Zusammenfassung
Die Soziologie hat einen neuen Brennpunkt: die Gemeinschaft. Man hat die Tatsache wiederentdeckt, daß Menschen nicht auskommen ohne eine bewußte soziale Integration, ohne „ethnokulturelle Wir-Gefühle“ (Hondrich), ohne kollektive Identität. Ist eine nationale Identifikation in Deutschland zulässig, darf „Corporate identity“ das Loch füllen? — die Diskussion läuft. Theoretisch führend ist eine Strömung in den USA, die sich nach dem englischen Wort für Gemeinschaft „Communitarianism“ nennt und eine überraschende Traditionsbewußtheit besitzt. Die Amerikaner koppeln sich vom universalen, kosmopolitischen Denken ab und besinnen sich auf die „Habits of the Hearts“, wie in einem soziologischen Bestseller die ihnen liebgewordenen, partikular-amerikanischen Gewohnheiten genannt wurden. „Right or wrong — my country“, so darf man in bezug auf kulturelle Inhalte wieder denken.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Preview
Unable to display preview. Download preview PDF.
Literatur
Karl Otto Hondrich, Wovon wir nichts wissen wollten.
Ferdinand Tönnies, Einführung in die Soziologie, S. 24.
Dabei entsteht ein sprachliches Problem: Wir verstehen unter Liberalismus etwas anderes als die Amerikaner. Wir verstehen ihn eher wirtschaftlich, eher als laissezfaire-Modell, das lediglich mit einem Nachtwächterstaat versehen ist, während im anglo-amerikanische Sprachgebrauch dabei an „demokratisch-rechtsstaatlich“ gedacht wird. Das Spannungsverhältnis, in dem bei uns die Begriffe „liberal” und „demokratisch“ stehen, tritt nicht auf. Für uns besteht insofern ein Spannungsverhältnis, als ein radikaldemokratischer Ansatz die Herrschaft der Gesellschaft über den Staat, oder noch deutlicher, die Ununterschiedenheit zwischen Staat und Gesellschaft im Auge hat, während der Liberalismus im Gegenteil eine Ausdifferenzierung des Staates bejaht, wobei der Staat aber möglichst im Hintergrund zu bleiben und lediglich „Feuerwehrfunktion” hat.
Jürgen Habermas, Einleitung zu: Stichworte zur „Geistigen Situation der Zeit“, S. 30, nannte die Erscheinung 1979 richtig „Kult der Unmittelbarkeit”, „Feier des Konkreten“.
Z.B. Axel Honneth, wenn er unter dem Titel „Posttraditionale Gemeinschaften“ spricht; Seyla Benhabib, Kritik, Norm und Utopie, S. 235.
Vgl. dazu Sibylle Tönnies, Der Dimorphismus der Wahrheit, Kapitel „Organismus und Artefakt“.
vgl. im 2. Kapitel II.1. Zu Hegels Substantialismus vgl. Karl-Otto Apel, Das Anliegen des anglo-amerikanischen „Kommunitarismus“ in der Sicht der Diskursethik, S. 161 und ders., Kann der postkantische Standpunkt der Moralität noch einmal in substantielle Sittlichkeit „aufgehoben” werden?, S. 103–153.
Ernst Bloch, Subjekt-Objekt, S. 252; vgl. auch Klaus Frerichs, Sitte, Gesetz und Bedeutung, Anm. 25: „Sobald man sich auf die Sitte beruft, um eine Handlung zu begründen, hat man die Domäne der Sitte bereits verlassen.“
Besonders deutlich wird dieses Vorgehen bei Axel Honneth, Posttraditionale Gemeinschaften, S. 260, 269. Kritisiert wird die Neigung, sich Gemeinschaft ohne das problematische Element der Macht zu denken, bei Hinrich Fink-Eitel, Gemeinschaft als Macht, S. 312. Fink-Eitel erfaßt diesen Gemeinschaftsbegriff richtig als „normativ-ethisch“ (S. 309) und sieht die darin liegende Schwäche.
Jean-François Lyotard, Der Widerstreit, S. 217.
Ortega y Gasset, Der Aufstand der Massen, S. 221.
Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, III § 19; wir haben uns mit diesem Gedanken schon im 9. Kapitel II.1. beschäftigt.
Die Konstellation ist belletristisch erfaßt bei Luciano De Crescenzo, der in seinem Buch (Also sprach Belavista. Neapel, Liebe und Freiheit) eine „Theorie der Liebe und der Freiheit“ entworfen hat, die sich auf Tönnies Dichotomie stützt und die untrennbare Assoziation von Gemeinschaft und Liebe, Gesellschaft und Freiheit feststellt, die Unmöglichkeit also, Freiheit in Gemeinschaft und Liebe in Gesellschaft zu erleben.
Ebenso Amy Gutmann, Die kommunitaristische Kritik des Liberalismus, S. 82.
Vgl. im 2. Kapitel IV.
Auch hier ist natürlich nicht von der praktischen Umsetzung dieser Werte die Rede, deren Mängel heute insbesondere von der feministischen Kritik am Universalismus mit Recht beklagt werden.
Alasdair MacIntyre, Whose Justice, Which Rationality, S. 1.
Jean-Jacques Rousseau, Das Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars, in: Emile, S. 589. Heute nimmt Martha C. Nussbaum, Menschliches Tun und soziale Gerechtigkeit, diesen Standpunkt ein, dient ihm aber nicht, indem sie ihn als „aristotelisch“ darstellt.
Maclntyre, Whose Justice, which Rationality? S. 6.
Vgl. im 7. Kapitel I.3.
Alasdair Maclntyre, Whose Justice, which Rationality? S. 346.
Vgl. dazu Sibylle Tönnies, Der Kater des Dionysos, S. 215ff.
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, S. 208.
Vgl. dazu oben im 5. Kapitel IV. und Alasdair Maclntyre, Ist Patriotismus eine Tugend, S. 101f.; Michael Walzer, Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus, S. 180; Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst, Vorwort zu „Gemeinschaft und Gerechtigkeit“, S. 11.
Robert Bellah, Habits of the Heart, an zahllosen Stellen. Insofern ist die Hoffnung von Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst (a.a.O.) und Hans Joas, Gemeinschaft und Demokratie in den USA, nicht gerechtfertigt, daß die amerikanische Einfärbung der neuen Gemeinschaftsbezogenheit einen Ausweg aus deren Problematik zeigt. Es wird ja nicht nur der liberale Inhalt,sondern auch die antiliberale Denkform des Kommunitarismus auf uns übertragen.
Vgl. im 2. Kapitel III.
Der Unterschied zeigte sich bereits zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. „Die historische Rechtsromantik verherrlichte lediglich gewohnheitliche Rechtsfortbildung. Nach englisch-prinzipienlosem Muster, doch mit dem Unterschied, daß die englische Praxis, beim Entwicklungsgang in unzähligen, logisch undurchdrungenen precedents, immerhin auf dem Boden eines demokratischen common sense stehtchrw(133) Savigny dagegen, als er sich gegen den Plan eines einheitlichen Deutschen Privatrechts wandte, als er `durch stillwirkende Kräfte, nicht durch die Willkür des Gesetzgebers’ das Recht fortgebildet wissen wollte, stand nicht auf dem Boden der relativen Vernunft, als die der common sense erscheint oder gelten mag, sondern der sogenannten Gewachsenheit (ohne Magna Charta in sich).“ (Ernst Bloch, Naturrecht und menschliche Würde, S. 104f., Hervorhebung von mir.)
Vgl. dazu Sibylle Tönnies, Die konkrete Gemeinschaft.
Leo Frobenius, Vom Kulturreich des Festlandes, S. 17.
A.a.O. S. 7; die Bedeutung des römischen Weltreichs für diesen Prozeß haben wir im 3. Kapitel III. behandelt.
Laßt hundert Blumen blühen!“ war unter Mao zeitweise großchinesische Generalmaxime; wir haben diese Erscheinung schon im 5. Kapitel IV.1. erörtert.
Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, S. 76, unter Berufung auf Nietzsche.
Vgl. dazu im 11. Kapitel I.1.
Alasdair Maclntyre, After Virtue S. 261.
Vgl. Sibylle Tönnies, „Das für uns Gute“ gegen das „für alle Rechte”.
Man kann diese beiden Gerechtigkeitsformen als Ausformung der Archetypik „Weiblich-Männlich“ sehen; vgl. Sibylle Tönnies, Der Dimorphismus der Wahrheit, Kap. „Kommutativ-Distributiv” und dies., Das Recht und die Linke. Es ist schwer begreiflich, warum die rechtstheoretische Diskussion die grundlegende aristotelische Unterscheidung nicht aufgreift; besonders bei Michael Walzer, in dessen „Sphären der Gerechtigkeit“ die distributive Gerechtigkeit ein Zentralbegriff ist, wäre das am Platze. Vgl. auch U.K. Preuß (Politische Ordnungskonzepte für die Massengesellschaft, S. 345f.), der die Bifurkation beschreibt, aber nicht in ihrem klassischen Topos erfaßt und darum die traditionsreiche Auseinandersetzung nicht einbeziehen kann.
Jean-François Lyotard, Der Widerstreit.
Das Problem wird berührt bei Micha Brumlik und Hauke Brunkhorst, Vorwort S. 10 und Gérard Raulet, Die Modernität der „Gemeinschaft“, S. 81.
J.L. Talmon, Politischer Messianismus, S. 34.
Dazu steht das oben wiedergegebene „Glaubensbekenntnis eines savoyischen Vikars“ in Widerspruch; eine Widersprüchlichlichkeit, die für Rousseau kennzeichnend ist.
Zitiert bei Talmon, a.a.O. S. 35; deutlich anti-rousseauistisch ist auch Dolf Sternberger, Verfassungspatriotismus 1990, S. 27f.
Tilman Mayer, Fragmente zur Bestimmung der deutschen Nationalstaatlichkeit, S. 508.
Rights and permissions
Copyright information
© 1995 Springer Fachmedien Wiesbaden
About this chapter
Cite this chapter
Tönnies, S. (1995). Der Einwand des Abstrakt-Formalen (Kommunitarismus). In: Der westliche Universalismus. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09645-0_13
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-09645-0_13
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-12988-4
Online ISBN: 978-3-663-09645-0
eBook Packages: Springer Book Archive