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Moderne Spuren des Menschen I: Moderne Bilder des Menschen

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Exklusionsindividualität

Zusammenfassung

Die „Entdeckung“ des Menschen als Gegenstand des Wissens ist eines der wichtigsten Charakteristika der modernen Gesellschaft. Die Frage nach dem Menschen ist ein strukturbildender Bezugspunkt moderner Denk- und Wissenssysteme. Dies ist insofern ein modernes Phänomen, als die Anstrengungen, den ganzen Menschen zu begreifen, seit etwa 200 Jahren immer intensiver werden. Sucht man nach Spuren des Menschen in den Wissenssystemen der Moderne, stößt man daher zunächst auf Semantiken, die den Menschen in seiner Ganzheit erfassen wollen, die — präziser gesagt — danach fragen, was der Mensch ist. Im Kontext der modernen Gesellschaft, in der Kontingenz zum Eigenwert avanciert, ist eine Konstruktion eines vereinheitlichenden Menschenbildes zwar zumindest fragwürdig. Trotzdem finden sich gerade in der Moderne unterschiedliche Versuche, ein Bild des ganzen Menschen zu entwerfen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß nicht alle dieser semantischen Formen erschöpfend beschrieben werden können, denn gerade der Begriff Mensch ist, wie zu zeigen sein wird, Stimulator für eine hochkomplexe Semantik, deren vollständige Rekonstruktion aus rein pragmatischen Gründen nicht zu leisten ist. Darauf kommt es aber hier auch nicht an. Es geht vielmehr darum, wichtige strukturbildende Weichenstellungen der modernen Semantik über den Menschen in den Blick zu nehmen, um die These zu erhärten, daß dem Menschen in der modernen Gesellschaft eine historisch einmalig hohe Relevanz beigemessen wird, da der Mensch eine Problemperspektive des modernen Gesellschaftssystems ist.

„Eines ist auf jeden Fall gewiß: der Mensch ist nicht das älteste und auch nicht das konstanteste Problem, das sich dem menschlichen Wissen gestellt hat. Wenn man eine ziemlich kurze Zeitspanne und einen begrenzten geographischen Ausschnitt herausnimmt — die europäische Kultur seit dem 16. Jahrhundert -, kann man sicher sein, daß der Mensch eine junge Erfindung ist. Nicht um ihn und seine Geheimnisse herum hat das Wissen lange Zeit im Dunkeln getappt. Tatsächlich hat unter den Veränderungen, die das Wissen von den Dingen und ihrer Ordnung, das Wissen der Identitäten, der Unterschiede, der Merkmale, der Äquivalenzen, der Wörter berührt haben — kurz inmitten all der Episoden der tiefen Geschichte des Gleichen -, eine einzige, die vor eineinhalb Jahrhunderten begonnen hat und sich vielleicht jetzt abschließt, die Gestalt des Menschen erscheinen lassen. Es ist nicht die Befreiung von einer alten Unruhe, der Übergang einer Jahrtausende alte Sorge zu einem lichtvollen Bewußtsein, das Erreichen der Objektivität durch das, was lange Zeit in Glaubensvorstellungen und Philosophien gefangen war: es war die Wirkung einer Veränderung in den fundamentalen Dispositionen des Wissens. Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch das baldige Ende.“ (Foucault 1971: 462)

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Literatur

  1. Ein aktuellerer Versuch, der in diese Richtung zielt, ist die Rekonstruktion der Wissenssysteme um den Begriff des Selbst durch Charles Taylor (vgl. 1994 ). Dieser Versuch ist aber bereits deutlich reflektierter als der Cassirers, da er die Kontingenz des Selbst erkennt und die Frage nach den “Quellen des Selbst” mit einer exakt angegebenen Perspektive analysiert. Taylor erkennt dabei den selektiven Charakter seiner Analysen an und sieht die Schußfolgerungen aus seinen Rekonstruktionsversuchen nur als eine mögliche Interpretation. An bestimmten Stellen meiner wisenssoziologischen Analyse der Semantik “Mensch” werde ich daher auf Taylors Arbeit zum Begriff Selbst zurückgreifen.

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  2. Der Begriff Frühmoderne wird zur Bezeichnung des Zeitraums vom 16. bis zum 18. Jahrhundert verwendet, weil in dieser Zeit die mittelalterliche Ordnung endgültig transformiert wird, die moderne Ordnung sich allerdings noch nicht gesellschaftsweit durchsetzen kann.

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  3. Michel de Montaigne fordert z.B. in seinen Essais, daß “man sich mit Besonnenheit darauf einlassen soll, über göttliche Satzungen zu urteilen” (Montaigne 1953: 243), daß man sie also nicht mehr unhinterfragt als richtig hinnehmen soll, sondern als Mensch in der Lage ist, sie, zwar besonnen aber immerhin, zu hinterfragen. Etwa zur gleichen Zeit entfaltet der Renaissance-Humanismus eine breite Wirkung. Giovanni Pico della Mirandola, ein einflußreicher Humanist der frühen Neuzeit, etwa leitet die “Würde des Menschen” am Ende des 15. Jahrhunderts nicht mehr nur aus der Schöpfung Gottes ab, sondern auch aus den diesseitigen Taten des Menschen: “Nicht ohne Grund bezeichnet manchrw(133) in den heiligen mosaischen und christlichen Schriften den Menschen mit der Benennung jedes Fleisches und jeder Kreatur, da er ja selbst sich in die Gestalt jedes Fleisches, in den Geist jeder Kreatur bildet und schaffend umformt.” (Pico della Mirandola 1988: 14) Pico kann dann hinzufügen, daß der Mensch das haben kann, was er sich wünscht, und daß er das sein kann, was er will. Im Mittelalter sind derartige Forderungen unüblich, ja gar gefährliche Ketzerei. Ausnahmen finden sich im Minnegesang oder auch vereinzelt in der mittelalterlichen Prosa, wie z.B. bei Walter von der Vogelweide. Populär werden diese sehr frühen Aufforderungen zur Selbständigkeit bezeichnenderweise jedoch erst in der frühen Moderne.

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  4. Belege thr diese These finden sich u.a. bei Stichweh 1991: 224ff, Preu 1983: 16–30 und Pankoke 1986: 150ff.

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  5. So lesen wir in der dritten Meditation über die Grundlagen der Philosophie die folgende Frage: “Wie sollte ich sonst auch begreifen können, daß ich zweifle, daß ich etwas wünsche, d. i. daß mir etwas mangelt und ich nicht ganz vollkommen bin, wenn gar keine Vorstellung von einem vollkommenen Wesen in mir wäre, womit ich mich vergleiche und so meine Mangel erkenne?” (Descartes 1993: 41) Daß dieses Wesen für Descartes göttlich ist, ändert nichts daran, daß es vom Menschen über seine Ratio erreicht werden kann. Bei einer Betrachtung der Sinngehalte, die dem Begriff der Selbstverwirklichung gegenwärtig zugeschrieben werden, läßt sich leicht ein grundlegender Unterschied erkennen. Heute gilt Selbstverwirklichung gerade als Inbegriff der Vernunftkritik, da sie sich eben nicht mit der Vernunft, sondern nur durch das Akzeptieren der der Vernunft nicht zugänglichen inneren Natur des Menschen erreichen läßt. Wie dieser Bruch in der Semantik möglich wird, wird unten über die Beschreibung der Genese der Idee des Individuums, die Descartes noch nicht ausformuliert, genauer beschrieben.

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  6. Hannah Arendt (vgl. 1987: 249) sieht hierin den Beginn der modernen “Weltentfremdung”, die sie für eine wichtige Ursache zur Entstehung einer durchrationalisierten und verdinglichten Gesellschaft hält. Bekanntlich hat auch Max Weber seine Studien über den Protestantismus mit dem Begriff der Rationalität in Verbindung gebracht. Weber sieht, ähnlich wie Arendt, einen der wichtigsten Ursprünge des Kapitalismus im Entstehen der “protestantischen Ethik”, die sich diesseitig ausrichtet und zu einem disziplinierten, asketischen Leben auffordert (vgl. Weber 1988c: 203f). Diese Denkrichtung ist leicht mit der Philosophie Descartes in Verbindung zu bringen. Ich komme unten (1.4) darauf zurück.

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  7. Die Philosophie Duns Scotus’ ist allerdings wegweisend für die weitere Entwicklung des Begriffs Individuum, da Scotus einen positiven, also vorhandenen Kern des menschlichen Individuums nachzuweisen versucht, indem er davon ausgeht, “daß es im Individuum einen bestimmten Grad der Seiendheit (gradus etitatis) gebe, aufgrund deren das Individuum ist, was es ist: unteilbar und von anderen getrennt” (Hoenen 1996: 348). Diese These hat, wie Günther Mensching (1996: 302) feststellt, “Konsequenzen, die sich der theoretischen Reflexion erst lange nach Duns Scotus durch die Evidenz der historischen Entwicklung aufdrängten. Das Individuum, daß sich, unabhängig von den es umgreifenden Institutionen, auf sich selbst stellt, ist als freie Rechtsperson gegen alle anderen abgegrenzt, es muß seinen Willen, durch den es sich selbst behauptet, mit dem der anderen nach Regeln vereinbaren.” Betrachtet man diese Konsequenzen aus der scotischen Philosophie, wird verständlich, warum sie erst im späten Mittelalter und in der frühen Moderne zu besonderer Wirkung gelangt ist (vgl. auch Hoenen 1996: 348ff.). Derartige Gedanken über die Einzigartigkeit und Entscheidungsfreiheit des einzelnen sind im Mittelalter nicht in breiter Form anschlußPdhig.

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  8. In der Mediävistik wird die Frage, ob das Mittelalter bereits einen auf den Menschen bezogenen Begriff des Individuums kennt, sehr kontrovers diskutiert. Dabei schält sich heute die Erkenntnis heraus, daß die tradierte Lehrmeinung, das Individuum sei eine genuine Erfindung der Renaissance, nicht mehr plausibel gemacht werden kann. Ein auf den Menschen bezogener Begriff des Individuums läßt sich auch für das Mittelalter nachweisen. Der Bedeutungsgehalt des Begriffs wandelt sich aber an der Epochenschwelle zur frühmodemen Gesellschaft. Vgl. zur Dokumentation der umfangreichen geschichtswissenschaftlichen Diskussion dieser Thematik die Beiträge in Aertsen/Speer 1996.

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  9. Ablesen laßt sich die Entwicklung des Menschenbildes zur Fokussierung auf den unverwechselbaren Einzelmenschen bereits an Romanfiguren des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts. Der einzelne erscheint z.B. in Gestalt von Grimmelshausens Simplicissimus und noch eindeutiger in Defoes Robinson Crusoe als Mensch, der als selbständiges und vernunftbegabtes Wesen über sich selber verfügen kann und dadurch individuell die Welt entweder überwindet (Simplicissimus) oder beherrscht (Robinson Crusoe). Die sich in der Romantik durchsetzende Ich-Form in der Erzählweise von Romanen ist ein weiteres Indiz dafür, daß dem Individuum eine zentrale und von der äußeren Welt losgelöste Stellung zugeschrieben wird. Erst später wird hinzugefügt, daß der einzelne dabei zugleich immer als Träger allgemeiner menschlicher Werte in übergreifenden sozialen Zusammenhängen steht. Dies leistet dann vor allem die Soziologie, die aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt ihre ersten Gehversuche macht.

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  10. Eine Passage aus Kants “Grundlegung zur Metaphysik der Sitten” soll diese Aussage belegen: “Nun behaupte ich: daß wir jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, notwendig auch die Idee der Freiheit leihen müssen, unter der es allein handle. Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d.i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe, die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muß sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden; d.i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille sein, und muß also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.” (Kant 1974: 83) Charles Taylor schreibt dieser Idee eine gewaltige, revolutionäre Kraft far die Entwicklung der “neuzeitlichen Zivilisation” zu. Sie ist für Taylor “der Ursprung der sich über Fichte, Hegel und Marx anbahnenden modernen Denkströmung, die sich weigert, das bloß ‘Positive’ zu akzeptieren - also das, was Geschichte, Überlieferung oder Natur als Richtschnur anbieten im Hinblick auf Worte und Handlungen -chrw(133).” (Taylor 1994: 633). Widersprüchlich ist dabei, daß Taylor zunächst von einer Wirkung auf die neuzeitliche Zivilisation spricht, um dann von einer Wirkung auf den Denkstrom, also auf die Semantik auszugehen. Das letztere ist die in wissenssoziologischer Sicht zu bevorzugende Interpretation, der ich mich unter der genannten Bedingung anschließen kann.

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  11. Die in der Verwirrung um den Begriff Individuum nützliche Unterscheidung von quantitativem und qualitativem Individualismus findet sich bereits bei Georg Simmel (vgl. 1984: 95).

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  12. Taylor (vgl. 1994: Kapitel 21 v.a. 640–650) belegt dieses Argument über eine Interpretation von Schriften romantischer Dichter wie Novalis und Wordsworth.

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  13. Rortys Anschluß an die Romantik zur Entwicklung einer ironisch-liberalen Philosophie der Kontingenz der Sprache, des Selbst und des liberalen Gemeinwesens mit Bezügen zu Davidson, Nietzsche und Freud ist einer der konsequentesten Versuche der Gegenwartsphilosophie, die jeweils kontingente Selbsterschaffung der einzelnen als notwendige Leistungen des modemen Menschen zu beschreiben, ohne dabei die Kontingenz des Selbst als politische Forderung zu überzeichnen. Die Selbsterschaffung wird von Rorty aus guten Gründen privatisiert: Rorty zeigt anhand der Freudschen Psychoanalyse überzeugend, daß das Selbst per se kontingent ist und daß es daher nicht plausibel ist, die Möglichkeit eines wahren Selbst, das am Ende einer “geglückten” Selbsterschaffung steht, weiterhin zu denken (vgl. Rorty 1992: v.a. 63ff.). Für Rorty kommt es darauf an, diese Erkenntnis so zu verwenden, daß die abschließenden Vokabulare der einzelnen, die das Selbst erschaffen, kontingent sind. Daher verbietet sich für Rorty eine politische Weisung, wie die Menschen sich selbst erschaffen sollen oder müssen, die er noch bei Nietzsche, Heidegger und Foucault ausfindig macht (vgl. ebd.: 117). Eine solche Weisung ist für Rorty nichts anderes als eine gefährliche politische Forderung, die letztlich dazu führt, daß die Kontingenz des Selbst unterlaufen wird. Dies birgt die Gefahr, einer politischen Überzeugung zuzustimmen, die unterstellt, “daß es ein wichtigeres politisches Ziel als die Vermeidung von Grausamkeit gibt” (ebd.). Zu den gleichwohl unübersehbaren soziologischen und gesellschaftstheoretischen Verkürzungen in der Philosophie Rortys vgl. kritisch Kneer 1996b: 74ff.

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  14. Schleiermacher, einer der Protagonisten der, modernen Hermeneutik, formuliert diesen Gedanken etwa so: “Das Verstehen ist nur ein Ineinandersein dieser beiden Momente (des grammatischen und psychologischen). [chrw(133)] Beide stehen einander völlig gleich, und mit Unrecht würde man die grammatische Interpretation die niedere und die psychologische die höhere nennen.” (Schleiermacher 1977: 79)

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  15. Michel Foucault, der diesen Zusammenhang bereits 1966 in seinem ersten Hauptwerk “Die Ordnung der Dinge” aufgezeigt hat (vgl. Foucault 1971: 367ff) und dem die hier vorgenommene Analyse sehr viel verdankt, sieht die Psychoanalyse und die Ethnologie als besonders typische Beispiele dieser Umstrukturierung des Wissens über den Menschen an (vgl. ebd.: 447ff.).

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  16. Im Kapitel 2 dieser Arbeit wird diesem Gedanken detailliert nachgegangen, indem die modernen Formen der Sorge um den Menschen, die Foucault hier noch zu einseitig allein auf die Philosophie bezieht, genauer analysiert werden.

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  17. Arnold Gehlen radikalisiert diese Denkfigur, indem er den Menschen als Mängelwesen beschreibt, das durch seine natürlichen Ausstattungen allein nicht lebensfähig ist. Die durch diese Mangelhaftigkeit notwendig werdende Weltoffenheit des Menschen erscheint in diesem Sinne als Problem: “Der Mensch unterliegt einer durchaus untierischen Reizüberflutung,der ‘unzweckmäßigen’ Fülle einströmender Eindrücke, die er irgendwie zu bewältigen hat. Ihm steht nicht eine Umwelt instinktiv nahegebrachter Bedeutungsverteilung gegenüber, sondern eine Welt - richtig negativ ausgedrückt: ein Überraschungsfeld unvorhersehbarer Struktur, das erst in ’Vorsicht’ und ’Vorsehung’ durchgearbeitet, d.h. erfahren werden muß. Schon hier liegt eine Aufgabe physischer und lebenswichtiger Dringlichkeit: aus eigenen Mitteln und eigenständig muß der Mensch sich entlasten, d.h. die Mängelbedingungen seiner Existenz eigentätig in Chancen seiner Lebensfristung umarbeiten.” (Gehlen 1962: 36) Gesellschaftliche Institutionen bilden sich nach Gehlen genau zur Entlastung des Menschen. Ich komme darauf unten (3.1.1) zurück, wenn es darum geht, daß nicht, wie Gehlen annimmt, primär der Mensch die Gesellschaft braucht, sondern die Gesellschaft “den Menschen”.

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  18. In der deutschen philosophischen Anthropologie von Scheler bis Gehlen wird der Begriff der Identität nicht zur Bezeichnung des individuellen Selbstentwurfs benutzt. Versteht man unter Identität ein selbsterschaffenes Bild von sich selbst, läßt sich der Begriff problemlos mit den hier angeführten anthropologischen Prämissen in Verbindung bringen. Ich komme gleich darauf zurück.

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  19. Die neuere Selbstkonzeptforschung, die sich auf Meads Sozialpsychologie bezieht, bedient sich ähnlicher anthropologischer Denkfiguren, um ihr Forschungsprogramm über ein universelles Menschenbild zu fundieren: “Menschen sind in der Lage, sich selbst zum Gegenstand ihrer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung zu machen und zwischen ihren Erfahrungen und ihrer Person einen sinndeutenden ( Rück)Bezug herzustellen. Menschen verfugen über kognitive Repräsentationen ihrer eigenen Person (’innere Selbstmodelle’) und gewährleisten dadurch im raum-zeitlichen Beziehungsgefüge das Erlebnis personaler Existenz und Kontinuität.” (Filipp 1979: 129 )

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  20. Dies wird schon daran deutlich, daß die zitierte anthropologische Aussage von Mead in einer Anmerkung getroffen wird. Zu den gemeinsamen Grundlagen, den Analogien und Unterschieden der philosophischen Anthropologie und des Meadschen Pragmatismus, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann, vgl. auch Rehberg 1985.

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  21. In der Literatur ist die Übersetzung dieser beiden Begriffe nicht eindeutig. Die sinnvollste Diktion dürfte die Übersetzung von “I” als Ich und “me” als Mich sein. Im folgenden werde ich die englischen Orginalbegriffe verwenden, da eine Übersetzung letztlich nicht möglich ist.

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  22. Auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit diesen Topoi der Sozialpsychologie kann an dieser Stelle verzichtet werden. Vgl. hierzu Mead 1991: 194ff. und als kritische Diskussion u.a. Eickelpasch 1994.

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  23. Im Gegensatz dazu denkt Erik H. Erikson (vgl. 1973) den Prozeß der Identitätsbildung als abschließbar, was impliziert, daß die Bildung der Identität glücken und mißlingen kann. Identität erscheint als Reife, die am Ende der Jugendzeit erreicht werden muß, “um für die Aufgaben des Erwachsenenlebens gerüstet zu sein” (ebd.: 123). Zur Beschreibung dieses Prozesses entwickelt Erikson eine Stufenfolge der Identitätsfindung. Lebensphasen wie Kindheit, Adoleszenz, frühes Erwachsenenalter werden entworfen, um die Phasen der Bildung der Identität kategorisieren zu können. Gesellschaftstheoretisch naiv ist in diesem Zusammenhang die folgende Aussage: “In jeder [7] Gesellschaft unterstützen spezielle Einrichtungen die Stärke und Deutlichkeit bestimmter Arbeitsidentitäten, indem sie dem Lernenden und noch Experimentierenden einen gewissen Moratoriums-Status gewähren, eine Rolle als Zögling, Lehrling oder Student, die durch umgrenzte Pflichten, gebilligte Wettkämpfe und spezielle Freiheiten charakterisiert und doch schon auf die ganze Hierarchie zukünftiger Leistungen und Laufbahnen, Kasten und Klassen, Innungen und Verbände abgestimmt ist.” (Erikson 1973: 185) Gehaltvoll wäre diese Aussage dann, wenn sie speziell auf die moderne Gesellschaft bezogen wäre, denn nur in dieser Gesellschaft ist zu beobachten, daß Lebensphasen wie Jugend und Kindheit semantisch konstruiert werden, um geplantes Eingreifen und Beeinflussen humaner Orientierungsprozesse legitimieren zu können. Ich komme darauf unten (2.2) ausführlich zurück, wenn die Erziehung als typisch moderne Form der Sorge um den Menschen beschrieben wird.

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  24. Der Prozeß, aus dem heraus sich die Identität entwickelt, ist ein gesellschaftlicher Prozeß, der die gegenseitige Beeinflussung der Mitglieder der Gruppe, also das vorherige Bestehen der Gruppe selbst voraussetzt.“ (Mead 1991: 207) Daß Mead hier einen unterkomplexen Begriff von Gesellschaft verwendet, die er unzulässigerweise mit einer Gruppe von Menschen gleichsetzt, ändert nichts daran, daß er mit dieser Aussage eine wichtige Denkrichtung in der Semantik pflegt, die die gesellschaftlichen Einflüsse auf die selbstbestimmte Identitätsbildung in den Mittelpunkt des Denkens rückt. Zur Verbindung der Begriffe Identität und Anerkennung, die hier nur angedeutet werden kann, vgl. Honneth 1994a: 114ff. und Taylor 1997: 19ff. Die Idee, das Theorem der Identität zur Formulierung adäquater Politikentwürfe zu nutzen, die Taylor im genannten Essay vertritt, hat eine gewisse Faszination, mit der ich mich an dieser Stelle jedoch aus Raumgründen nicht beschäftigen kann.

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  25. Nackt bis auf die Seele. Die exibitionistische Gesellschaft“ titelte kürzlich ”Der Spiegel“ (Nr. 29/14.7.97), um auf die gegenwärtige Tendenz eines zunehmenden Drangs aufmerksam zu machen, sich in allen möglichen Formen (Talkshows, Quizsendungen, Sportereignisse usw.) zu entäußern und dabei die vermeintlich intimsten Geheimnisse preiszugeben.

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  26. Im zweiten Kapitel (2.2 bis 2.5) werde ich drei besonders signifikante Wissenssysteme über den Menschen nachzeichnen, die nicht zuletzt auch im Sinne des Foucaultschen Konzepts einer Disziplinargesellschaft in den Dienst der Disziplin gestellt werden können und werden. Wissen und Macht lassen sich zwar nicht trennen, wie Foucault sehr richtig an vielen Stellen seines Werkes immer wieder betont (vgl. hierzu auch Hillebrandt 1997a: 115f). Den Begriff der Disziplin allerdings als alles durchdringende gesellschaftliche Struktur zu verwenden und zu behaupten, die Disziplin habe eine derartig hohe Zwangsgewalt, daß sie die moderne Gesellschaft integriert und stabilisiert - wie Foucault es in den siebziger Jahren tut -, ist, wie unten (3.1.3) genauer gezeigt wird, allerdings eine zu einfache Konzeption der modernen Gesellschaft.

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  27. Philip Gorski spricht in diesem Zusammenhang von einer “disciplinary revolution”, die sich in einer rapiden und fundamentalen Transformation des Sozialen in der frühen Moderne zeigt (vgl. Gorski 1993: 271). Auch der oben bereits eingeführte frühmodeme Polizeibegriff richtet sich, wie gezeigt, auf die Produktion von neuen Ordnungen, um Kontingenz zu reduzieren.

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  28. Gegen Hobbes setzt Kant neben den Staat das Recht, um letztlich das gleiche Ziel zu erreichen.

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  29. Hiermit schließt Müller an Johann Gottlieb Fichte an, der eine Unterscheidung von Staat und Gesellschaft fordert: “Das Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschenchrw(133), sondern es ist nur ein unter gewissen Bedingungen stattfindendes Mittel zur Gründung einer vollkommenen Gesellschaft.” (Fichte 1971: 906) Die romantische Staatstheorie ersetzt den Begriff der Gesellschaft durch den der (Volks)Gemeinschaft, sieht den Zweck des Staates aber sehr ähnlich in der Hervorbringung einer vollkommenen Volksgemeinschaft.

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  30. Kant setzt Staat und Gesellschaft noch 1797 gleich: “Die zur Gesetzgebung vereinigten Glieder einerchrw(133) Gesellschaft (societas civilis), di. eines Staates, heißen Staatsbürgerchrw(133)”. (Kant 1977a: 432; Hervorh. F.H.) Bereits weniger als 30 Jahre später etabliert Hegel in seiner Rechtsphilosophie (vgl. Hegel 1989: 398ff) die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, indem er den Staat als “Wirklichkeit der sittlichen Idee” (ebd.: 398) faßt, den man nicht mit der “bürgerlichen Gesellschaft” verwechseln darf. Hegel löst die Differenz allerdings über die Figur der Dialektik wieder auf, indem er den emphatisch aufgeladenen (vollkommenen) Staat als Synthese der Differenz von (Not-und Verstandes)Staat und Gesellschaft erscheinen läßt. Der idealistisch aufgeladene Staat avanciert dadurch zum Medium des Weltgeistes und steht im Kontext der Hegelschen Geschichtsphilosophie am Ende der Geschichte. Daß dieses Konzept, nicht nur bezogen auf die empirischen Verhältnisse, gescheitert ist, kann hier nur am Rande bemerkt werden.

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  31. Hegel hatte bekanntlich auf den emphatischen Staat als Synthese der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft gesetzt (vgl. FN 30). Die Soziologie sieht die “Synthese” jetzt im Begriff der Gesellschaft, indem sie den Staat als Teil der Gesellschaft beschreibt (vgl. hierzu auch Luhmann 1987a: 67ff.).

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  32. Der Begriff Disziplin wird von Weber als soziologischer Grundbegriff wie folgt definiert: ‘Disziplin soll heißen die Chance, kraft eingeübter Einstellung fir einen Befehl prompten, automatischen und schematischen Gehorsam bei einer angebbaren Vielheit von Menschen zu finden.“ (Weber 1980: 28) Disziplin kann demnach als internalisierte Unterordnung allen Handelns unter ein unpersönliches Herrschaftsprinzip verstanden werden (vgl. ebd.: 681), wobei dieses Herrschaftsprinzip nicht auf politische und militärische Verwaltungen beschränkt ist (vgl. ebd.: 123 und 128).

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  33. Bekanntlich entwickelt Weber die moderne Tendenz zur inneren Disziplinierung aus der protestantischen Ethik, die eine sich Selbstdizsiplin auferlegende Lebensführung wahrscheinlich werden laßt, indem sie die Askese von den Mönchszellen in die Gesellschaft verlegt: “Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, - wir müssen es sein. Denn indem die Askese aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen wurde und die innerweltliche Sittlichkeit zu beherrschen begann, half sie an ihrem Teile mit daran, jenen mächtigen Kosmos der modernen, an die technischen und ökonomischen Voraussetzungen mechanisch-maschineller Produktion gebundenen, Wirtschaftsordnung erbauen, der heute den Lebensstil aller einzelnen, die in dieses Triebwerk hineingeboren werdenchrw(133) mit überwältigendem Zwang bestimmtchrw(133)” (Weber 1988c: 203).

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  34. Eine wesentliche Komponente der ‘Rationalisierung’ des Handelns ist der Ersatz der inneren Einfügung in eingelebte Sitte durch die planmäßige Anpassung an Interessenlagen.“ (Weber 1980: 15)

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  35. Diese Passagen in Webers Werk erinnern unweigerlich an die “letzten Menschen” Nietzsches, die vor allem im fünften Abschnitt der Vorrede Zarathustras in nihilistischer Vorahnung verächtlich beschrieben werden (vgl. Nietzsche 1930: 13–15). Zu den Analogien zwischen Nietzsche und Weber vgl. auch Peukert 1989 v.a. Kapitel III. Die Interpretation der Zeitdiagnose Webers, die von mir hier vorgenommen wird und die an anderer Stelle ausführlicher dargelegt ist (vgl. Hillebrandt I997a), ist nur eine der vielen möglichen Lesarten. Legt man besonderen Wert auf die Charisma-oder Handlungstheorie Webers, kommt man möglicherweise nicht zu dem primären Ergebnis, daß Weber eine alle Lebensbereiche erfassende Disziplinierung des modernen Menschen annimmt. Unbestritten ist aber wohl, daß Weber in seiner Zeitdiagnose vor dieser Entwicklung warnt.

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  36. An diese Denkfigur schließt Foucault mit seiner Theorie der Disziplinargesellschaft an, obwohl er sich in diesem Zusammenhang nie explizit auf Weber bezieht (vgl. hierzu Hillebrandt 1997a). Ich komme auf die Foucaultsche Theorie der Disziplinargesellschaft unten (3.1.3) ausführlich zurück.

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  37. Als Gattungsbewußtsein bestätigt der Mensch sein reelles Gesellschaftsleben und wiederholt nur sein wirkliches Dasein im Denken, wie umgekehrt das Gattungswesen sich im Gattungsbewußtsein bestätigt und in seiner Allgemeinheit, als denkendes Wesen, für sich ist. Der Mensch - so sehr er dadurch ein besonderes Individuum ist, und grade seine Besonderheit macht ihn zu einem Individuum und zum wirklichen individuellen Gemeinwesen - ebensosehr ist er Totalität,die ideale Totalität, das subjektive Dasein der gedachten und empfundenen Gesellschaft für sich, wie er auch in der Wirklichkeit sowohl als Anschauung und wirklicher Genuß des gesellschaftlichen Daseins wie als eine Totalität menschlicher Lebensäußerungen da ist.“ (Marx 1985: 539)

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  38. Dies ist ein Grund dafür, daß Marx sich selbst nie als Soziologe, sondern als Philosoph und Sozialrevolutionär gesehen hat. Die frühe Soziologie, repräsentiert durch Auguste Comte, war ganz im Gegensatz zu Marx nicht an der Veränderung, sondern an der Erhaltung der sozialen Ordnung interessiert, wie sich beispielhaft auch am oben ausgeführten, dem Comteschen Denken verpflichteten Durkheimschen Disziplinverständnis ablesen läßt. Marx wird für die Soziologie erst um die letzte Jahrhundertwende herum fruchtbar gemacht. Dies geschieht nicht zuletzt durch Max Weber, der seinem Denken viel der Marxschen Theorie verdankt. In einer Rede über den Sozialismus (vgl. Weber 1995) äußert er sich etwa zum Manifest der Kommunistischen Partei von Marx und Engels so: “Dieses Dokument ist in seiner Art, so sehr wir es in entscheidenden Thesen ablehnen (wenigstens tue ich das), eine wissenschaftliche Leistung ersten Ranges. [chrw(133)] Es ist selbst in den Thesen, die wir heute ablehnen, ein geistvoller Irrtum, der politisch sehr weitgehende und vielleicht nicht immer angenehme Folgen gehabt hat, der aber für die Wissenschaft sehr befruchtende Folgen gebracht hat, befruchtendere Folgen als oft eine geistlose Korrektheit.” (Ebd.: 93f.)

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  39. Negative Geschichtsphilosophie bleibt für das Werk Adornos richtungweisend. In seiner “Negativen Dialektik” (Adorno 1975: 314) heißt es z.B.: “Keine Universalgeschichte führt vom Wilden zur Humanität, sehr wohl eine von der Steinschleuder zur Megabombe.”

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  40. Norbert Elias betrachtet den Nationalsozialismus bekanntlich als “Zusammenbruch der Zivilisation” und suggeriert damit, daß das Nazi-Regime einen Rückfall in die Barbarei vergangener Zeiten darstelle. Er warnt jedoch selbst vor einer derartigen Sicht der Dinge, wenn er sagt, “daß ähnliches wieder passieren, daß ein solcher Ausbruch von Roheit und Barbarei von Tendenzen herrühren könnte, die der Struktur moderner Industriegesellschaften geradezu inhärent sind” (Elias 1989: 395).

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  41. Die Auswirkungen des NS-Regimes auf das Denken Adomos lassen sich an vielen Beispielen dokumentieren. 1953 sagt er: “Die Hitlerdiktatur hat kraß zutage gefördert, was der kritischen Einsicht in die Gesellschaft längst bekannt war: die Berufung aufs Unbewußte, Urtümliche, auf die unentstellte Natur, auf die begnadete Persönlichkeit [chrw(133)] trug nur dazu bei, die Vormacht einer entmenschlichten Apparatur bis in die Konsequenzen der vollkommenen Unmenschlichkeit hinein zu verstärken.” (Adorno 1979: 440 ) Angesichts der Greuel des NS-Regimes ist eine Betonung der negativen Folgen der modernen Gesellschaft nur konsequent. Es wäre schlicht unangemessen, wenn das Denken nicht in mit dem Adomozitat beschriebener Weise durch die Nazi-Diktatur nachhaltig irritiert worden wäre.

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  42. Claudia Rademacher (vgl. 1997 ) zeigt sehr deutlich auf, daß Adorno in seiner essayistischen Sozialphilosophie die Utopie der Versöhnung mimetisch umkreist, ohne sie explizit zu benennen. Daher ist Adomos Philosophie nach Rademacher von einem verträumten Utopismus und einem zynischen Pessimismus gleich weit entfernt. Die Schlußfolgerung Rademachers vermag allerdings auch keine Position anzugeben, von der aus die Kritik an der Gesellschaft formuliert werden könnte: “Gerade darin [in der Entfernung von Utopismus und Pessimismus, F.H.] erweist sichchrw(133) die Avanciertheit seiner [Adomos, F.H.] negativ-dialektischen Konstruktion des Utopischen, deren Aporien eben nicht Widersprüche des Denkens, sondern - ‘nach dem versäumten Augenblick’ - solche der realen Verhältnisse sind.” (Rademacher 1997: 256 ) Man kann Adomos Sozialphilosophie also nur dann gerecht werden, wenn man die Form der ortlosen Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen als bewußt eingeführte Aporie akzeptiert. Auf eine Diskussion dieser Option kann ich mich an dieser Stelle aus Raumgründen leider nicht einlassen.

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  43. Was dabei herauskommt, könnte aussehen wie eine Rückkehr zu Positionen, die die Kritische Theorie in den dreißiger Jahren einmal anvisiert hatte. ‘Rückkehr’ natürlich mit vielen Anführungszeichen, denn ich will diese Rückkehr vollziehen, ohne den geschichtsphilosophischen Hintergrund der Kritischen Theorie in Kauf zu nehmen.“ (Habermas 1985a: 185)

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  44. Auf die Genese der Menschenrechte komme ich unten (2.4) ausführlich zurück.

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  45. Die Flutkatastrophe an der Oder aus dem Jahre 1997 veranlaßte das Nachrichtenmagazin “Der Spiegel” (Nr. 31/28.7.1997) zu der Titelfrage: “Die große Flut. Naturkatastrophe oder Menschenwerk?”.

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  46. Wie bereits aus der Einleitung zu dieser Arbeit hervorgeht, bezieht sich der Begriff Gesellschaftsstruktur auf die Form der Differenzierung von Gesellschaften. Er will nicht suggerieren, alle Strukturen einer Gesellschaft quasi auf einem Schlag zu bezeichnen. Strukturen bilden sich vielmehr auf allen Ebenen des Sozialen und sind einer ständigen Variation ausgesetzt. Wird von Gesellschaftsstruktur gesprochen, ist ausschließlich die primäre Differenzierungsform der Gesellschaft gemeint.

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  47. Die körperliche, also organische Dimension des Menschen wurde bisher bewußt ausgespart, da auf sie im nächsten Kapitel ausfihrlich eingegangen wird.

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  48. Ein sich selbst als postmodem bezeichnender Diskurs betreibt eine leidenschaftliche Dekonstruktion dieser Begriffe und behauptet im Anschluß an Denker wie Nietzsche, Heidegger und Foucault verkürzend zusammengefaßt, daß das Selbst, das Individuum, das Subjekt oder der Mensch (Unterschiede scheinen hier nicht zu interessieren) durch die Fragmentierung der Erfahrung zersetzt oder in ihre Bestandteile aufgelöst werden (vgl. für einen kritischen Überblick in philosophischer Perspektive Ferry/Renaut 1987 ). Solche Denkfiguren zeigen m.E. nur, daß das Selbst kontingent ist und daß sich inzwischen das Bewußtsein der Kontingenz des Selbst zumindest im intellektuellen Diskurs durchzusetzen beginnt. Mit Anthony Giddens (vgl. 1995: 186) läßt sich der “postmodernen” Destruktion von Begriffen wie Selbst, Subjekt und Individuum entgegenhalten, daß z.B. das Selbst mehr ist als nur ein Ort sich schneidender Kräfte und daß aktive Prozesse der reflexiven und dadurch kontingenten Identitätsbildung und Selbsterschaffung erst durch die Modeme ermöglicht werden. Dies zeigt bereits Mead (vgl. oben 1.3), was heute regelmäßig übersehen wird. Uneingeschränkte Zustimmung läßt sich m.E. hingegen den sogenannten postmodernen Argumenten, die ebenfalls schon bei Mead zu finden sind, entgegenbringen, die in dekonstruktivistischer Perspektive feststellen, daß ein vereinheitlichtes Selbst, also ein Selbst, daß als das moderne Selbst bezeichnet werden müßte, so nicht mehr ohne einen beträchtlichen Anteil an soziologischer Naivität und politischer Gefahr konstruiert werden kann, was auch in der hier verfolgten Argumentation deutlich geworden se in sollte.

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  49. Ganz in diesem Sinne ist die folgende provokativ formulierte Aussage Luhmanns zu verstehen: “’Den Menschen’ gibt es nicht, noch nie hat ihn jemand gesehen, und wenn man nach dem Beobachtungssystem fragt, das mit Hilfe dieses Wortes oder dieses Begriffs seine Unterscheidungen organisiert, stößt man auf das Kommunikationssystem Gesellschaft.” (Luhmann 1990a: 53f) Es ware sicher eine Unterschatzung der Luhmannschen Theorie, wenn man ihr angesichts solcher Aussagen unterstellen würde, sie leugne die Existenz von Menschen. Daß diese Theorie gerade das Gegenteil implizieren kann, wird im Verlauf dieser Arbeit noch deutlich werden.

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  50. Interaktionen sind Sozialsysteme, die sich bilden, “wenn immer Personen einander begegnen, das heißt, wahrnehmen, daß sie einander wahrnehmen, und dadurch genötigt sind, ihr Handeln [ihre Kommunikationsversuche, F.H.] in Rücksicht aufeinander zu wählen” (Luhmann 1981a: 81). Interaktionssysteme sind uridifferenzierte Sozialsysteme des Kontaktes unter Anwesenden, “die keine weitere interne Systembildung vorsehen” (Luhmann 1984: 263).

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  51. Deswegen muß im Zusammenhang mit funktionaler Differenzierung auch von Weltgesellschaft gesprochen werden. Die funktionale Differenzierungsform macht nämlich nicht vor regionalen Grenzen halt. Das heißt natürlich nicht, daß es keine signifikanten regionalen Unterschiede auf der Welt gibt. Diese lassen sich im Konzept der Weltgesellschaft, das nicht als Konzept einer heute vermehrt zu vemehmenden Globalisierungsdebatte mißverstanden werden darf, sondern ein gesellschaftstheoretischer Topos ist, adäquat ablichten, indem diese Unterschiede auf das Differenzierungsprimat der modernen Gesellschaft bezogen werden.

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  52. Wenn Luhmann der modernen Gesellschaft die funktionale Differenzierung als die primäre Differenzierungsform zuspricht, heißt dies nicht, daß es daneben nicht auch andere Differenzierungsformen gibt. Ich werde darauf zurückkommen.

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  53. Dieser Gedanke erinnert nicht ganz unfreiwillig an Jean-Paul Sartre, der ihn in seiner phänomenologischen Ontologie aus der Perspektive des einzelnen so formuliert: “Ich bin verurteilt, für immer jenseits meines Wesens zu existieren, jenseits der Antriebe und Motive meiner Handlungen: ich bin verurteilt, frei zu sein. Das bedeutet, daß man für meine Freiheit keine anderen Grenzen als sie selbst finden kann oder, wenn man lieber will, daß wir nicht frei sind, nicht mehr frei zu sein. In dem Maß, wie sich das Für-sich sein eigenes Ich verhehlen und sich das An-sich als seinen wahren Seinsmodus einverleiben will, versucht es auch, sich seine Freiheit zu verhehlen.” (Sartre 1991: 764 )

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  54. Ich komme auf die Bedeutung der Menschenrechte für die moderne Semantik Mensch unten (2.4) ausführlich zurück. gelten für Teilsysteme, aber nicht für Menschen in institutionenabhängigen Individuallagen.“ (Beck 1986: 218)

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  55. Das Leben ist eine Baustelle“ lautet der Titel eines Spielfilms von Wolfgang Becker aus dem Jahre 1996, der diesen Sachverhalt sehr anschaulich auf den Punkt bringt.

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  56. Für einen kompakten Überblick über diese Diskussion vgl. Konietzka 1995: 17–100. Zu kontroversen Positionen der Debatte vgl. die Beiträge in Hillebrandt/Kneer/Kraemer 1998.

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  57. Besonders eindringlich, dadurch allerdings auch einseitig, beschreibt Peter Gross (vgl. 1994 ) die Steigerung der Optionenvielfalt in der “postmodernen” Gesellschaft, ohne dabei allerdings notwendige sozialstrukturelle Differenzierungen zu berücksichtigen. Die von Gross vertretene Zeitdiagnose, der “postmoderne Mensch” sei mit der Steigerung der Optionenvielfalt überfordert, halte ich, am Rande bemerkt, nicht schon dadurch für belegt, daß diese These formuliert wird. Gross kann sie in der hier bereits genannten Schrift jedenfalls weder theoretisch noch empirisch belegen. Wenn schon Vermutungen angestellt werden, sollte man vielleicht zunächst annehmen, daß die Menschen sehr wohl etwas mit der modernen Kontingenz des Lebens anzufangen wissen. Der in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende rapide Wandel in den Lebensformen scheint dafür Evidenzen aufzuzeigen.

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  58. Ich greife die Luhmannsche Unterscheidung von Sach-, Zeit-und Sozialdimension des Sinngeschehens auf (vgl. Luhmann 1984: 113ff.).

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Hillebrandt, F. (1999). Moderne Spuren des Menschen I: Moderne Bilder des Menschen. In: Exklusionsindividualität. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-10016-4_2

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