Entwicklungsfortschritte und Entwicklungsblockaden in Brasilien — Fragen der Regierbarkeit, der Systemeffizienz und der Legitimität

Zusammenfassung

Angesichts des seit Beginn der jüngsten brasilianischen Finanzkrise dargebotenen Wechselspiels aus apokalyptischer und hoffnungsfroher Berichterstattung über die kurz- bis mittelfristigen Aussichten der brasilianischen Wirtschaftsentwicklung, kann man sich eines gewissen dejá vu-Effekts kaum erwehren: Es scheint geradezu ein Muster des brasilianischen Entwicklungsprozesses zu sein, dass vielversprechende Phasen eines neuen Aufbruchs in ein desaströses Scheitern münden, um dann wieder erste hoffnungsvolle Anzeichen zukünftigen Aufstiegs zu bieten. Dies gilt offenbar auch für die im Zusammenhang mit der Freigabe der Landeswährung Real vorgenommene Neujustierung der policy agenda. Ein diachroner Vergleich in historischer Langzeitperspektive ergibt freilich ein komplexeres Gesamtbild als diese gängige Beschreibung einer stop-and-go-Entwicklung: Der nachholende Industrialisierungsprozess Brasiliens in diesem zu Ende gehenden Jahrhundert war einer der schnellsten der Weltgeschichte. Er verschaffte Brasilien die Position eines Schwellenlandes, dem der Status des einzigen global trader Lateinamerikas zugebilligt wurde. Um die Nachhaltigkeit dieses vielbewunderten Aufstiegs Brasiliens war es freilich schlecht bestellt, der verschwenderischer Einsatz natürlicher wie humaner Ressourcen genügte weder ökonomischen noch ökologischen Kriterien. Das Projekt Industrialisierung trug sich nicht selbst, es blieb letzten Endes unfinanzierbar. Vorhandene regionale, soziale und ökonomische Disparitäten steigerten sich um ein Vielfaches. Die Verteilung der Gewinne und Kosten industrieller Entwicklung fand in einer auch für lateinamerikanische Verhältnisse beispiellos ungerechten Weise statt¹. Die horrenden sozialen und ökologischen Folgelasten der Industrialisierung ließen Brasilien schließlich zu einem monströsen Paradebeispiel nicht-nachhaltiger Entwicklung werden. Der Staat, von dem die Forcierung einer beschleunigten industriellen Entwicklung ausgegangen war, blieb die vielfach überforderte zentrale Kontrollinstanz dieses Prozesses. Dies auch dann noch, als die Erosion seiner Handlungsfähigkeit offenkundig wurde und sich seine Handlungsspielräume in der Sackgasse der Auslandsverschuldung auf ein Minimum verengten.