspected that he had not seen the point of the story. ,Not everyone is able to exert such an influence upon boys’ said he, intending his remark to be a compliment. I knew then that he had not been a close observer to children. He was a schoolmaster. He used the word ,personality` loosely in the sense of some sort of hypnotic power over the will of another; such a power was, in his opinion, a very desirable quality in the teacher, and saved much trouble. I tried to enlighten him. ‚Any degree of hypnotism — the subjection of one will to another — is utterly demoralizing to any person except a lunatic, who is already demoralized,‘ I said dogmatically. ,The delinquent boy is not a demoralized boy, nor is he any child who is sane enough to attend a school. Their behaviour may be bad, but that is a sign that someone has been using ‚personality‘ on them — trying, that is, to subject their will to an authority outside their own minds.“ (Lane 1969: 173) „I have been accused by my friends of ,genius’ for dealing with children. It may now be seen, in the light of the psychological principles I have so imperfectly explained to you, that my relationship with my charges is logical, reasonable and scientific.” (Lane 1964: 266 f.) Little Commonwealth... „It failed only in establishing the general applicability of the principles on which it was conducted. It was, throughout its existence, and it still remains in the minds of many who knew of it, a freak institution associated with the influence of a unique personality. If one were to ask any of the children who passed through the Little Commonwealth and who are to-day upright and law-abiding citizens to what they attribute the change in their attitude towards society, I believe that most of them would reply: ,It was Daddy that made me see things differently.’ If one had asked the teachers or reformatory superintendents who visited the Little Commonwealth whether they left it with a certainty that their own methods were wrong and that those of the Little Commonwealth were right, wether, in fact, their first act on returning to their own institutions had been to substitute the Commonwealth methods for their own, they would have replied, perhaps a little sadly: ,No, we have seen a most wonderful and inspiring place, we are filled with admiration for the work of a most wonderful man, but we could not ourself do what he is doing.’ Even Miss Bazeley, a member of the staff and a resident citizen of the Commonwealth, has given as the reason why visitors left with dancing hearts that they had discovered ,a man’ — more inspired and more sincere than any other man they had ever known. Here is the explanation of the failure. If the known success of the Little Commonwealth was due, as so many believed, to the personality of Homer Lane, then obviously it could not serve as a model reformatory, it was not worth keeping alive. If anything could make Mr. Lane angry, it was the assertion that he was ‚a wonderful man‘ or that the success of the Little Commonwealth was due to his personality. He felt such a statement to be the condemnation of the principles in which he believed, the stamp of failure on the work of his life, and it was his hard fate to hear such condemnation almost daily upon the lips of those who were his greatest admirers and the most enthusiastic upholders of his principles. It was because the members of the Managing Committee could not think of carrying on the Commonwealth without him“ ... (Lytton, Vorwort zu Bazeley 1948: 10 f.) Auch Burn (1956: 58) betont ausdrücklich, daß es sich bei Lywards Arbeit in Finchden Manor um lernbare Methode und keineswegs um irgendeine besondere Begabung Lywards handelt.
Dahinter steht vermutlich mehr als Ideologie oder Unfug. Es ist in der Geschichte der Pädagogik eine durchaus häufige Erfahrung, daß Nachfolger weniger pädagogisch befähigt waren als die Begründer eines pädagogischen Systems. Solche Nachfolgeprobleme gab es z. B. bei Trotzendorf, Planta und Arnold (vgl. Kapitel 9). Ich könnte mir vorstellen, daß dies an einer (mangels pädagogischer / psychologischer Theoriebildung) unzureichenden theoretischen und methodischen Beschreibung und Begründung des jeweiligen Systems gelegen haben könnte. Daran, daß das System der Persönlichkeit seines Gründers so sehr auf den Leib zugeschnitten war, daß er die Funktionsweise des Systems nicht hinreichend klärte und die Handhabung deshalb nur schwer lehr- und lernbar war. Die Nachfolger (mit anderer, möglicherweise für dieses System durchaus ungeeigneter Persönlichkeit) wären dann auf recht vage persönliche Fähigkeiten wie Gespür, Einfühlung, Eingebung und Intuition verwiesen und müßten fast zwangsläufig damit scheitern.
„Ohne Neill kein Summerhill. Und nach Neill kein Summerhill mehr.“ Summerhill Pro und Contra (1971: 8) „Noch mehr zu bezweifeln — nein, unvorstellbar ist es, daß es ein Summerhill ohne Neill geben könnte.” (Hechinger in Summerhill Pro und Contra. 1971: 34) ... „Der Haken bei der Sache ist, daß Summerhill — wie sehr einige seiner Anhänger dies auch bestreiten mögen — unwiederholbar ist. Es ist sogar zweifelhaft, ob Summerhill selbst seinen Gründer lange überleben wird.“ (ebd. 35). „wenn es keinen sicheren Weg gibt, seine Methoden zu praktizieren, dann spricht ihnen dies das Urteil. Es gibt eben nur ganz wenige Neills.” (Summerhill Pro und Contra, 1971: 133) Leonhardt (1975) kommt in einem seltsamen Artikel, der sich überwiegend mit der mangelhaften Begrüßung in Summerhill befasst, im letzten Viertel mit folgender Passage (ohne weitere Erläuterung!) auf die Schule selbst zu sprechen: „Denn das Ergebnis der Gespräche ist nicht heiter. Der in aller Welt mit Sehnsucht verfolgte Versuch A. S. Neills, wirklich freie, nicht an Autorität gebundene Erziehung am lebenden Beispiel als möglich zu demonstrieren, ist gescheitert. Er funktionierte nur, solange es diesen einmaligen, diesen höchst ungewöhnlichen Menschen gab. Seine Nachfolger haben ein Dreier-Direktorium gegründet und wollen alles womöglich noch viel ‚demokratischer‘ machen. ‚Seit Neill tot ist‘, sagt mir einer der wenigen alten Schüler, ,wird hier auf einmal wieder geschlagen.’ Kinder fühlen sich in Summerhill immer noch wohl. Auf die Frage ‚Habt Ihr Heimweh?‘ sagen alle kleinen Deutschen ‚nein‘ ... „Resümee: Eine große pädagogische Idee konnte den einen, der alles daransetzte, sie Wirklichkeit werden zu lassen, nicht überleben. Summerhill ist auch weiterhin ein Ort, wo Kinder der verschiedensten Nationalitäten (es gibt so gut wie keine, die es dort nicht gibt) zueinander finden und miteinander ihre Aggressionen abbauen können. Ein internationales ‚Jugendlandheim‘ der allerbesten Art also ist Summerhill noch immer, und alle Kinder, die dort leben und lernen dürfen, sind zu beneiden. Aber für die Theorie der Pädagogik ist Summerhill mit Neill gestorben.” Selbst im Vorwort zu Neills ,Theorie und Praxis...’ wird behauptet, daß Summerhill nicht leicht wiederholbar ist, „weil es von einer außerordentlichen Persönlichkeit wie Neill unternommen werden muß“ (Erich Fromm, Vorwort zu Neill 1989: 17).
Wo angeborenes Genie oder unbekannte Zauberkraft wirken, kann man beruhigt die Hände in den Schoß legen und braucht sich über Erklärungen nicht den Kopf zu zerbrechen. Die Aufrechterhaltung des Nicht-Verstehens sichert auch die Möglichkeit der weiteren Untätigkeit ab und schützt vor der Notwendigkeit, umlernen und die Verhältnisse ändern zu müssen, sichert so den bestehenden Zustand, während neue Erkenntnisse möglicherweise zur Herstellung neuer Verhältnisse führen könnten. Der Unterschied ist ein grundsätzlicher. Wenn individuelles unnachahmliches „Genie“ und „geniale Erzieherpersönlichkeit“ die wesentliche Erfolgsursache ist, kann man nichts tun als hoffen und warten, daß weitere Genies auftauchen oder geboren werden. Waren dagegen die Methoden wirksam, dann wären sie eine herausfordernde Alternative, dann kann und muß man sie übernehmen, muß fundamental umlernen, aktiv werden und die pädagogischen Institutionen auf eine ganz neue Basis stellen. Wenn nur angeboren geniale Persönlichkeiten zur Leitung von Kinderrepubliken befähigt wären, dann wäre die Beschäftigung und Beschreibung eine vielleicht schöne, aber nutzlose Kunst. Die hier unternommene Herausarbeitung von Elementen eines gemeinsamen Systems setzt bereits voraus, daß es eine solche beschreibbare und erlernbare Methode geben kann. Lane, George, Osborne u. a. weisen keineswegs aus persönlicher Bescheidenheit jedes Lob ihres einzigartigen pädagogischen Genies empört und beleidigt zurück, sondern weil die Behauptung genialer persönlicher Fähigkeiten gerade ihre eigentliche Leistung negiert: die Entdeckung und Entwicklung einer (genialen) Methode. Doch das Publikum weigerte sich, diese Grundsätze zu übernehmen und rühmt die Pädagogen stattdessen — bequem und folgenlos — lediglich als unnachahmlich geniale Individuen.
Drei Beispiele sollen dies erläutern: Ein Drillfeldwebel einer traditionellen Armee mußte eine bestimmte dafür geeignete Persönlichkeit besitzen, mußte bereit und fähig sein, unbedingt zu befehlen, zu kontrollieren, jegliche Widersetzlichkeit oder nicht befohlene persönliche Eigenheit zu unterdrücken, das vom Machthaber gewillkürte Reglement mit purer Gewalt zu erzwingen, hart zu strafen, kurz: mußte autoritär sein und primär Angst als Mittel einsetzen. Foersters Persönlichkeitserzieher mußte unbezweifelbare ewige (nicht gewillkürte!) Moralnormen besitzen und sie — langsam zunehmend — den Kindern abfordern. Moralisieren und das Einpflanzen absoluter unbezweifelbarer Werte (Gewissen!) sind seine Mittel, aus denen sich dann — einigermaßen flexible — Handlungsmaximen gewinnen lassen. Ein Erzieher wie Neill benötigt dagegen wieder andere Fähigkeiten, Haltungen und Verhaltensweisen, die seine Persönlichkeit ausmachen: etwa Verständnis, Sensibilität und psychologische Einfühlung in unbewußte Motive. Jede dieser drei Personen wäre wohl unfähig, in einem der beiden anderen Systeme erfolgreich zu arbeiten.
Eine Erziehung zu soldatisch-kämpferischer Persönlichkeit (z. B. Kriegeradel) beinhaltet notwendig die Unterdrückung von Furcht-der natürlichen Warnreaktion vor Lebens-oder Verletzungsgefahr — (Mut, Tapferkeit), Erlernen von Erbarmungslosigkeit (Unterdrückung von Mitleids-und Hilfsreaktionen), das gezielte Erlernen des Nichtwahrnehmen(können)s (zumindest bestimmter) innerer Signale, den Erwerb von Hurte (auch des Muskel-und Charakterpanzers); und tendenziell das Verlernen eines differenzierten Fühlens. Eine Durchbrechung dieser mühsam erworbenen Gefühlshemmungen ist dann nur mit technischen HilfsMitteln (Alkohol / Drogen) möglich, mit dann manchmal gewaltigen Gefühls-Durchbrüchen.
Sie sind zumindest durch bestimmte Lebens-, Denk- und Ausbildungs- Formen förderbar und behinderbar. Vielleicht spricht man besser von sozialisierbar statt erlernbar. Allerdings kann dies (Um-) Lernen wohl nicht häufig und nicht unter beliebigen Umständen und auch nicht unbedingt leicht geschehen, da dadurch die gesamte Persönlichkeit eines Menschen (um-) strukturiert wird. Dieses Lernen / Verlernen dürfte sich vor allem in der Kindheits- und Jugendphase (Erziehung / Sozialisation) und bei seltenen Bekehmngs-Erlebnissen abspielen.
Erziehung im engeren Sinne, Erziehung der Persönlichkeit, ist mehr als bloße Konditionierung und beruht wesentlich auf einer Art von Liebesbeziehungen. Das gilt nicht nur für psychoanalytische Erzieher wie Lane, Wills, Neill, Aichhorn, Bernfeld etc., sondern für die Psychoanalyse generell. Doch gilt dies ebenso auch bei keineswegs psychoanalytischen Erzie-hem wie Lindsey, beim Foersterschen Konzept der Persönlichkeitserziehung und faktisch sogar bei Erziehern, die dies theoretisch leugneten, wie George und Osborne.
Wirkliche Liebespartner sind nicht ohne weiteres austauschbar. Wechsel sind zwar prinzipiell möglich und können gelingen, sind aber in der Regel einschneidend und häufig dramatisch, etwa Trennung, Scheidung, Verwitwung, Eltemverlust und Ersatzeltern (Adoption, Heimerzieher, Stiefeltern) sowie die therapeutische tibertragung.
Die Entdeckung, Beschreibung und Anwendung einer Methode muß ungewöhnliche und überdurchschnittlich befähigte (geniale) Personen gar nicht ausschließen. Gerade die selbständige Entwicklung, konsequente Praktizierung und die überzeugende gute und konsequente persönliche Verkörperung (Übereinstimmung von Einstellung, Denken, Fühlen, Reden, Handeln) einer eigenen neuen erfolgreichen Methode kann genial sein.
Vgl. die Fußnote 129 (Seite 169).
Die George Junior Republic kann hier nicht als Beispiel dienen. Zwar hat sie in den rund 100 Jahren ihres Bestehens ihren Gründer George bereits um viele Jahrzehnte überlebt (inzwischen unter ihrem fünften Leiter), hat aber infolge des schon zu Lebzeiten unzureichenden, widersprüchlichen und darum unausführbaren und unpraktikablen theoretischen Konzeptes die Selbstregierung entweder (2 Republiken) aufgegeben oder praktiziert sie in deutlich unfreier Weise (vgl. Kapitel 10.10.).
In der Geschichte wird den Gründern von überdauernden Reichen oder Staaten der Beinamen der Große gegeben, Größe als große langandauernde Wirkung gefasst. Ähnliches gilt für große Forscher. Analog könnte erzieherische Größe mit aufgrund persönlicher Fähigkeiten pädagogisch besonders wirkungskräftig umschrieben werden, oder als Fähigkeit, besonders stark und langandauernd zu beeinflussen und zu formen. Nicht bei allen läßt sich aus der Literatur diese besonders faszinierende Persönlichkeit nachweisen (was sicher auch an unzureichender Literatur liegt), andererseits ist solche persönliche Faszination nicht nur bei den mit förmlicher Selbstregierung arbeitenden Erziehern, sondern auch bei anderen auf Selbstbestimmung setzenden Erziehern zu finden. Als besonders faszinierende Personen werden vor allem Lane und Neill beschrieben. Lane wurde von seinen Freunden und Anhängern vielfach als ein „zweiter Jesus“ betrachtet. Er faszinierte fast jeden unvergesslich, der ihn auch nur kurz traf. Wer Summerhill besuchte, war nachher nicht unbedingt von der Schule und Neills Erziehungsvorstellungen überzeugt, im allgemeinen aber mochte er hinterher Neill als Person und war von ihm beeindruckt. Vgl. auch die Beschreibungen Ernst Papaneks (in Papanek 1983 und bei Brown 1965) sowie Burns (1956) Beschreibung von George Lyward. Ebenso sind hier auch Janusz Korczak und W. R. George zu nennen.
Mit eine Vielzahl von Skandalen ist immer wieder versucht worden, Kinderrepubliken und ihre Erzieher zu ruinieren, oft mit Erfolg (Siehe Kapitel 4.6.2.).
Oft waren sie parallel auf mehreren Feldern (Pädagogik, Politik...) zugleich und gleichsinnig tätig.
Ebenso zu nennen wären Foerster, Makarenko und (mit Abstrichen) vielleicht auch Silva.
Beachtlich ist hier auch, daß die von katholischen Priestern Flanagan und Carroll-Abbing gegründeten Kinderrepubliken betont (und ohne Bekehrungsabsichten) für Kinder aller Religionen offen waren, was recht ungewöhnlich ist und noch mehr zur Gründungszeit wart
Kurt Löwenstein organisierte internationale Kinderrepubliken, Elisabeth Rotten internationale Kinderdörfer. Rotten war Mitgründerin und Direktorin des Weltbund für Erneuerung der Erziehung (New Education Fellowship), dessen Zeitschrift sie auch herausbrachte, ebenso wie Karl Wilker, A. S. Neill und Adolphe Ferrière. Neills Internationale Schule und Summerhill waren betont international, ebenso Lanes Ford-Republic (USA-Einwanderer) und wohl auch die frühe George Junior Republic (Einwanderer). Flanagan und George betonen — bei allem Nationalstolz — sehr deutlich die Offenheit für alle Rassen, Klassen und Religionen.
Weltanschaulich, politisch und ethisch durchaus ähnliche — wenn auch nicht unbedingt identische — sozialistische Orientierungen findet man bei außerordentlich vielen Erziehern, die sich mit Selbstregierung befassen. Sie mögen Sozialdemokraten / Sozialisten (Löwenstein, Kanitz, Papanek, Neill, Russell) sein oder zu den Rätekommunisten (Ruble) übergeschwenkt sein, oder sich primär christlich verstehen (Lane, Wills). Mehr oder weniger sozialistische Vorstellungen kann man für Lane (ultraradikal), Makarenko und (mit Abstrichen) wohl auch bei Silva, nicht aber bei George, Osborne und Flanagan finden.
Neill, Weaver und Wills schrieben Artikel für das Anarchy Magazin, unter anderem auch über Lane. Neill befasste sich mehrfach mit der Frage, ob er Anarchist sei (Neill 1982: 256 f.; auch Stephens 1988: 34), und das Magazin damit, wieweit Bertrand Russell (Grander der selbstregierten Beacon Hill School) Anarchist sei (Crump 1964; Harper 1970). Daß Neill einen Briefwechsel mit dem Anarchy-Herausgeber Colin Ward (Croall 1984: 370) führte und sich positiv auf William Godwin (der als erster Anarchist überhaupt gilt) bezieht (Neill 1982: 327), spricht ebenfalls für anarchistische Interessen.
Politischer Pazifismus und gewaltfreie Erziehung entsprechen einander. Bertrand und Dora Russell, Anthony Weaver und Neill waren Mitglieder im Committee of 100, dem anarchistisch beeinflussten Leitungsgremium der britischen Friedensbewegung Campaign for Nuclear Disarmarment (CND), das seit Anfang der sechziger Jahre die Ostermärsche initiierte und zu zivilem Ungehorsam aufrief. Bertrand Russell gründete die Bertrand Russell Peace Foundation, die die Russell-Tribunale veranstaltete, Elisabeth Rotten war eine bekannte Friedenspädagogin (wie übrigens auch Friedrich Wilhelm Foerster!), Otto Rühle stimmte als einziger Reichstagsabgeordneter mit Liebknecht gegen die Kriegskredite, die (ohnehin pazifistischen Quäker) William David Wills und Ben Stoddart (Lehrer in Barns) gehörten zu den wenigen Kriegsdienstverweigerern im 2. Weltkrieg. Neill stöhnte im 2. Weltkrieg geradezu unter der Masse der pazifistischen Lehrer dort. Der langjährige Summerhill-Lehrer George Corkhill verweigerte ebenfalls den Kriegsdienst. Auch Karl Wilker, Ernst Papanek und Kurt Löwenstein wären hier zu nennen. Dieser Pazifismus richtete sich durchaus nicht gegen die legitime Selbstverteidigung (Notwehr) des Angegriffenen (wie er heute oft aufgefasst wird), sondern gegen die imperialen Kolonial-und Eroberungskriege zur Ausweitung der Macht und Besitztümer der jeweiligen Vaterländer auf Kosten der Macht und Freiheit anderer. Ziel war nicht die Wehrlosigkeit, sondern Entkolonialisierung und demokratische Selbstbestimmung der Völker. Nicht alle waren Pazifisten: Flanagan, George und Makarenko waren durchaus militärbegeistert — und sind interessanterweise genau diejenigen, denen es nicht so sehr um den freien
Ausdruck des Kindeswillens geht Dora Russell war zeitlebens aktive Feministin. Auch ihr Ehemann Bertrand Russell, der sich wie sie für Gleichberechtigung und freie Liebe einsetzte und 1907 bei den Unterhauswahlen für die Nationale Union der Frauenrechts-Gesellschaften kandidierte, ganz ähnlich wie Neill, der beim Frauenkongress 1921 in Salzburg sprach, und seine erste Ehefrau, die als militante Suffragette ins Gefängnis geworfen wurde. Auch Alice Gerstel-Rühle kämpfte publizistisch für Frauenemanzipation (gemeinsam mit ihrem Ehemann Otto Rithle).
Ein starkes politisches Engagement darf man auch schon bei den frühneuzeitlichen Republiken annehmen, die häufig von aktiven und führenden Reformatoren begründet wurden. Léonard Bourdon (vgl. Kapitel 9.2.1.) war in der Französischen Revolution ein bedeutender Jakobiner, er leitete später die Verhaftung Robespierres. Die Reaktionsregierung schloß sein Heim.
Im weiteren Sinne, wenn man neben Siegfried Bernfeld und Erich Fromm auch Wilhelm Reich und die Adler-Marxisten Otto u. Alice Rühle, Otto Felix Kanitz und Kurt Löwenstein mitrechnet.
Im tagtäglichen ständigen Zusammenleben im Alltag statt in abgesonderten Therapiestunden, in freundschaftlich oder familiär geprägten engen persönlichen Beziehungen statt in (bewußt distanzierten) Therapeut-Klienten-Beziehungen, was bei Lane und Neill fast bis zur Aufhebung der Trennung von Beruf und Privatleben, Heim und Familie geht (auch zur gelegentlichen unbezahlten Behandlung). Lane und Neill (aber auch George) waren vielleicht
auch deshalb schlechte Administratoren. Neill war zwar zweifellos psychologisch sehr belesen, seine eigenen Äußerungen waren aber alles andere als argumentativ, wissenschaftlich oder theoriegeleitet. Bei einigen psychologischen Äußerungen in A Dominie Abroad (Neill 1923a) ist mir unklar geblieben, ob sie humoristisch oder ernst gemeint waren. Neill äußerte auch selbst, daß er stark intuitiv vorging. Nach Ausführungen, daß Vorurteile nicht auf Fakten, sondern Gefühlsurteilen beruhen, fährt Neill fort: „Nein, es geht nicht allein darum, zu wissen; es geht datum, zu fühlen, und alle akademischen Titel der Welt können einem nicht helfen, etwas zu fühlen. Ideal wäre es, gleichzeitig zu wissen und zu fühlen. In meinem Fall sind es nicht meine psychologischen Kenntnisse, was mir erlaubt, einem Kind zu helfen; es ist meine Fähigkeit, selbst wieder Kind zu sein und seinen Standpunkt zu sehen. ,Genie-das ist die Gabe, wieder ein Junge zu sein, wenn man will’, sagte Barrie. Nicht Genie — das kann alles bedeuten -, sondern einfach Fähigkeit, Talent, wenn man so will. So kommt es, daß ich meine Fülle an Unwissenheit nicht bedaure. Ich weiß genug, um meinen Beruf ausüben zu können.“ (Neill 1982: 244) Die in der Schule gelehrten Dinge seien dagegen meist solche, die im Leben nicht so wichtig sind. Claßen (1978: 667) mißversteht Neills (1969: 307) Ausdruck, der Erwachsene müsse beim Spiel mit Kindern selbst ein Kind werden, nimmt die Bezeichnung allzu wörtlich und sieht dann darin die völlige Selbstaufgabe des Erziehers. „Ich glaube, ich hatte mehr Erfolg mit einer Psychologie, wie sie nicht in Lehrbüchern steht. Als ich einen stehlenden Schaler belohnte, indem ich ihm für jeden Diebstahl einen Shilling gab, handelte ich nicht nach irgendeiner Theorie - die Theorie kam später und mag, wenn nicht falsch, so doch unzulänglich gewesen sein. Dem Dieb fehlte es an Liebe, und so stahl er sich symbolisch Liebe. Ich gab ihm ein Stück Liebe in Gestalt einer Münz?. Entscheidend ist, daß die Methode immer wieder funktionierte, aber ich weiß, die Situation ist kompliziert.” (Neill 1982: 264 f.) „Als ein neuer Schüler Fensterscheiben einschmiß und ich mich dazustellte und mitmachte, hatte ich mir das nicht vorher überlegt. Die Erklärung kam später: Bill schmiß nicht einfach Fensterscheiben ein, er protestierte gegen die Autorität der Erwachsenen, und als ich dabei mitmachte, brachte ihn das in Verlegenheit ... Ein Erwachsener, der Fenster einschmeißt? Rückblickend finde ich, es war ein bißchen unfair, ihm den Spaß zu verderben. Die simple Erklärung der von mir angewandten Methode mag die sein, daß ich zunächst oft das falsche vorhatte, dann aber genau das Gegenteil davon tat. Stehlen, das bedeutet in konventionellen Schulen Rohrstock oder zumindest eine hochmoralische Strafpredigt. Ich reagierte auf eine nicht-moralische Art. Ein Junge war von drei Schulen durchgebrannt. Bei seiner Ankunft sagte ich zu ihm: ,Hier ist deine Rückfahrkarte. Ich lege sie auf das Kaminsims; wenn du abhauen willst, komm zu mir und hol sie dir.’ Er ist nie von Summerhill weggelaufen, aber lag das an meiner Haltung ihm gegenüber oder an der Freude, die er daran hatte, zum erstenmal in seinem Leben frei zu sein?“ (Neill 1982: 265; ... dort). ... „ich versuche, praktische Lösungen zu finden. Mehr als einmal habe ich zugegeben, daß ich kein Intellektueller, kein großer Denker bin. Wenn ich nach einem Grund für etwas, das ich getan habe, forsche, gebe ich mit großer Wahrscheinlichkeit den falschen an. Als die Kinder sich beklagten, daß Naomi stinke, und ich ihr sagte, ihr Gesicht sei wirklich zu sauber, stieg sie in die Badewanne; aber auch heute, vierzig Jahre später, habe ich keine Ahnung, warum ich so handelte oder warum sie auf meine Kritik so reagierte. Intuition? Aber was ist das schon?” (Neill 1982: 257). Lanes Biograph Wills (1964a: 139) betonte ganz nachdrücklich, daß auch Lanes bedeutendste Fähigkeit sein rasches intuitives Verstehen anderer Menschen sowie seine Fähigkeit war, in ihnen ein warmes Gefühl der Bewunderung und Zuneigung zu erwecken. David Wills verfügte (im Gegensatz zu Lane und Neill) über eine fundierte Spezialausbildung als psychiatric social worker, was man seinen Büchern durchaus anmerkt. Doch auch er gewann Bedeutung als Praktiker, nicht als Theoretiker. Neill (1982: 169, 172) bezeichnete Lane als Phantasten, als Flunkerer, der unwahre Geschichten erzählte, und nie richtig erwachsen wurde, aber auch als „ein Genie der Intuition, ohne viel Bücherwissen, aber ein Mann, der — mehr als irgend jemand, den ich gekannt habe — die Fähigkeit hatte, Kindern Liebe und Verständnis entgegenzubringen.“ (Neill 197 lb: 141). Willa Muir berichtete, daß, welche Theorien Neill auch immer vertreten habe möge, er in seiner Praxis mit Kindern stets nahezu unfehlbar gewesen sei (Croall 1984: 119).
Vgl. Croall (1984: 129–130, 143 f., 154, 178 f., 341 f., 368).
Vgl. die Autobiographie seines Zöglings Claude Brown (1965).
„Ich möchte die Bedeutung dieses Mangels an Furcht vor Erwachsenen ganz besonders betonen. Ein neunjähriges Kind kommt ohne weiteres zu mir und erzählt mir, es habe eine Fensterscheibe eingeworfen. Es kommt zu mir, weil es nicht zu befürchten braucht, Zorn oder moralische Entrüstung hervorzurufen. Es muß unter Umständen die Fensterscheibe bezahlen, aber es braucht keine Angst zu haben, ich könnte ihm eine Gardienenpredigt halten oder es bestrafen.“ (Neill 1969: 27) Eileen Bernal berichtete von ihrem ersten Besuch in Summerhill, daß Neill sie warten ließ, weil er eine Verabredung mit einem kleinen Mädchen einhalten wollte, mit dem er darüber diskutieren wollte, wie es seine kleine Schwester umbringen könne (Croall 1984: 170). Neill hielt sich in den ersten Jahren deutlich von Gerichtssitzungen fern, übte auch sonst ganz bewußt keine Autorität aus und überließ es gegebenenfalls anderen Personen, etwa nachts lärmende Kinder zu beruhigen (Croall 1984: 144). Allerdings wird berichtet, daß Neill einmal doch als Richter fungierte, und das weist wieder auf die vielfach ungenauen und gegensätzlichen Berichte aus Summerhill hin: Eine Jugendliche in Summerhill hatte falsche Münzen geprägt und damit eingekauft. ... in „a meeting in the hall, with Neill as judge, were sentenced to three weeks without pocket money or visits to the pictures, until we had paid back the forged money” (Croall 1984: 188).
Seine klar formulierte Forderung scheint in bestimmten Situationen fast unwiderstehlich gewirkt zu haben, etwa die ruhige entschiedene Aufforderung an Kinder bei Streit und Wutanfällen, sofort Messer und Hammer aus der Hand zu legen (Croall 1984: 143).
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Kamp, JM. (1995). Selbstregierung als ‚Geteilte Verantwortung‘ (shared responsibility). In: Kinderrepubliken. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10478-0_8
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