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Wandel der Fremd- und Selbstkontrollen in westeuropäischen Stadt- und Staatenbildungsprozessen

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Book cover Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität?

Part of the book series: . Schriften zur Zivilisations- und Prozeßtheorie ((FIG,volume 4))

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Zusammenfassung

Nach Duerr hat es in westeuropäischen Gesellschaften vom Mittelalter bis zur Gegenwart keinen Prozess gegeben, der sich als Zivilisierung im Sinne von Elias beschreiben ließe. Die langfristigen Prozesse der Verstädterung und Verstaatlichung, die nach Elias stabilere Selbststeuerungsmuster hervorbringen, macht Duerr umgekehrt gerade für die Schwächung der Sozial- und Selbstkontrollen, für Entzivilisierungsschübe, verantwortlich.

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Literatur

  1. Diesen Gedanken greift Huppertz (1986) auf und untersucht Städteentwicklung am deutschen Beispiel in der Zeit vom Mittelalter bis in die Gegenwart im Zusammenhang mit Veränderungsprozessen der gesamtgesellschaftlichen Machtbalancen als spezifischen Teilprozess umfassender Staatenbildungsprozesse. I-herbei lässt er Elias’ Psychogenese-Konzept allerdings weitgehend unbeachtet, weshalb seine Forschungen eher einen Beitrag zu einer „politischen Soziologie der Stadt“ (Huppertz 1986: 29) leisten.

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  2. Streng genommen kann die Kategorie „Freizeit“ noch nicht auf die Zeit des Mittelalters und der frühen Neuzeit angewendet werden. Arbeit und Freizeit ebenso wie Offentlichkeit und Privatheit sind in mittelalterlichen Sozialeinheiten, wie auch an der Architektur ersichtlich, nicht so stark geschieden wie im Leben berufsbürgerlicher Menschen in modernen Industriegesellschaften (Bahrdt 1969: 98ff). Der Arbeitsplatz ist räumlich noch kaum vom Ort der „Freizeit” getrennt; spezielle Gebäude für Freizeitvergnügungen (Lustgärten, Theater, Opernhäuser) gibt es noch nicht, — abgesehen vom Wirtshaus, das freilich im Mittelalter nicht nur Ort geselligen Beisammenseins, von Trunk, Spiel und Tanz, sondern zugleich Geschäftszentrum und Mittelpunkt wirtschaftlicher Aktivitäten ist (Muchembled 1990: 188ff).

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  3. Dabei bekommt das städtische Zunftwesen in Deutschland einen viel maßgeblicheren Einfluss als in England oder Frankreich und wirkt bis in die Gegenwart hinein mentalitätsprägend im Sinne eines ldeinbürgerlich-obrigkeitsgläubigen Provinzialismus und intoleranten Konformismus (vgl. Zinn 1989: 258ff). Seinen symbolischen Ausdruck findet dies in der im 17. Jahrhundert aufkommenden Figur des „deutschen Spießers“, des studentischen Spottnamens für die bewaffneten kleinbürgerlichen Städter.

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  4. Die schon Durkheim vertretene These vom Zusammenhang zwischen Individualisierung und Gewaltreduzierung belegt S. Karstedt (2001: 236ff) für die Gegenwart anhand des Vergleiches von Mordraten in unterschiedlichen Ländern. Danach weisen Gesellschaften mit individuellen Wertorientierungen im Vergleich zu Gesellschaften mit kollektiven Wertbezügen deutlich höhere Tötungsraten auf.

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  5. Entzivilisierungstendenzen im Zuge der Technisierung des Transportverkehrs zeigen sich in der Vergrößerung des Schadens und der Zunahme von Toten bei Verkehrsunfällen je nach Zivilisierungsgrad einer Staatsgesellschaft in unterschiedlicher Weise. Die relativ hohe Rate der im Straßenverkehr getöteten Menschen scheint zumindest in Westeuropa und den USA seit den 1950er Jahren in Relation zur Zahl der Verkehrsmittel langfristig eher zurückzugehen, was auf Zivilisierungstendenzen verweist (vgl. Elias 1995: 21ff). Dagegen weist die seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zunehmende Gewalt im städtischen Straßenverkehr in eine andere Richtung, auf Zusammenhänge zwischen Technisierung und Entzivilisierung. Sie resultiert aus der Zunahme situativer Konstellationen, in denen vor allem junge, beruflich wenig qualifizierte Männer infolge des erhöhten Verkehrsaufkommens, der erzwungenen Verlangsamung des Verkehrsflusses und der Knappheit des zur Verfügung stehenden Verkehrsraums emotions-geladene territoriale Macht-und Rangordnungskonflikte ausfechten (vgl. Eisner 1997: 253ff). Diese jüngeren Entzivilisierungstendenzen im städtischen Straßenverkehr konzentrieren sich auf motorisierte Verkehrsteilnehmer, die durch die hohe Geschwindigkeit der Fahrzeuge für andere, machtschwächere Verkehrsteilnehmer ( Fußgänger, Radfahrer) eine physische Bedrohung darstellen und von daher in besonderem Maße Emotionen wecken und die Selbstkontrolle brüchig werden lassen.

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  6. Die spezifisch großstädtische Verbindung zwischen physischer Nähe und emotionaler Distanz, die anonyme Bewegung zwischen vielen fremden Menschen und das öffentliche Spiel der Blicke in der Stadt weckt stets auch erotisch-lustvolle Erregungen und Phantasien (zur Verbindung von Urbanität und Sexualität vgl. Bech 1995 ). Nicht zufällig bilden sich in den Städten spezifische Sub-/Spezialkulturen um sexuelle Vorlieben wie die l-lomosexuellenSzene, die SM-Szene etc. heraus.

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  7. Zum Wandel des Visuellen und zur Entstehung des distanzierten Blicks vgl. Kleinspehn (1989). Im abendländischen Zivilisationsprozess gewinnt das Sehen gegenüber den anderen Sinnen nach Kleinspehn bereits seit der Frühen Neuzeit eine überragende Bedeutung. Elias (1976a: 280) weist darauf hin, dass sich im 20. Jahrhundert aggressive Impulse vor allem im Zusehen bei sportlichen Wettkämpfen, im Theater oder im Kino äußern. Was zuvor „als aktive, oft aggressive Lustäußerung“ auftritt, verwandelt sich in die „passivere, gesittetere Lust am Zusehen, also in eine bloße Augenlust”.

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  8. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett interpretiert die gegenwärtigen Entwicklungstendenzen kulturkritisch als „Tyrannei der Intimität“. Mit dem Verfall der (bürgerlichen) Óffentlichkeit seit dem Niedergang des Ancien régime, der Herausbildung einer industriekapitalistischen, säkularen, städtischen Kultur und dem sozialen Aufstieg bürokratischer Mittelklassen im 20. Jahrhundert gehe ein narzisstisch-destruktiver Zwang zu reiner Selbstoffenbarung und Aufdeckung des Innenlebens einher. Aus zivilisationstheoretischer Perspektive unterzieht Kuzmics (1989: 143ff, 181 ff; vgl. de Swam 1991: 189ff) Sennetts Entwurf einer,;Tyrannei der Intimität” und weitere kulturkritische Theorien zur „Pathologie der Individualisierung“ in berufsbürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts einer differenzierten Kritik.

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  9. Gegen die weitverbreitete Annahme kritischer Medientheoretiker, dass das Fernsehen die Alltagswirklichkeit immer mehr bestimme, betont A. Keppler (1994) den fundamentalen Unterschied zwischen Fernseh-und Alltagswirklichkeit sowie die Eigendynamik und Resistenz lebensweltlicher Erfahrung und Praxis. Ohne diese Differenz wären die neuen medialen Unterhaltungsformen überhaupt nicht denkbar. Femseh-Shows leben gerade von der Eigengesetzlichkeit des sozialen Lebens. Daher ist kaum zu befürchten, dass die in Medien verbreiteten Verhaltensmuster zum normativen Modell allen menschlichen Verhaltens werden.

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  10. Dies zeigt sich bereits bei lebensreformerischen Körper-, Nacktkultur-und FKK-Bewegungen gegen Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Diese versuchten den Körper von der künstlichen Einschnürung durch zivilisatorische Zwänge zu befreien. Ihr erklärtes Ziel war es, „den übersteigerten Reizzustand der Sinne auf ein ‘natürliches“ Maß zu reduzieren, ohne dabei allerdings das Triebleben der Menschen zu entfesseln”, d.h. die „Rückkehr zur Natur“ soll über „Leibeszucht” und Entsexualisierung der Körper erreicht werden (Klein 1994: 139f; dazu näher O. König 1990: 144ff).

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  11. Nach Schmidt (1998: 87f, 99ff) hat die Forderung nach zärtlich-friedfertiger Sexualität und die Tabuisierung aggressiver Anteile von Sexualität das Schwinden von Erotik und Leidenschaft und das Aufkommen von sexueller Langeweile in den 1990er Jahren befördert In dieser Perspektive verkümmert das sexuelle Begehren ohne die Dynamisierung des Sexuellen durch nichtsexuelle (aggressive) Affekte — zweifellos eine nicht unproblematische Sehweise, welche die Gemüter derjenigen erhitzen wird, die in der strikten Trennung von Gewalt und Sexualität einen zivilisatorischen Gewinn sehen.

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  12. Dabei kann das passive Zusehen in gewaltsame Aktivitäten umschlagen. Dies zeigt sich am Beispiel gewalttätiger Hooligans, die gerade den von männlicher Härte und Aggressivität geprägten Fußballsport attraktiv finden. Angespornt durch das kollektive Betrachten fußballerischer Zweikämpfé machen sie ihren eigenen aufgestauten Aggressionen am Rande des sportlichen Ereignisses Luft (vgl. Elias/Dunning 1986 ).

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  13. Dabei schafft die moderne Teamarbeit durch das Schwinden von Autorität eher die Fiktion von Kooperation und Konkurrenzlosigkeit und stärkt letztlich die Position des Managements. In ihrer „ohne den Anspruch der Autorität ausgeübten Macht“ (Sennett 1998: 156) erhalten Manager, die sich nun häufig Moderatoren, Vermittler oder Trainer nennen, mehr Spielräume und Handlungsfreiheiten, wobei sie ihr Handeln (etwa Entlassungen, Arbeitszeitverlängerungen, Lohnkürzungen) weniger rechtfertigen müssen und dafür weniger zur Verantwortung gezogen werden. Die Herausbildung eines solchen „Verschleierungsverhältnisses”, des Machtgewinns der Arbeitgeber gegenüber den Arbeitnehmern bei gleichzeitiger Verkehrung der realen Machtverhältnisse auf der symbolischen Ebene im Zuge der jüngsten Revolution der Informations-und Kommunikationstechnologien, verweist für Engler (1997: 219ff) gar auf einen „Dezivilisierungsprozeß der Arbeitsverhältnisse“. Dieser schlage sich nicht nur im Abbau sozialstaatlicher Leistungen, sondern auch in der „Brutalisierung des betrieblichen Alltags” und „unvermittelten Entlassungen“ nieder. Unterbelichtet bleibt hierbei, dass auch die machtschwächeren Arbeiter und Angestellten mehr Einflussmöglichkeiten, Rechte und Verantwortung erhalten, etwa im Hinblick auf Organisation und Arbeitsablauf, und nicht mehr so stark Zwängen zu bedingungslosem Gehorsam ausgesetzt sind.

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  14. Gerhard Vowinckel (1983) konfrontiert Elias’ “Zivilisationstheorie mit der Beobachtung, dass höfische Zivilisierung stärker den Charakter bewusster Selbststeuerung, bürgerliche Zivilisierung hingegen eher den Charakter unbewusster Über-Ich-Steuerung aufweist. Daraus zieht er den Schluss, dass Zivilisierung, gemessen am Kriterium der Psychologisierung und Rationalisierung, im Zuge des Übergangs von der adlig-höfischen zu bürgerlichen Gesellschaft nicht fortgeschritten ist. Ausgehend von dieser Kritik verwirft er psychoanalytische Begrifflichkeiten zur Erklärung sozialer Organisationsformen der Moral und stützt sich statt dessen auf entwicklungspsychologische Theorien und Begriffe von J. Piaget und L. Kohlberg zur Moralentwicklung (Vowinckel 1983: 196ff). Das von Waldhoff vorgeschlagene psychoanalytisch ausdifferenzierte Modell unterschiedlicher Zivilisierungsphasen könnte hingegen derartige Unstimmigkeiten auflösen. Die Phase „ich-zentrierter”, „reflexiver“ Zivilisierung in Waldhoffs Abfolgemodell entspricht weitgehend der postkonventionellen Stufe gesellschaftsübergreifender, reflexiver Moral in Kohlbergs Schema der Moralentwicklung.

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Hinz, M. (2002). Wandel der Fremd- und Selbstkontrollen in westeuropäischen Stadt- und Staatenbildungsprozessen. In: Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität?. Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozeßtheorie, vol 4. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09646-7_7

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-09646-7_7

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-8100-3398-7

  • Online ISBN: 978-3-663-09646-7

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