Zusammenfassung
Ich will dem Thema „Karl Mannheims Beitrag zur Analyse moderner Gesellschaften“ möglichst gerecht werden und diskutiere daher im folgenden die Frage, ob die Vorlesung von 1930 methodisch und sachlich einen derartigen Beitrag darstellt. Ich beginne bei Mannheims Gegenwartsaufgaben der Soziologie, um in Erinnerung zu rufen, für welchen soziologischen Unterricht er plädierte. Danach erörterte ich einige Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit ein Lehrprogramm erfolgreich sein kann. Im dritten Teil gehe ich auf die Inhalte der Vorlesung ein, die für eine Gegenwartskunde relevant hätten sein können und will zeigen, daß zwei Elemente von Mannheim unzulänglich behandelt wurden. Im Anschluß daran nehme ich dann auf die Mannheimsche Vorstellung von Distanzierung Bezug und werde argumentieren, daß eine Kultivierung der „Distanzierung“ für Gegenwartsdiagnosen nicht genügt. Meine These lautet: Zwar war Mannheim ein Fürsprecher einer zeitdiagnostischen Soziologie, sein materialer Beitrag und seine Vorschläge zur Methode der Gegenwartsanalyse sind jedoch unzureichend. Wie kein anderes Phänomen stellt der Aufstieg des Nationalsozialismus einen Lackmus-test für Zeitdiagnosen dar. Wer ihn nicht rechtzeitig angemessen wahrnahm, war dazu verurteilt, unvorbereitet zu seinem Opfer zu werden. Sich mit diesem Phänomen nicht oder unzulänglich auseinandergesetzt zu haben, diskreditierte den Gegenwartsanalytiker als weltfremd. Im Unterschied zu Mannheim sahen andere den Aufstieg der Nazis genauer und früher: beispielsweise diejenigen, die nicht aus der Position des distanzierten Beobachters den sozialen und politischen Wandel erfassen wollten, sondern im politischen Alltagsgetriebe die Nazis als Gegner bekämpften, oder jene wenigen, die schon damals Techniken der systematischen Datensammlung und -auswertung verwendeten. Verallgemeinern läßt sich dieser hier am historischen Beispiel erläuterte Befund vielleicht dahingehend, daß für gelungene Erkenntnis von Neuem durch Zeitgenossen eine Balance zwischen Engagement urd Distanzierung gefunden werden muß, wobei die von Norbert Elias prominent gemachte Begrifflichkeit reformuliert werden muß. Im Anschluß an diesen Befund, komme ich — nicht zuletzt vor dem Hintergrund heutiger Gegenwartsuntüchtigkeit der Soziologie — zum Schluß, daß möglicherweise der Anspruch auf Gegenwartsdiagnostik überzogen ist und zugunsten einer bescheideneren Selbstwahrnehmung der Soziologie verabschiedet werden sollte.
Denken Sie nicht über Probleme [nach], die nicht akut werden!
Karl Mannheim, 1930
Ich danke Dirk Raith für die detaillierte kritische Lektüre einer früheren Version.
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Fleck, C. (2000). Karl Mannheim im Mahlstrom: Die Vorlesung von 1930 ein Beitrag zur Gegenwartsdiagnostik?. In: Endreß, M., Srubar, I. (eds) Karl Mannheims Analyse der Moderne. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10418-6_11
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