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Eine „staatslose Gesellschaft“ in zivilisationstheoretischer Perspektive: Die Inuit/Eskimo

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Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität?

Part of the book series: . Schriften zur Zivilisations- und Prozeßtheorie ((FIG,volume 4))

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Zusammenfassung

Zur Widerlegung von Elias′ Zivilisationstheorie trägt Duerr vielfältige Belege dafür zusammen, dass auch in „traditionalen“, überschaubaren Face-to-face-Sozialeinheiten ohne staatliches Gewaltmonopol außerordentlich hohe Trieb- und Affektkontrollen, Scham- und Peinlichkeitsgefühle, vorherrschen. Diese werden nach Duerr durch persönliche, umfassende und allgegenwärtige Überwachung gewährleistet. Tatsächlich widerlegt der Nachweis, dass in „staatslosen“ Gesellschaften hohe Fremd- und Selbstkontrollen existieren, Elias′ These von der zivilisatorischen Bedeutung von Staatenbildungsprozessen in Frankreich/Westeuropa nicht. Vielmehr wird dadurch nur eine simplifizierte Fassung von Elias′ Zivilisationstheorie im Sinne einer kontinuierlichen Zunahme von Scham- und Peinlichkeitsgefühlen und ihre ungeprüfte, verabsolutierende Übertragung auf andere Kulturen und Zeiten infrage gestellt.

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Literatur

  1. Ein zentrales methodisches Problem des Versuchs, die Inuit in zivilisationstheoretischer Perspektive zu untersuchen, liegt in der unsicheren empirischen Basis für die Untersuchung von Wandlungsprozessen. Wie bei den meisten schriftlosen Kulturen gibt es keine schriftlichen „Quellen“, in denen langfristige soziale Entwicklungsprozesse vor dem Kontakt mit der westlichen Zivilisation festgehalten sind. Daher ist es nur möglich, ein Bild vom Leben der Inuit in ihrer traditionellen Phase aufgrund von Beobachtungen zu konstruieren,die westliche Entdecker und Forscher zu unterschiedlichen Zeiten und aus unterschiedlichen soziokulturellen Perspektiven und Interessenlagen heraus angestellt haben. Dadurch geht bei der Untersuchung der Inuit, zumindest für die Zeit vor der Begegnung mit Westeuropäern, die prozessuale Perspektive der Zivilisationstheorie zwangsläufig verloren. Auch müsste man sich intensiver, als es hier möglich ist, mit der spezifischen sozial-und zeitgebundenen Interessenlage der westlichen Beobachter auseinandersetzen, um Einseitigkeiten und Vorurteile zu vermeiden.

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  2. Obwohl es die Inuit als zusammenhängende Sozialeinheit nicht gibt, sondern nur einzelne geschlossene, weit verstreute Kleingruppen mit flüchtigen Kontakten untereinander (Hoebel 1968: 89), unterscheide ich hier nicht näher zwischen einzelnen Gruppen [eine Aufzählung der regionalen Hauptgruppen findet sich bei Birket-Smith (1948: 288ff) oder Hultkrantz (1962: 359f)]. Dies rechtfertigt sich aus den Gemeinsamkeiten unterschiedlicher Inuit-Gruppen: relativ große Abhängigkeit von „natürlichen“ Gegebenheiten, ähnliche Sozialorganisation, Jagd-und Wirtschaftsweise, verwandte Sprachen (es gibt zwei vorherrschende Sprachen mit verschiedenen Dialekten). Alle Inuit-Gruppen sind ethnisch, sprachlich und kulturell eng miteinander verwandt (Lindig 1972: 125).

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  3. Die erstmals 1927 in dänischer Sprache erschienene „Eskimo“-Monographie von BirketSmith, die auf Expeditionen in arktischen Regionen aus den 1920er Jahren beruht, ist nach wie vor anregend und bietet einen reichhaltigen Fundus an Material und Einsichten, auf den hier immer wieder zurückgegriffen wird. Dabei ist es notwendig, den zeitlich-kulturellen Entstehungshintergrund dieser grundlegenden Studie zu reflektieren und sie von zeitbedingten Begriffhchkeiten, impliziten und expliziten Werturteilen und ihrem Verhaftetsein an inzwischen überholten theoretischen Diskursen zu befreien. Im Rahmen soziokultureller Bedingtheiten gelingt es Birket-Smith allerdings, ein ausgewogenes, von Verständnis und Mitgefühl getragenes Bild der Inuit zu entwerfen, das auch Schattenseiten nicht verschweigt.

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  4. Die Anwendung von Piagets Entwicklungspsychologie auf Problemfelder des „primitiven Denkens“ ermöglicht nach Hallpike (1985), verallgemeinernde Gegensätze zwischen „wissenschaftlichem” und „primitivem“ Denken zu überwinden. Es gibt eine Kontinuität zwischen dem „primitiven” und unserem Denken, insofern „jede spätere Stufe des Denkens eine Rekonstruktion der früheren Stufe mit einem höheren Grad von begrifflicher Beweglichkeit, Allgemeinheit und umfassender Ausgewogenheit [impliziert, M.H.]; diese früheren Stufen des Denkens sind im Subjekt noch immer vorhanden und können bei ungewohnten Problemen wieder aktualisiert oder in kognitiv weniger anspruchsvollen Situationen wieder hervorgekehrt werden“ (Hallpike 1985: 51). Die auf Piagets Entwicklungsmodell basierende kulturvergleichende Psychologie vermag gegen kulturrelativistische und universalistische Annahmen Gleichheit und Unterschiede von Menschen auf unterschiedlichen Zivilisierungsphasen und/oder -stufen zu belegen.

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  5. Die Tötung weiblicher Neugeborener und die sich am Frauentausch manifestierende krasse Geschlechterdichotomie bei den Inuit wird in neueren ethnologischen Studien, vor allem durch die vermehrte Beteiligung von Forscherinnen am Forschungsprozess, in Zweifel gezogen (vgl. E. W. Müller 1989 ). Demnach hätten sich männliche Forscher in früheren Studien von ihrer (unbewussten) Voreingenommenheit zugunsten ihrer Geschlechtsgenossen leiten lassen; mit der Folge, dass ihnen subtilere Aspekte der Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern, die Machtchancen der Frauen, entgangen seien. So sei nicht bekannt, in welchem Maße Frauen auf die Entscheidung, an welchen Mann sie „ausgeliehen“ werden, Einfluss genommen haben. Ungeachtet dieser Relativierungsversuche bleibt die Realität von Machtunterschieden zwischen den Geschlechtern, die sich in der Praxis des Frauentausches widerspiegelnde Machtüberlegenheit der Männer über Frauen, bestehen.

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  6. Derartige Beobachtungen zu verschweigen, nützt weder der menschlichen Würde ehemals kolonisierter Kulturen noch dem wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt. Wie alle Tiere sind auch Menschen gezwungen zu essen. Dabei nimmt diese animalische Eigenschaft unterschiedliche Formen an, je nachdem, in welchem Stadium zivilisatorischer Prozesse sich Menschengruppen befinden. Die Feststellung, dass die Essstandards der Inuit denjenigen von fieren in bestimmten Situationen noch relativ nahe stehen, dient nicht dazu, die Inuit menschlich-moralisch herabzusetzen, sondern dazu aufzuzeigen, dass ihre sozial-ökologischen Lebensbedingungen in der Arktis eine Verfeinerung und Ausdifferenzierung der Esssitten nicht begünstigen.

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  7. Im Falle der Inuit widerspricht ihre ethnozentrische Überzeugung, die eigene Gruppe und Lebensweise für die einzig richtige, beste oder sogar einzig menschliche (inuit = Menschen) zu halten, nicht der Wirksamkeit von Machtunterlegenheitsgefühlen. So „fürchten die NetsilikEskimo die Macht der Europäer, deren technische Hilfsquellen sie für unerschöpflich halten, die sie aber trotzdem als minderwertig ansehen“ (Mühlmann 1940: 41).

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  8. Die Kulturanthropologin Meyer-Palmedo hat 1985 eine „Figurations-Analyse“ zu den Wandlungen des Lebens in einem abgelegenen hessischen Dorf im Zuge der Erfassung durch im 19. Jahrhundert einsetzende Industrialisierungsschübe vorgelegt. Darin schildert sie soziale Wandlungsprozesse von einem ganzheitlichen Lebenszusammenhang mit engen und direkten Sozialbindungen, „persönlich-konkreten” Gegenseitigkeiten und Abhängigkeiten hin zur komplexen und arbeitsteiligen Industriegesellschaft mit ihren weitreichenden Verflechtungen, in denen die Menschen einander „anonym-abstrakt“ und vereinzelt als „sachbezogene Teilaspekte von sich” und in „jeweils erwarteten ‘Rollen“” begegnen (Meyer-Palmedo 1985: 1681f). Im Kern wird hier die Argumentation vorweggenommen, die Duerr später zur Falsifizierung von Elias’ Zivilisationstheorie vorbringt. Allerdings hat Meyer-Palmedo ihre Studie nicht als Widerlegung,sondern als Anwendung von Elias’ Prozesssoziologie verstanden und sich dabei auf Elias’ eigene Arbeiten zu Fremd-und Selbstkontrollen in dörflich-gemeindlichen Zusammenhängen bezogen (vgl. Elias 1974; Elias/Scotson 1990). Trotz der augenfälligen Übereinstimmung in der Argumentation zitiert Duerr Meyer-Palmedos Arbeit in den „Mythos-Bänden“ nicht.

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Hinz, M. (2002). Eine „staatslose Gesellschaft“ in zivilisationstheoretischer Perspektive: Die Inuit/Eskimo. In: Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität?. Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozeßtheorie, vol 4. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09646-7_6

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-09646-7_6

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-8100-3398-7

  • Online ISBN: 978-3-663-09646-7

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