Zusammenfassung
Die traditionelle Demographie und die moderne Bevölkerungswissenschaft stehen nicht im Zentrum des öffentlichen oder des wissenschaftlichen Interesses. Zwar werden spektakuläre Daten über das weltweite Bevölkerungswachstum oder über die zunehmende Überalterung der deutschen Bevölkerung immer wieder öffentlich dramatisiert. Doch weder die konstatierte „Bevölkerungsexplosion“ in den Ländern des Südens noch die „Überalterung“ der Bevölkerung in vielen hochindustrialisierten Ländern des Nordens haben jener Wissenschaft, welche die imposanten Daten liefert, eine besondere Aufmerksamkeit verschafft. Mit diesen Daten wird zwar Politik gemacht, doch deren Entstehungsprozeß ist nur selten Gegenstand von Analyse und Kritik. Die Bevölkerung, der eigentümliche Gegenstand der Demographie, ist in der Gegenwart auch gesellschaftstheoretisch zu einem eher randständigen Bereich geworden. Das war einmal anders: In der klassischen Politischen Ökonomie und in deren Kritik durch Marx wurde ein enger Zusammenhang zwischen der Reproduktion der Gesellschaft, den Produktionsverhältnissen und der Arbeitskräfte gesehen. Bevölkerung war hier Moment eines vielfach verschlungenen Reproduktionsprozesses. Thematisiert wurde damit gleichsam die biologische Seite der gesellschaftlichen Reproduktion, denn eine ausreichende Zahl an Menschen schien damals die Voraussetzung für den Reichtum der Nationen und die Macht des Staates.
„Always uncertain, but never in doubt“ Lev.D. Landau — Über die Kosmologie
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Literatur
In Frankreich gibt es 50 Lehrstühle für Bevölkerungswissenschaft, in Italien 20, in Belgien 10, in den Niederlanden 10 und in Spanien 5 (Mackensen 1998:38).
Erstmals systematisch widmete sich die Kulturwissenschaftlerin Caspary (1996) der Frage, wie sich der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der bevölkerungswissenschaftlichen Fachliteratur niederschlägt. In dem Untersuchungszeitraum 1972-1989 fand sich keine einzige bevölkerungswissenschaftliche Untersuchung zu dem Thema, sondern nur Aussagen am Rande in einzelnen Texten. Caspary identifizierte dabei u.a. folgende Charakteristika: mit wenigen Ausnahmen werden die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik sowie die Rolle der Bevölkerungswissenschaft verdrängt, verfälscht, bagatellisiert oder uminterpretiert; die Opfer bleiben unerwähnt. Charakteristisch ist die These, daß die Bevölkerungswissenschaft vom NS-System „mißbraucht” oder „instrumentalisiert” wurde.
Das Phänomen des Geburtenrückgangs in westlichen Industrieländern seit den 70er Jahren mit der Tendenz eines regressiven Wachstums und eines Bevölkerungsrückgangs wird als „zweiter demographischer litergang” bezeichnet. Die Ursachen für diese Entwicklung werden neben ökonomischen Faktoren u.a. in einer Zunahme individueller Autonomie, Selbstverwirklichung und einer veränderten gesellschaftlichen Akzeptanz von Sexualität gesehen (Lesthaeghe 1992).
Heide Mertens vertritt die These, daß die „strukturelle Ungleichgewichtigkeit verschiedener gegenseitig voneinander abhängiger Produktions-und Reproduktionsverhältnisse” die Ursache für die extremen Unterschiede der Bevölkerungsentwicklung ist (Mertens 1991:119). Bei deren Artikulation im Zuge von Kolonialisierungsprozessen nennt sie zwei Faktoren, die auf die Bevölkerungsentwicklung besonderen Einfluß haben: „Zum einen wirken sich indirekt die spezifische Einbindung in den überregionalen Handel bzw. den Weltmarkt und damit die unabhänig von lokalen Ressourcen varriierende Nachfrage nach Arbeitskräften aus. Zum anderen können durch die Auflösung traditioneller sozialer Beziehungsmuster und die Einführung bzw. Oktroyierung neuer kultureller Werte und Praktiken bestehende Handlungsmöglichkeiten in bezug auf Sexualität und Fortpflanzung verändert, aufgehoben oder wirkungslos werden” (ebd.).
Im folgenden beziehe ich mich auf Becker/ Hummel 1998.
Eine Anmerkung zu der folgenden Begrifflichkeit: Die Sprache der Demographie, insbesondere der Populationsdynamik, ist geprägt durch eine naturwissenschaftliche bis hin zu einer technizistischen Terminologie. Bei der Darstellung der Inhalte, Problemstellung und Funktionsweise der Populationsdynamik ist es kaum möglich, sich außerhalb deren sprachlicher Mittel zu bewegen, so daß sich innerhalb dieses Referenzrahmens Begriffe wie „Bestandsgröße”, „Nettoreproduktionsrate”, „Kohorten-Sterbeprozesse”, „stationäre Bevölkerung” etc. auch schwerlich vermeiden lassen. Es sei jedoch betont, daß dies die Sprache der Populationsdynamik ist, nicht die meine.
Genauer: auf den durchschnittlichen Gesamtbestand P während dieser Periode. Nimmt man eine lineare Anderung an, dann ist P =A (P, + P,,,). Bei großen Bevölkerungen und kurzen Zeitintervallen ist (P,,, - P,) «P,
Für den in der Regel methodisch sehr klar argumentierenden Feichtinger gilt Fertilität als komplexeres Phänomen, weil sie im Unterschied zur Mortalität kein einmaliges Ereignis sein muß und sich die Fruchtbarkeit immer auf zwei Menschen bezieht. Bei Frauen wird in der Demographie in der Regel von einem fortpflanzungsfähigen Alter von 15-45 Jahren ausgegangen. Weil es vorteilhafter ist, werden die Geburten den Müttern zugeordnet, d.h. für die Ermittlung der Fertilität sind eigentlich nur die Frauen relevant. Dabei werden die altersspezifischen Fertilitätsraten der Frauen ermittelt, deren Summe als totale Fertiltätsrate (TFR) bezeichnet wird, d.h. die durchschnittliche Kinderzahl, die eine Frau in ihrem Leben durchschnittlich lebend zur Welt gebracht hat. Die Bruttoreproduktionsrate (BRR) bezieht nur die Geburten von Mädchen ein, bei der Nettoreproduktionsrate (NRR) wird noch deren Sterblichkeit berücksichtigt. Mit ihr wird ermittelt, inwieweit Töchter eine Frauengeneration „ersetzen” (Feichtinger 1991: 37 ).
Sterbetafeln für Menschen sind völlig analog aufgebaut.
So versuchen Trömel und Loose (1992) das Wachstum technischer Systeme (z.B. Motorleistung von Schiffen und Braunkohleförderung) mit dem Modell des logistischen Wachstums zu erklären.
Hier kann ich nur einige Stichworte angeben, die zu den entsprechenden wissenschaftlichen Arbeiten führen: Fraktale Geometrie, Chaostheorie, Phasenraum, Attraktor, Katastrophentheorie (vgl. dazu Ravn 1997 ).
Bei der Darstellung der komplizierten Studie stütze ich mich der Einfachheit halber auf die allgemeinverständliche Darstellung in Stewart (1998:160ff.).
Zur Erklärung der hier verwendeten mathematischen Begriffe siehe z.B. Ravn 1997.
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Hummel, D. (2000). Demographie: Die Wissenschaft von der Quantität des Lebens und des Todes. In: Der Bevölkerungsdiskurs. Forschung Politikwissenschaft , vol 108. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09594-1_8
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