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Die Besonderheit der Abduktion — Ch. S. Peirce und darüber hinaus

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Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung

Part of the book series: Qualitative Sozialforschung ((QUALSOZFO,volume 13))

  • 224 Accesses

Zusammenfassung

Qualitative Fallanalysen haben das Ziel (und in diesem Ziel unterscheiden sie sich nur unwesentlich voneinander), aufgrund der Ausdeutung sinnstrukturierter Daten, (welche Teile, Reste, Verkürzungen oder Abstraktionen sinnstrukturierter Interaktionen sind) zu rekonstruieren, wie Handlungssubjekte — hineingestellt und sozialisiert in historisch und sozial entwickelte Routinen und Deutungen des jeweiligen Handlungsfeldes — diese einerseits vorfinden und sich deutend aneignen (müssen), andererseits diese immer wieder neu ausdeuten und damit auch ‚eigen—willig‘ erfinden (müssen).

Der Geist fühlt sich gedrängt, nach einem Grunde vieler Wirkungen zu forschen, und wenn er denselben entdeckt, nach dem Grunde des Grundes, und dann wieder nach dessen Grund, unaufhörlich ins Tiefe tauchend, in sich die Gewißheit tragend, daß er zu einer absoluten und befriedigenden Einsicht gelangen muss und wirft — einem Eins, das alles ist. Ralph Waldo Emerson

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Literatur

  1. Den Mittelnamen ‚Sanders‘ gab Peirce sich selbst — glaubt man dem Mitherausgeber der ersten Bände der Collected Papers, Paul Weiss —, um William James zu ehren. „William James, Peirce’s lifelong friend and benefactor, in whose honor he seems later to have adopted the middlename ‚Santiago‘ (St. James in Spanish) ... “ (Weiss 1965: 6 und Young 1952: 273).

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  2. Peirce erläutert die Herkunft des Begriffs so: „Der Terminus ‚Abduktion‘ ist in der Logik extrem ungebräuchlich. Er wurde von Julius Pacius, einem bedeutenden Italiener im Jahre 1597 verwendet, als dieser Professor für Logik in Sedan war, und zwar um das Wort ‚Apagogé‘ im 25. Kapitel des zweiten Buchs der ersten Analytik zu übersetzen. Der Terminus war, soweit dem Verfasser bekannt, niemals zuvor als ein logischer Begriff verwendet worden und ist seitdem auch niemals wieder so gebraucht worden, außer in Bezug auf diese eine Stelle, die so unverbunden wie nur irgend denkbar mit allem übrigen ist” (Peirce 1983: 90f. — MS 478 — 1903). Zur Verwendung des Wortes Abduktion und der Abgrenzung zur Apagogé siehe auch Peirce 1992b: 140f sowie Richter 1995: 51 und Kempski 1992: 310ff.

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  3. Da es unter den bundesdeutschen Sozialforschern noch immer Unstimmigkeiten darüber gibt, wie der Name ‚Peirce‘ auszusprechen ist, verweise ich auf den Nestor der Peirce—Forschung, der betont, dass Peirce nicht ,Pierce, sondern ‚Purse‘ ausgesprochen wird (vgl. Young 1952: 271 und Fisch 1981: 18; dt. in: Sebeok & UmikerSebeok 1982: 16). Offensichtlich gab es diese Aussprechschwierigkeiten bereits zu Lebzeiten von Peirce. So soll er sich in seinem Leben nur zwei Dinge sehnlichst gewünscht haben: dass (a) sein Name richtig ausgesprochen, und (b) er Professor an der Harvard Universität wird (vgl. Parker 1998: XV). Diese Aussprechvariante ergibt sich wahrscheinlich aus der Familiengeschichte von Peirce: der Familiengründer, der 1637 von England nach Boston übersiedelte, hieß nämlich John Pers (vgl. Hookway 1985: 4).

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  4. Als Peirce 1914 starb, kaufte die Harvard Universität von seiner Witwe dessen Manuskripte. Im Lagerraum der Universität ging eine größere Anzahl der Manuskripte verloren, andere wurden gestohlen. Übrig blieben etwa 90.000 Blätter (vornehmlich aus den Jahren 1900 bis 1914), die mittlerweile auf Mikrofilm (1966) und Microfiche (1977) vorliegen (vgl. hierzu Oehler 1993: 40 und vor allem Pape 1990: 71). Hinzu kommen etwa 400 Rezensionen für die Zeitschrift ,The Nation‘ und etwa 5000 Seiten zu Fragen der Geophysik und Astronomie für die , Coast and Geodetic Survey‘ (siehe hierzu Pape 1988: 32): alles in allem gut 100.000 Seiten, von denen etwa nur ein Fünftel in den ,Collected Papers‘ aufgenommen wurde. Seit 1982 erscheint in regelmäßigen Abständen die längst notwendige, auf 20 Bände angelegte Ausgabe der chronologisch geordneten Arbeiten von Peirce (Writings of Ch. S. Peirce — A Chronical Edition, Bloomington). Bislang sind allerdings nur die ersten sechs Bände publiziert worden.

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  5. „When Hartshorne began organizing the papers in the late 1920s, he ,knew almost nothing about Peirce. It was just a job’ (...). Later Weiss confessed that ,we were ignorant and inexperienced‘. But in their defense he also noted: ,We were young men, who knew nothing about editing, nothing about publishing, but, also, we were given no help [from the Harvard Philosophy Department]. We were not encouraged in our work‘“ (Dauben 1995: 149).

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  6. So findet sich in der Fußnote 21 zur Erläuterung des Begriffes ‚Retroduction‘ folgender Eintrag der Herausgebers Arthur Burks: „(Ed.) Peirce also uses ‚Abduction’and ‚Hypothesis‘ for what he here calls ‚Retroduction ‘ (Peirce CP Vol. VII: 61). Wie nachhaltig die fehlende Unterscheidung zwischen Hypothese und Abduktion sich auf die spätere wissenschaftliche Diskussion um den Abduktionsbegriff ausgewirkt hat, kann man auch sehr deutlich bei dem renommierten Philosophen Beckmann 1982 sehen. Ganz in der Tradition, dass die ‚Hypothese‘ mit der ‚Abduktion‘ identisch ist, legt auch Beckmann in seinen Ausführungen zur ‚Methode‘ der Abduktion dar, dass unter der Abduktion ein selbstständiger dritter Schlussmodus zu verstehen ist, „mit Hilfe dessen ein Fall aus einer allgemeinen Regel und einem Resultat, welche als Prämissen fungieren, als wahrscheinlich behauptet wird” (Beckmann 1982: 102). In einer Fußnote verweist er den Leser dann auf (aus seiner Sicht) wichtige Bestimmungen der Abduktion, nämlich auf drei Texte, die in den Jahren 1867, 1877 und 1883 geschrieben wurden — also alles Texte, die lange bevor Peirce den Begriff der Abduktion benutzte, fertig gestellt waren. Bei Beckmann kommen gleich zwei gravierende Missverständnisse zusammen: einerseits die Bestimmung, Abduktion schließe von Regel und Fall, andererseits, die Abduktion würde eine Wahrscheinlichkeit behaupten. Deshalb kann es auch nicht verwundern, dass andere Rezipienten später Peirce für einen Denker hielten, der Widersprüchliches und Unklares zur Logik geschrieben habe und deshalb vernachlässigt werden könne.

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  7. Zur Form der Zitierung folgendes: in der Regel werden Peirce—Zitate mit drei Hinweisen versehen: als erstes wird der Erscheinungsort genannt, wenn möglich der einer deutschen Übersetzung. In dem zweiten Hinweis wird — wie in der Peirceliteratur üblich — der Fundort des Zitats in den Collected Papers genannt, wobei die erste Ziffer den Band bezeichnet und die folgenden das betreffende Kapitel. Zitierte Stellen aus den auf Mikrofilm vorliegenden Manuskripten sind mit ‚MS‘ gekennzeichnet. An dritter Stelle erfolgt die Angabe des Jahres, in dem das Zitierte geschrieben wurde. Dies ist angesichts der sehr dynamischen Entwicklung der Peirceschen Gedanken unverzichtbar.

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  8. Dass die Bedeutung eines Begriffes nicht durch die Gesamtheit des von ihm herbeigeführten Handelns konstituiert wird, sondern durch die Begriffe der ausgelösten Handlungen, führt scheinbar in eine Schwierigkeit, macht aber zugleich eine zentrale Prämisse des Peirceschen Konzepts klar: es ergibt sich nämlich das Problem, dass bei der vorgeschlagenen Lösung am Ende der Bedeutungsexplikation eines Begriffes erneut Begriffe stehen, welche einer Explikation harren. Dies würde einen endlosen Regress in Gang setzen, somit die Bedeutungsexplikation eines Begriffes boden—und grundlos werden lassen. Die Vorstellung fruchtlosen Regresses entsteht aber nur vordem Hintergrund einer Theorie, welche hofft, bei der Begriffsexplikation den Raum der Sprache verlassen und zu dem Bezeichneten selbst, zum reinen Handeln kommen zu können. Die pragmatische Maxime betont dagegen, dass es in Begriffsexplikationen kein ,jenseits der Sprache geben kann — bei der Analyse operieren wir mit Begriffen, nicht mit Handlungen. Begiffsexplikation in diesem Sinne heißt lediglich, die vor allem in abstrakten Begriffen kondensierten Handlungsmöglichkeiten wieder sichtbar zu machen.

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  9. Noch eine ‚schöne‘ Stelle, welche die Peircesche Theorie der Bedeutung deutlich macht: „Der Pragmatismus ist das Prinzip, daß jedes theoretische Urteil, das sich in einem Satz in der Indikativform ausdrücken läßt, eine verworrene Form eines Gedankens ist, dessen einzige Bedeutung, soll er überhaupt eine haben, in seiner Tendenz liegt, einer entsprechenden praktischen Maxime Geltung zu verschaffen, die als ein konditionaler Satz auszudrücken ist, dessen Nachsatz in der Imperativform steht” (Peirce 1976: 339 — CP 5.18 — 1903). Zur weiteren Ausdeutung der pragmatischen Maxime siehe auch Pape 1988: 278ff.

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  10. Im Weiteren werde ich nicht — wie in der Peirceliteratur üblich — von ‚Hypothese‘ sprechen, sondern wie Strübing 2002b: 54 von ‚hypothesis’. Dies deshalb, weil wei—ter unten der Begriff ,Hypothese in einer anderen Bedeutung wieder verwendet wird.

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  11. Richter kommt in seiner Untersuchung zu einem ähnlichen Befund: „Insgesamt hat sich die Unterscheidung zwischen einem frühen und einem späten Abduktionskonzept in der Literatur durchsetzen können. Tatsächlich sprechen die auffälligen Abweichungen etwa der Konzepte zwischen 1901 und 1903 gegenüber der Behandlung der Hypothese von 1865/66 für diese Unterscheidung” (Richter 1995:171).

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  12. Sehr viel später — und das vermehrt die Unübersichtlichkeit enorm — nannte er die qualitative Induktion auch (qualitative) Adduktion (vgl. Peirce NEM II,1: 159–210). Allerdings findet sich über die Adduktion in der Forschungsliteratur nur sehr wenig.

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  13. Dass der — nicht freiwillige — Rückzug von Peirce aus dem akademischen Leben und seine Umsiedlung nach Milford im Jahre 1891 tatsächlich auch den Wendepunkt seiner Philosophie bedingten (vgl. Burks 1946), scheint mir zu vordergründig zu sein. Plausibler ist schon die These, die Überarbeitung des Abduktionsbegriffes sei die Spätfolge einer bereits 1883 vorgenommenen Neubestimmung der Induktion gewesen (vgl. Riemer 1988a und 1988b). Verträglich mit diesem Argument sind die Untersuchungen von Apel, der ab 1885 bei Peirce eine genauere begriffliche Unterscheidung der Typen des logischen Schließens und ab 1898 eine Reorganisation der Gesamtphilosophie diagnostiziert (vgl. Apel 1975).

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  14. Weitere Hinweise auf die geringe Trennschärfe zwischen Induktion und Abduktion finden sich bei (a) Peirce CP 2.102 — 1902; (b) Peirce 1986: 70 — MS L107 — 1904; (c) Peirce MS 475: 22 — 1903.

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  15. Vor allem der Aufsatz „Deduktion, Induktion und Hypothese” (Peirce 1976: 229–252) erfüllt diese Bedingungen, und er wird deshalb für meine Rekonstruktion zentral sein.

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  16. Hier folge ich den Ausführungen von Apel 1975: 79ff und Wartenberg 1971: 64ff. Kempski akzentuiert anders: er führt die Vorstellungen von Peirce mehr auf die Lektüre von Duns Scotus zurück (vgl. Kempski 1952: 16ff). Murphy datiert die Dreiteilung der Formen des Schlussfolgerns auf 1865: „Precisely when Peirce discovered that deduction, induction and hypothesis could be correlated with the three figures of the syllogism, we do not know, but all available evidence points toward 1865” (Murphy 1961: 60) .

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  17. Zum Begriff der Intuition bei Peirce siehe Peirce 1976: 37 und Peirce 1986: 160ff.

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  18. Die Ansicht war zu dieser Zeit gar nicht so unüblich. Frege teilte sie, ebenso der frühe Wittgenstein und die sich auf ihn berufende Schule.

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  19. Diesen Gedanken baute Peirce in seinen Arbeiten nach 1893 weiter aus, was zu einer Überarbeitung seiner Vorstellungen über die Grundlagen des Schlussfolgerns führte. Die Rolle des Nicht—Logischen der Peirceschen Philosophie haben insbesondere Wartenberg 1971 und Bernstein 1975 weiter herausgearbeitet.

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  20. Etwas hinterhältig ist das Beispiel von Peirce schon. Denn hat man mit der induktiv ermittelten Prognose recht, gehört man zu den Verlierern, da man eine weitere Niete gezogen hat. Echte Lotteriespieler sind deshalb im Grunde von der Gültigkeit induktiven Schlussfolgerns gerade nicht überzeugt — sie rechnen mit der Ausnahme und sind bereit, einiges darauf zu setzen. Der Spieler ist der lebende Beweis dafür, dass unser handlungsleitendes Wissen nicht allein induktiven Schlüssen zu verdanken ist. Glücksspiele, ihr ‚Alter’ und ihre Verbreitung in fast allen Kulturen zeugen von dem Wissen um die unwahrscheinliche Ausnahme, von dem Wissen, dass es nicht immer so sein wird, wie es war. Glücksspiele sind Ausdruck des Zweifels an der Gültigkeit von Regeln. Bertrand Russell kehrt das Verhältnis von Gewinnern und Verlierern um (und zeigt dabei die ,andere Seite induktiver Schlüsse), wenn er von dem Huhn berichtet, das sich bei seinem Handeln auf die Induktion verlässt. „Der Mann, der das Huhn tagtäglich gefüttert hat, dreht ihm zu guter Letzt das Genick um und beweist damit, daß es für das Huhn nützlicher gewesen wäre, wenn es sich etwas subtilere Meinungen über die Gleichförmigkeit der Natur gebildet hätte (...). So lassen uns unsere Instinkte mit Bestimmtheit glauben, daß die Sonne morgen früh aufgehen wird; aber es könnte ja sein, daß wir in keiner besseren Lage sind als das Huhn, dem wider alles Erwarten das Genick umgedreht wird” (Russell 1969: 56f). Das Russellsche Huhn, das von der Wahrnehmung (Dieser Mann hat in den letzten Jahren das Futter gebracht.) auf eine Regel schließt (Dieser. Mann wird immer Futter bringen.), besitzt kurz vor seinem jähen Ende die für sein Leben höchste Gewissheit, dass die fütternde Hand ihm wohl gesonnen ist, denn Tag für Tag und ohne Ausnahme wurde diese Regel bestätigt.

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  21. Nur in einer recht weiten Bedeutung des Wortes liefert diese Art von Schluss neues Wissen, nämlich dass altes Wissens auch für einen Fall gilt, von dem man noch nicht wusste, dass er von dem bekannten Wissen erklärt wird. Neues weiß man also nur über den Geltungsbereich bereits vorhandenen Wissens: eine Regel gilt nicht nur für x bis z (wie bisher angenommen), sondern auch für b bis f. Aber die Vergrößerung des Geltungsbereiches, und das ist der entscheidende Punkt, schafft kein neues Wissen herbei.

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  22. Folgt man meiner zweiten Lesart, dann zeigt sich, dass Peirce bereits in den frühen Schriften zwei unterschiedliche logische Schlüsse ungewusst kennzeichnete, sie jedoch (noch lange Zeit) mit einem Begriff benannte. Die volle Bedeutung des von ihm selbst Geschriebenen kam Peirce erst durch die weitere Ausdeutung seines eigenen Werkes in den Griff des Bewusstseins. Auch hier scheint es so zu sein, dass Widersprüche oder latente Bedeutungen früherer Arbeiten sich im Spätwerk ‚ausblülhen‘, also sichtbar werden und dann bearbeitet werden müssen. Diese These ist auch nützlich, wenn man verstehen will, weshalb es in der Peirce—Rezeption noch keine Einigung darüber gibt, wann genau sich der Wandel der Peirceschen Anschauung im Bezug auf Abduktion und Induktion vollzog.

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  23. Eine sehr unterschiedliche Ausdeutung dieses Beispiels findet sich in Eco 1976.

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  24. Personifiziert ist dieser Idealtyp des hypothetischen Schließers in den Gestalten Sherlock Holmes, entworfen von Conan Doyle und Auguste Dupin, entworfen von Edgar A. Poe. Allerdings gibt es auch hier Unterschiede: Dupin ist mehr Rationalist, Holmes dagegen mehr Empirist. Holmes beobachtet erst einmal recht genau, bevor er auf sein breites Wissen zurückgreift, während Dupin sehr wenig an Beobachtung zum Anlass nimmt, seine allseitige Bildung auszubreiten. Die beiden Detektive sind m.E.keine abduktiven Schlussfolgerer, wie dies öfter behauptet wurde (vgl. Sebeok & Umiker—Sebeok 1982; Eco & Sebeok 1985 und Eco 1985 — kritisch dazu: siehe Reichertz 1988b und 1991b).

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  25. Ich denke, in der hier untersuchten Arbeit von Peirce ‚kippt‘ der Induktionsbegriff: die vage Induktion hat noch einiges von der Hypothese, aber schon viel von der späteren Abduktion. Die vage Induktion ist in der Entwicklung von der Hypothese zur Abduktion nur ein kurzlebiges Zwischenglied.

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  26. Deshalb werde ich (um keine Begriffsverwirrung zu erzeugen) ab jetzt immer dann, wenn das Ergebnis einer Abduktion adressiert werden soll, den Begriff ,Hypothese verwenden.

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  27. „Die dritte Schleifsteinthese ist die, daß der abduktive Schluß allmählich ins Wahrnehmungsurteil übergeht, ohne daß es irgendeine scharfe Trennungslinie zwischen ihnen gäbe; oder, mit anderen Worten, unsere ersten Prämissen, die Wahrnehmungsurteile sind als extremer Fall von abduktiven Schlüssen zu betrachten, von denen sie sich dadurch unterscheiden, daß sie absolut außerhalb der Kritik stehen“ (Peirce 1976: 404-CP 5.181–1903).

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  28. Zentral für meine Argumentation sind zwei Arbeiten aus dem Jahr 1903 (‚Telepathy and Perception‘ Peirce CP 7.597ff und die Pragmatismusvorlesungen Peirce CP 5.14ff). Ausführliche Darstellungen und Auseinandersetzungen mit der Wahrnehmungstheorie finden sich bei Scherer 1984: 139ff, Bernstein 1964: 175ff, Hookway 1985: 156ff und Wartenberg 1971: 126ff. Insbesondere die Argumente von Scherer habe ich bei meiner Interpretation aufgegriffen.

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  29. Da es mir nicht darum geht, diesen Prozess der ‚Percept—Bildung‘ genau zu analysieren, unterlasse ich im Weiteren eine detailliertere Darstellung der m.E. sehr spekulativen Vorstellungen von Peirce. Ich kann mir nicht einmal die Möglichkeit vorstellen, wie Licht in dieses Dunkel gebracht werden könnte. Die durchaus konstruktivistisch orientierte Evolutionäre Erkenntnistheorie versucht es mit den Mitteln der Biologie (vgl. Riedl & Wuketits 1987; Lorenz & Wuketits 1983). Und Erklärungsversuche aus einer radikal konstruktivistischen Sicht finden sich u.a. in Maturana 1970 und 1987, Roth 1998, Damasio 2000, Spitzer 2002, Emrich & Schneider & Zedler 2002. Besonders zugespitzt in Bezug auf die Frage, ob Wahrnehmungen uns neues Wissen liefern, hat Popper seine Argumente. Er unterscheidet zwischen Wahrnehmungswissen und ‚A—priori—Wissen‘, welches unsere Sinnesorgane und die Verarbeitungsinstanzen von Sinnesdaten im Laufe der Evolution erworben haben (Popper 1987). Dieses A—priori—Wissen ist den einzelnen Exemplaren der menschlichen Spezies angeboren und macht „99,9%” unseres Wissens aus. Neues Wissen entsteht nur, wenn das angeborene Wissen in der wahrgenommenen Erfahrung scheitert.

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  30. Vor allem Bernstein weist auf die theoriestrategische Bedeutung dieses Begriffes hin. Der Begriff selbst ist eine ‚creation‘ von Peirce, die er in Anlehnung an das lateinische Wort ‚praecipuum = das Vorrecht, das Voraus‘ vornimmt (vgl. Peirce CP 7.630 — 1903). Unklar ist, weshalb er nicht das Partizip Perfekt Passiv von percipere, nämlich ‚perceptum‘ wählt, vielleicht weil er zu sehr dem bereits verwendeten Begriff ‚percept‘ ähnelt. ‚Percipuum‘ ist offensichtlich ein Kunstwort, ohne in sich noch eine Botschaft über seine Bedeutung zu tragen. Die Endung ‚—um‘ kennzeichnet ohne weiteren Nebenklänge allein die formale Eigenschaft, ein Substantiv zu sein, und für das Beharren auf dem Präsensstamm ‚perci‘ lassen sich m.E. keine Gründe finden, welche auf eine weiterführende Bedeutung verweisen.

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  31. Die entscheidende Frage ist, ob ein ‚percept‘ von sich aus Merkmale aufweisen kann, die mit bereits Bekanntem nicht zur Deckung zu bringen sind. Sinnvoller scheint mir die Rede von ‚percepts‘ , an welchen neue Merkmale auf einmal in den Blick kommen. Etwas, das vorher nicht wahrgenommen wurde, wird aufgrund veränderter Handlungsprobleme sichtbar oder genauer: auf einmal gesehen. Die ganzen Bemerkungen sollen nur meine Überzeugung verdeutlichen, dass nicht die Dinge etwas sichtbar werden lassen, sondern dass es eine Aktivität des erkennenden Subjektes ist, welche die Merkmale sichtbar werden lässt.

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  32. In diesem Fall ziehe ich die Übersetzung von E. Walther vor, weil sie m.E. beim entscheidenden Punkt (=Übersetzung von ,mind) besser ist. Da jedoch die ApelÜbersetzung im Schlussteil angemessener ist (=Übersetzung von ‚new suggestion‘), gebe ich hier (wegen der zentralen Bedeutung dieser Textstelle) Original und Übersetzung wieder: „It is true that the different elements of the hypothesis were in our minds before; but it is the idea of putting together what we had never before dreamed of putting together which flashes the new suggestion before our contemplation” (Peirce CP 5.181). „Zwar waren die verschiedenen Elemente der Hypothese schon vorher in unserem Verstande; aber erst die Idee, das zusammenzubringen, welches zusammenbringen wir uns vorher nicht hätten träumen lassen, läßt die neu eingegebene Vermutung vor unserer Betrachtung aufblitzen” (Peirce 1976: 404).

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  33. Siehe hierzu auch Harnard 2001 und Strübing 2002b: 49ff.

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  34. Ein etwas schräges Beispiel für diesen Fall geht so: Resultat: überraschend taucht Person P in meiner Haustür auf. Alte Regel: nur wenn P Geld benötigt, besucht er mich. Fall: P benötigt mal wieder Geld.

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  35. Siehe auch die fast identische Formulierung: „Abduction is no more nor less than the guessing” (Peirce NEM IV: 320).

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  36. „Any novice in logic may well be surprised at my calling a guess an inference. It is equally easy to define inference so as to exclude or include abduction. But all the objects of logical study have to be classified and it is found that there is no other good class in which to put abduction but that of inferences” (Peirce MS 692: 25f. — 1901). Wie pragmatisch seine Zuordnung war, lässt sich auch daraus ersehen, dass er ein Jahr später den Begriff ‚Schlussfolgerung‘ ganz anders fasst. „Nun ist Schlußfolgern, für das es keine Gründe gibt, überhaupt kein Schlußfolgern. Völlige Schlüssigkeit impliziert eine zumindest virtuell endlose Folge von Gründen” (Peirce 1986: 425 — MS 599 — 1902). Er knüpft damit an Überlegungen an, dass eine Schlussfolgerung eine „bewußte und kontrollierte Übernahme einer Überzeugung” sei (Peirce 1986: 202 — MS 595). Im Lichte dieser Äußerungen ist die Abduktion zweifellos keine Schlussfolgerung.

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  37. Übersetzung dieser Textstelle entnommen aus Sebeok & Umiker—Sebeok 1985: 36.

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  38. Das Wort ‚groundlessness‘ muss hier mit ‚Unbegründbarkeit‘ übersetzt werden. Diese Übersetzung ‚Grundlosigkeit‘ erscheint mir nicht treffend, sogar den wichtigen Punkt verdeckend, denn ohne Grund — also zufällig — kommt die Abduktion ja nicht zu einem Urteil, sondern sie weiß lediglich die Gründe nicht zu nennen.

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  39. Deshalb kann man an der Art und Weise, wie Menschen das Lösen englischer Kreuzworträtsel angehen, erkennen, welche Art von Schlussfolgerer sie sind. Den abduktiven erkennt man an Bleistift und Radiergummi, den hypothetischen am Kugelschreiber.

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  40. Wie weit manchmal das Verständnis von Abduktion in der Sekundärliteratur von den Überzeugungen von Peirce abweicht, kann man einer Arbeit von Altenseuser entnehmen. Er will die Abduktion auch für die Didaktik des Mathematikunterrichts nutzen und erzählt zur Plausibilisierung folgendes Beispiel für abduktives Folgern: ein Mathematiklehrer äußert demnach gegenüber seinen Schülern, er habe ein Problem. Er wisse zwar, dass 200 ein Fünftel von Etwas sei, aber er wisse nicht, wie groß denn dieses ganze Etwas sei. Wahrscheinlich hat der Lehrer kein wirkliches Problem, und alle, für die die Bruchrechnung zu den leichteren Übungen gehört, werden auch keine ernsthaften Schwierigkeiten haben, die richtige Lösung zu ermitteln. Die hier interessierende Frage ist, ob jemand, die die Lösung nicht, jedoch die Transformationsregeln der Mathematik kennt und regelgerecht anwendet und auf diesem Wege zu der Zahl 1000 kommt, abduktiv gefolgert hat. Aus meiner Sicht liegt hier keineswegs eine Abduktion vor, da (a) die Lösung ausschließlich durch exakt beschreibbare Transformationsprozessen ermittelt und (b) von dem Löser der Aufgabe nichts Neues hinzu getan wurde. Es wäre geradezu war absurd, für diesen. Fall behaupten zu wollen, der Schüler habe abduktiv gefolgert (vgl. dagegen Altenseuser 2000: 11). Der gedankliche Prozess, der von ‚200‘ = ein Fünftel zu der Lösung ‚1000‘ führt, entspricht einer tautologischen Umformung in der Form einer Deduktion. Abduktives ist hier nirgends zu sehen.

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  41. „Das Problem der abduktiven Abduktion ist weit davon entfernt, in der künstlichen Intelligenz gelöst zu sein. Das Problematische ist, dass der beobachtete Fall den einzigen Ausgangspunkt darstellt. In all diesen Fällen muss zusätzlich zum Fall auch die Wissensregel noch gefolgert werden. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es keine Methode in der künstlichen Intelligenz, welche dieses Problem auf angemessene Weise lösen kann — wenn es sich überhaupt lösen lässt” (van der Lubbe 2000: 263). Siehe zu dieser Debatte auch Reichertz 1991a: 89–95 und 1994.

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  42. Es ist viel zu unspezifisch, wenn Eco wiederholt betont, dass jede Interpretation, jede Decodierung eine Abduktion darstellt — zur Kritik dieses Codemodells von Verstehen siehe Wirth 2000a: 134ff. Die Frage ist, was wir wissen und was wir können müssen, um den Anderen bzw. Texte von Anderen zu verstehen. Die klassische Antwort war und ist, dass nur dann ein Verstehen zustande kommt, wenn die Beteiligten über ein gemeinsames Regelwissen verfügen. Entscheidend ist nun, was passiert, wenn die Beteiligten nicht über ein gemeinsames Regelwissen verfügen. In diesem Fall müssen in einem Prozess des offenen Aufeinanderabstimmens die Regeln erschlossen werden und nur in diesem Falle, also in dem Falle, dass die Regeln erschlossen werden müssen, um zu verstehen, haben wir es mit einer wirklichen Abduktion zu tun, denn jetzt ist „nicht mehr das wechselseitige Kennen des Kodes die notwendige Voraussetzung des Verstehens, sondern die Fähigkeit, die Kodes des anderen im Rahmen des Interpretationsprozesses abduktiv zu erschließen” (Wirth 2000b: 156).

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  43. „Dummheit als mangelhaftes intellektuelles Vermögen dagegen beruht sowohl auf der Langsamkeit als auch auf der Unbeweglichkeit der Gedanken, zeigt mithin einen Mangel an Effektivität und Anpassungsfähigkeit” (Wirth 1999: 109).

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  44. Meine Deutung der Peirceschen Vorstellung vom ‚Neuen‘ wird gut illustriert durch einem Metalog, in dem ein Vater seiner Tochter auf die Frage: „Was ist ein Klischee?” u.a. folgendes antwortet: „Wir alle haben eine Menge fertiger Redewendungen und Vorstellungen, und der Drucker hat fertige Druckstöcke, die alle in Redewendungen angeordnet sind. Wenn aber der Drucker etwas Neues drucken will — sagen wir mal, irgendwas in einer neuen Sprache, dann muß er die alte Ordnung der Buchstaben aufbrechen” (Bateson 1983: 47) Im Übrigen arbeitet auch die von Peirce gebrauchte Metapher von dem Weg zur Diamantenmine mit dem Argument, dass Neues immer anschlussfähig sein muss.

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Reichertz, J. (2003). Die Besonderheit der Abduktion — Ch. S. Peirce und darüber hinaus. In: Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung. Qualitative Sozialforschung, vol 13. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09669-6_2

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