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Vergleich des wissenschaftlichen Verfahrens von Elias und Duerr

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Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität?

Part of the book series: . Schriften zur Zivilisations- und Prozeßtheorie ((FIG,volume 4))

  • 273 Accesses

Zusammenfassung

Um einen Vergleichsmaßstab für die Diskussion der empirisch-theoretischen Kritikpunkte Duerrs an Elias′ Zivilisationstheorie zu entwickeln, vergleiche ich zunächst ihre wissenschaftliche Fragestellung und Zielsetzung, ihren Umgang mit Daten, ihre Position zum Verhältnis von Theorie und Empirie sowie ihre Menschenbilder. Als philosophisch geschulter Ethnologe geht Duerr von anderen Prämissen als Elias aus, der sich als Soziologe oder gar „Menschenwissenschaftler“ versteht. Beide repräsentieren zwei unterschiedliche, einander teilweise entgegenstehende Wissenschaftsauffassungen.

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Literatur

  1. Merkwürdigerweise bezieht sich Duerr bei seinen Überlegungen zur sozialen Nützlichkeit von Körperscham in seinem ersten Band „Nacktheit und Scham“ (1988) nicht auf Max Scheler. Auch in seiner „’Theorie” der Körperscham“ im zweiten „Mythos-Band” bringt Duerr (1990: 471) keine Gemeinsamkeiten zwischen seiner und Schelers Auffassung des „Wesens“ der Scham zum Ausdruck. Dass ihm Schelers Abhandlung „über Scham und Schamgefühl” zu diesem Zeitpunkt bekannt war, belegt die Tatsache, dass er sie zehn Jahre zuvor in der „Traumzeit“ (1978: 399) zitiert.

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  2. Der Hinweis von Duerr (1988a: 18f), dass im klassischen Griechenland die Männer bei athletischen Übungen die Vorhaut des Penis mit einer Schnur zusammenbanden, um die nackte Eichel zu bedecken, also durchaus Schamgefühle in bezug auf körperliche Nacktheit kannten, widerlegt nicht die These von der Hochschätzung des männlichen nackten Korpers in der griechischen Antike. Anders als Duerr, der das Verhältnis zur Nacktheit in der griechischen Antike eindimensional auf das Wesen des Menschen zurückführt, interpretiert der I listoriker Thommen (1996) den sich wandelnden Umgang reit Nacktheit im Zuge des Aufstiegs der griechischen Polis kritisch im Rahmen von Elias’ Zivilisationstheorie.

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  3. Der von Duerr angeführte Ausspruch von W. Müller (1981: 606) entstammt dessen Rezension der „Traumzeit“ und bezieht sich auf ihren Autor: „Er [Duerr; M. 11.1 besitzt jenes ‘Verstehen’, das keine universitäre Bildung vermittelt, das vielmehr in einer persönlichen Veranlagung wurzelt. Zum Ethnologen wird man eben geboren.”

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  4. Elias bezieht sich damit auf das Buch „Conditio humana“ von Helmuth Plessner, einem der prominentesten Vertreter der Philosophischen Anthropologie.

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  5. Rehberg (2002) hat dargelegt, dass die Philosophische Anthropologie H. Plessners deutliche Parallelen zu Elias’ implizitem Menschenbild aufweist. Durch die Verbindung von Elias“ Zivilisationstheorie mit Plessners Anthropologie löst sich Duerrs Fundamentalkritik als „falsche Alternative zwischen Universalität und Einmaligkeit” auf (Rehberg 2002: 234 ).

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  6. Der Vorstellung des Mittelalters als einer Zeit geradezu hemmungsloser Gewaltbereitschaft hält Gerd Althoff (1997: 124f, 260ff, 287; vgl. Dinges 1998: 176ff, 187ff; Schwerhoff 1998: 582ff) entgegen, dass in der europäisch-mittelalterlichen Feudalgesellschaft zwar die Schwelle zur Anwendung physischer Gewalt sehr niedrig gewesen sein mag, aber die Anwendung von Waffengewalt in kontrollierte Bahnen gelenkt und durch ein ganzes Netzwerk ungeschriebener, allerdings ausgesprochen rationaler und verbindlicher „Spielregeln“ zur wirksamen Konfliktvermeidung, -austragung und -beendigung begrenzt worden sei. Diese Mechanismen, die Rechtsethnologen/-soziologen ähnlich auch in außereuropäischen „primitiven” Kulturen vorgefunden und beschrieben hätten, seien bisher von der Geschichtsschreibung zu wenig beachtet worden. Auch sei die vermeintlich ungezügelte Außerung von Emotionen besser als ritualisierte „demonstrativ hervorgekehrte Emotionalität“ im Dienste der Ordnungsstabilisierung und Konfliktvermeidung zu verstehen, da die Emotionen in Wirklichkeit eindeutige und unmissverständliche Signale aussendeten und somit wesentlicher Bestandteil des öffentlichen Kommunikationsstils in einer waffentragenden und extrem rangorientierten Gesellschaft ohne Gewaltmonopol gewesen seien, einer Verständigungsweise, die insgesamt mehr durch Demonstration und Inszenierung als durch Argumentation geprägt ist. Wenn Historiker wie Althoff oder Dinges bei ihren mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Beispielen immer wieder auf den Zweckcharakter und die soziale Funktion der nur scheinbar ungezügelten Äußerung von Emotionen zur Ordnungswahrung verweisen, stellt sich freilich die Frage, ob dies Elias’ Zivilisierungstheorie wirklich so sehr widerspricht oder ob dieser Gesichtspunkt nicht auch in diese sinnvoll integriert werden könnte. Immerhin ist der Befund der Emotionalisierung der öffentlichen Kommunikation im Mittelalter durchaus vereinbar mit Elias’ These, dass dem Zeigen und Ausleben von Affekten im Mittelalter erheblich mehr Raum als in modemen Staatsgesellschaften zugestanden wird. Auch Kritiker wie Dinges (1998: 189) kommen letztlich nicht umhin einzuräumen, dass sich mittelalterlich-frühneuzeitliche Gesellschaften in Europa gerade durch die „positiveren Erwartungen an Gewalt” auszeichnen, also durch eine höhere Wertschätzung und soziale Akzeptanz physischer Gewalt. Es ist zu bezweifeln, ob Emotionen im Mittelalter, nur weil sie bestimmte Funktionen erfüllen, auch selbstkontrolliert ausgelebt werden. Mit einer derartigen Annahme verschließt sich Althoff der psychischen Erlebnisebene von Menschen, die in seine Zivilisierungstheorie integriert zu haben gerade Elias’ Originalität in den 1930er Jahren ausmacht. Gebärdenreiche, lautstarke Wehklagen und tränenreiche, bittende Fußfälle und Unterwerfungsgesten, so sehr sie auch ritualisiert sein mögen, bleiben lebendig-temperamentvolle, emotions-und körpernahe Ausdrucksformen, die zu zeigen nicht wenige Menschen in westlichen Staatsgesellschaften gegen Ende des 20. Jahrhunderts — selbst wenn es zweckdienlich wäre — psychisch zu sehr gehemmt sind. der besonderen Züge des Spätmittelalters wird bei Elias zum Bild der Normalität dieser Zeit“ (Marx 1996: 291).

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  7. Anhand neuerer historisch-empirischer Erkenntnisse unterzieht der niederländische I Iistoriker Jeroen Duindam (1995) Elias’ „Höfische Gesellschaft“ einer kritischen Prüfung und macht dabei auf empirische Schwachstellen und Einseitigkeiten von Elias’ Sehweise des französischen Hofes aufmerksam. Danach ist Elias auf den „Mythos” des Hofes Ludwigs XIV. fixiert, stellt die Machtposition Ludwigs XIV. übersteigert dar und übertreibt den Gegensatz zwischen adligen und bürgerlichen Schichten am französischen Hof. Eine kritische Zwischenbilanz zur Zivilisationstheorie im Kontext weiterer neuerer historischer Forschungen legt Schwerhoff (1998) vor.

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  8. So führt Duerr ( 1993a: 636) eine nicht weiter benannte Studie der Frauenzeitschrift „Brigitte“ als Beleg für die Angst von Frauen vor nächtlichen Oberfällen gegen de Swaans These an, dass der Bewegungsspielraum insbesondere von Frauen gegen Ende des 20. Jahrhunderts etwa im sexuellen Verkehr größer geworden sei. An anderer Stelle wird Bukowski nach Sekundär-

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  9. Trotz stilistischer, methodischer und theoretischer Bedenken folgen viele Historiker Duerr hinsichtlich seiner empirischen Kritik an Elias’ Zivilisierungstheorie (vgl. van Dülmen 1991; Burke 1991; Jütte 1991, 1993; Brandt 1991; Heinzle 1994; Marx 1996; Thommen 1996; Dinges 1998; Schwerhoff 1998). Auf der Seite von Elias stehen dagegen Maurer (1989), Jerouschek (1990) und Roeck (1991).

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  10. Die wenigen deutschsprachigen Ethnologen, die zur Elias-Duerr-Kontroverse öffentlich Stellung bezogen haben, folgen Duerrs empirischer Kritik an Elias’ Zivilisierungstheorie, so der Kulturanthropologe Girtler (1990) oder die Ethnosoziologin Bleibtreu-Ehrenberg (1991). Schlicht von einer „Widerlegung“ der Eliasschen Zivilisationstheorie durch Duerr spricht der anonyme Autor der Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (1989, Bd. 10: 89; 1994, Bd. 15: 101). Skeptischer, wenngleich Duerrs empirischer Kritik gegen Elias zustimmend, beurteilen der Ethnosoziologe Kößler (1988) und der Ethnologe K.-H. Kohl (1997) Duerrs Elias-Kritik. Nach Fritz Kramer (Brief an den Verfasser vom 10.01.1997) schließen sich „vom Material her” wohl die meisten Ethnologen Duerr an. Aus volkskundlicher Sicht weist dagegen Happe (1989) Duerrs Kritik an Elias zurück.

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  11. Diesen Ausspruch Lichtenbergs bezieht Jütte (1993: 13) auf Duerrs „Schwerarbeit am Mythos“. Eine pikante Note erhält dies dadurch, dass sich Duerr (1993a) selbst der bissigen Aphorismen Lichtenbergs gern bedient, um sie gegen andere zu wenden. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, betont Jütte daher sogleich, dass er in der Elias-DuerrKontroverse „bislang eher auf seiten Duerrs” stehe.

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  12. Die Art und Weise, in der Macho die Metapher von bösen Jägern und guten Sammlern verwendet, bestätigt paradoxerweise Elias’ Zivihsierungstheorie. Sie setzt eine Tabuisierung und Stigmatisierung der „Fleischfresser“ (bis hin zur Besetzung mit Ekelgefühlen nicht bloß des Schlachtens von Tieren, sondern auch des Fleischverzehrs) voraus, die spätere Phasen von Zivilisierungsprozessen in Westeuropa charakterisiert.

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  13. Zu Übereinstimmungen zwischen Elias’ historisch-soziologischem Zivilisierungsmodell und Hobbes’ politischer Philosophie des großen „Leviathan“ vgl. Petermann (1982) und kritisch H. König (1992a: 26ff).

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  14. In dem unveröffentlichten Text „Ober das Verhältnis der Zivilisationstheorie zu Freuds Kulturtheorie“ würdigt Elias (Literaturarchiv Marbach, Nachlass Elias, Schröter MISC - D - XXIII) S. Freud als einen „der ganz großen wissenschaftlichen Innovatoren unserer Zeit”. Bei allen Übereinstimmungen zwischen Freud und Elias ergeben sich jedoch auch fundamentale Unterschiede: Gegen Freuds (1972) dualistische Entgegensetzung von Gesellschaft und Individuum, den metaphysischen Mythos von der Urhorde, die biologistische Annahme eines Aggressions-/Todestriebes und angeborener Schuldgefühle sowie die hohe Betonung der Versagung des Triebverlangens setzt Elias das Bild „offener Menschen“, die von Natur aus auf andere Menschen angewiesen und ausgerichtet sind, und betont das biologische Potential zum Erlernen von Triebkontrollen, also die Wandlungsfähigkeit der Psyche.

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  15. In diesem Punkt ähnelt Elias’ Position auffällig derjenigen seines Zeitgenossen Erich Fromm (1989: 89, 100): Wie Elias betrachtet dieser den Menschen von seiner Natur her „als ein primär auf andere bezogenes und ihrer bedürftiges Wesen“ und richtet sich gegen die Trennung zwischen Menschen als Einzelwesen und als gesellschaftliches Wesen. Diese Übereinstimmung im Menschenbild lässt sich biographisch unterstreichen. Elias und Fromm waren beide in ihrer Jugend in den 1920er Jahren in der zionistischen Jugendbewegung — in politisch unterschiedlich ausgerichteten Bünden — aktiv (Hackeschmidt 1997), haben Anfang der 1930er Jahre sozialwissenschaftlich in Frankfurt am Main gewirkt und stützen sich auf die Psychoanalyse. Fromm gehörte anfangs zum engeren Kreis der sog. Frankfurter Schule, die sich im Institut für Sozialforschung aufhielt; Elias war dem Kreis um K. Mannheim verbunden. Räumlich eng beieinander im selben Gebäude (des Instituts für Sozialforschung) angesiedelt, standen beide Kreise, verbunden durch Gesprächskanäle des universitären Verkehrskreises, in gespannter Konkurrenz zueinander (Elias/Lepenies 1977: 38f; Schivelbusch 1985: 19). Eine wesentliche Gemeinsamkeit von Fromm und Elias war ihr Bemühen, — wie Elias es in einem Brief vom 3. Juni 1938 an W. Benjamin formuliert — zu „zeigen, dass der Aufbau des Psychischen der gleichen Ordnung unterliegt” wie die „Ordnung, die Struktur, die Gesetzmässigkeit der gesellschaftlichen Veränderungen“ (zit. in: Schöttker 1996: 75). Obwohl Elias und Fromm einander niemals zitiert haben, dürften sie mit den Schriften des Anderen vertraut gewesen sein. Immerhin führt Elias in dem oben erwähnten Brief, worin er Benjamin um eine Rezension seines „Prozess-Buches” in der „Zeitschrift für Sozialforschung“ bittet, mehrfach den Namen Fromm an, als es um die Frage geht, wer seine Arbeit kompetent beurteilen könnte (Schöttker 1996: 66 ).

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  16. H. Korte (1991: 81, 1993: 20ff) vertritt die These, dass das Problem „gesellschaftlicher Zwänge“, denen der Einzelne ausgesetzt ist, sowohl in Elias’ Biographe als auch in seinen theoretischen Arbeiten im Mittelpunkt steht. Dagegen stellt M. Schröter (1997a: 2171f) die Einsicht in die „anthropologische Ausrichtung des Individuums auf Gesellschaft”, in die „naturbedingte Gesellschaftlichkeit“ von Menschen, ins Zentrum von Elias’ Denken. Dieser Streit dürfte sich prozessual durch die Erkenntnis auflösen lassen, dass sich der Focus von Elias’ Denken im laufe seines Wirkens von „sozialen Zwängen” hin zu „naturbedingter Gesellschaftlichkeit“ von Menschen verlagert hat.

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Hinz, M. (2002). Vergleich des wissenschaftlichen Verfahrens von Elias und Duerr. In: Der Zivilisationsprozess: Mythos oder Realität?. Figurationen. Schriften zur Zivilisations- und Prozeßtheorie, vol 4. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09646-7_3

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