Zusammenfassung
Das Virtuelle lässt sich in einer ersten Annäherung nur in Abgrenzung zur Wirklichkeit verstehen ohne ein Verständnis dessen, was für die Menschen das Wirkliche ausmacht, ist Virtualität nicht zu begreifen. „Das Virtuelle kann als ein Zustand betrachtet werden, der quasi-existent ist und seine Seinsweise einer Simulation verdankt. Im Unterschied zu einer Simulation, wie wir sie etwa in Gestalt der Doppelhelix sowie atomarer Moleküle kennen, beabsichtigt das Virtuelle jedoch den Eindruck zu vermitteln, es handle sich um die Realität selbst. Während Simulationen lediglich das Ziel verfolgen, die Wirklichkeit anschaulich zu erklären, will das Virtuelle sie tendenziell ersetzen“ (Bühl 1997: 76). Erst in einer zweiten Stufe geht das Virtuelle über eine bloße Nachahmung des Wirklichen hinaus, und nimmt bei der Konstruktion der Welt keine Rücksicht mehr auf Einschränkungen, denen unsere Konstruktionen der Wirklichkeit normalerweise unterliegen. Bezug nehmend auf Stanislaw Lern weist Achim Bühl zu recht darauf hin, dass die virtuelle Welt auf dieser zweiten Stufe Dinge ermöglicht, die über die Erlebensmöglichkeiten des Menschen in der Wirklichkeit hinausgehen. Sie lässt uns sowohl ein Großelf, ein Cyborg oder Supergirl sein wie auch, etwas alltäglicher aber politisch und sozial viel bedeutsamer, das Geschlecht oder die Nationalität wechseln oder auch eine Behinderung verlieren.
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Referenzen
An dieser Stelle ist die originale Gegenüberstellung von Achim Bühl etwas unglücklich geraten. Er stellt den drei Technologien der Industriegesellschaft die Technologie der virtuellen Realität gegenüber und gibt als Anwendungsbeispiele Telematik, Telemedizin, Telelearning, usw.. Meines Erachtens wäre die grundsätzlichere Kategorie der digitalen Information oder Computertechnik an dieser Stelle angebrachter, weswegen hier von der Darstellung Bühls abgewichen wird.
Diese Gegenüberstellung ist als eine idealtypische zu verstehen, die sich so klar nicht finden lässt, jedoch die wesentlichen Unterschiede deutlich macht.
Inwiefern tatsächlich ein Seins unterschied zwischen dem Virtuellen und dem Realen besteht, wie unter anderem Sybille Krämer behauptet, weil nach ihr das Reale eine Widerstandserfahrung bietet, die Möglichkeit des Unfalls beinhaltet und wir in ihr den Status rechenschaftspflichtiger und rechenschaftsfähiger Individuen haben, hängt davon ab, wie total man die Virtualität zu denken bereit ist, und führt letztlich nur zu einer weiteren Variation des Streites zwischen Repräsentationalisten und Antirepräsentationalisten auf einer neuen Ebene. Gerade dass die Virtualität von der Simulation unterschieden wird, sie nämlich Zurechenbarkeit, Kausalität und auch Gewinnabschöpfung beziehungsweise Gewinntransfer als Möglichkeiten und Folgen von Handlungen beinhaltet, zeichnet die Virtualität aus. Also wird ganz im Gegenteil die Virtualität erst dann zu einer solchen, wenn auch sie diese Widerstände bietet.
Dieser Position könnte der Vorwurf der Ungenauigkeit gemacht werden, denn es werden nicht Segmente der Realität an sich in Zeichenprozesse übersetzt, sondern eine zeichenhafte Repräsentation der Dinge wird in eine andere überführt. Der Bruch oder Übergang findet ja schon dort statt, wo Winde gemessen und in mathematische Formeln übersetzt werden. Die Auffassung, die hinsichtlich der philosophischen Trennung von Wirklichkeit/Ding in der Welt und Repräsentation/Beschreibung und der möglichen Verbindung der beiden Bereiche getroffen wird, hat einen direkten Einfluss darauf, welche Interpretationsmöglichkeiten sich für das Virtuelle ergeben.
Ein Beispiel für eine solche Attacke findet sich im Rahmen der „Deportation Class“-Aktion der Bürgerrechtsbewegung „Kein Mensch ist illegal“. „Nach vielfältigen Aktionen auf der Straße, in Flughäfen, Messen und der letztjährigen Hauptversammlung erobert die deportation, class Kampagne nun auch den elektronischen Protestraum. Gemeinsam mit der Solidaritätsinitiative Libertad! ruft kein mensch ist illegal zur Online-Demonstration vor dem Internet-Portal der Lufthansa auf.“ Online Dokument, abrufbar unter: http://www.contrast.org/borders/ kein/indexl.html. Wichtig in diesem Zusammenhang ist, dass die Aktion von den Initiatoren bewusst als „Online-Demonstration“ bezeichnet wird, und somit ganz klar eine Linie von tradierten Protestformen in den virtuellen Raum zieht und somit eben auch versucht, ein De-monstrationsrecht online durchzusetzen. Die Aktion wurde sogar um des ihrer Meinung nach geltenden Schutzes der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bei einer Behörde als Demonstration angemeldet.
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Rogg, A. (2003). Der Begriff des Virtuellen und der virtuellen Gesellschaft. In: Demokratie und Internet. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09579-8_3
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