Zusammenfassung
Soziologen kommen bekanntlich zu sehr unterschiedlichen Diagnosen unserer heutigen Gesellschaft. Sie entwerfen das Bild einer „postindustriellen Gesellschaft“, „postmodernen Gesellschaft“, „Dienstleistungsgesellschaft“, „Wissensgesellschaft“, Informationsgesellschaft“, „Mediengesellschaft“, „Risikogesellschaft“, „individualisierten Gesellschaft“, „multikulturellen Gesellschaft“, „Multioptionsgesellschaft“, „Weltgesellschaft“, „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ u.v.a.m. (vgl. Kneer/Nassehi/Schroer (Hg.) 1997; Pongs (Hg.) 1999).
Jenseits dieser verschiedenartigen An- und Einsichten stimmen Soziologen aber in einer Hinsicht überein: Sie kommen zum Schluss, dass die meisten Menschen heute mehr Ressourcen und größere Freiheitsgrade denn je haben, dass Menschen diese Freiheiten in ihrem Verhalten auch nutzen, dass das Verhalten der Menschen also unterschiedlicher denn je geworden ist und schließlich, dass viele Verhaltensweisen sich auf die Handelnden selbst richten: Selbstverwirklichung, Selbstentfaltung heißen die Stichworte, nicht selten auch Egozentrik und Egoismus.
Dieser soziologische Konsens deckt sich mit einer Fülle von empirischen Befunden und mit vielen unserer Alltagserfahrungen der letzten 20 bis 30 Jahre: Wir erlebten die Pluralisierung von Lebensformen, die Ausdifferenzierung von Lebensstilen, die Flexibilisierung von Biographien und Lebensführungen, Scheidungen wurden häufiger, Singles waren „in“ und Heiraten war „out“.
Manche Alltagsbeobachtung in neuester Zeit will jedoch ganz und gar nicht zu diesem mainstream der soziologischen Gesellschaftsanalyse passen. So sehen wir Studierende, die sich eher anpassungsbereit und konformistisch als individualistisch und selbstbezüglich verhalten. Und viele Jugendliche streben allem Anschein nach keineswegs nach eigener Profilierung, nach dem Ausleben der eigenen Möglichkeiten, nach neuen Lebensformen, sondern nach einfachen, hergebrachten Lösungen, Sicherheit, nach „stabilen Verhältnissen“, nach Gemeinschaft. Singles gelten ihnen demnach nicht länger als Helden der Autonomie, sondern als einsame Defizitwesen, die auf Partnersuche sind. Ehe, Treue und Harmonie sind „angesagt“.
Die These dieses Beitrags lautet: Diese Alltagsbeobachtungen sind soziologisch verallgemeinerbar. Sie kennzeichnen in den späten 90er Jahren eine Entwicklungsrichtung unserer Gesellschaft und des Zusammenlebens der Menschen. Der Wertewandel hat sich gewandelt. Das Pendel ist zurückgeschlagen. Viele Menschen streben nicht länger nach individueller Autonomie und Selbstverwirklichung, sie kosten ihre Freiheitsgrade nicht länger aus, sie sind vielmehr auf der Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft (vgl. Hradil 2002). Das lässt sich mittlerweile empirisch gut belegen und auch erklären: Während das Streben nach Selbstverwirklichung und Individualisierung der 70er, 80er und frühen 90er Jahre aus dem Mangel an Freiheiten seinen Anfang nahm, der bis in die 60er Jahre herrschte, und die Ressourcen nutzte, die seither zur Verfügung standen, entsteht die heutige Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft aus dem Überfluss an zwischenmenschlichen Konflikten, Orientierungsproblemen und Risiken, die das Autonomiestreben, aber auch die wirtschaftliche Situation mit sich gebracht haben.
Ausführlicher und systematischer lässt sich diese These wie folgt begründen:
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Hradil, S. (2003). Die Suche nach Sicherheit und Gemeinschaft in der individualisierten Gesellschaft. In: Hillmann, KH., Oesterdiekhoff, G.W. (eds) Die Verbesserung des menschlichen Zusammenlebens. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09775-4_6
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