Zusammenfassung
In den Sozialwissenschaften herrscht Konsens darüber, daß die Parteien im Deutschen Reich eindeutig in der Sozialstruktur verankert waren und Interessenkoalitionen zwischen sozialen Gruppen und politischen Akteuren das Wählerverhalten stabilisierten. Die sozialstrukturelle Verankerung der Parteien wird dabei einerseits auf in der Sozialstruktur lokalisierte normative Orientierungen, andererseits auf die inhaltliche Positionierung politischer Eliten zurückgeführt. Theoretischer Ausgangspunkt ist die Annahme, sozialstrukturell definierte Gruppen der Gesellschaft seien mit verschiedenen latenten Interessen ausgestattet, die sich unter bestimmten Bedingungen in manifesten Konflikten äußern. Hiervon ausgehend identifizieren Lipset und Rokkan (1967) im Laufe der Entwicklung der westlichen Nationalstaaten vier, die Parteiensysteme prägende strukturelle Konflikte. Sie betreffen Gegensätze zwischen Stadt und Land, Kapital und Arbeit, Zentrum und Peripherie sowie Staat und Kirche. Die Auseinandersetzungen während der Reformation führten in einigen Gegenden zur Etablierung einer nationalen, in anderen einer supranationalen Kirche. Die demokratische Revolution beschwor sodann einen Konflikt über die Handlungsspielräume der Kirchen herauf. In der Phase der nationalen Revolution dominierten zunächst Konflikte zwischen Trägern der nationalen und regionalen Elite sowie Konflikte zwischen Staat und Kirche über politische Gleichheitsansprüche und die Ausübung und Kontrolle der Macht. In der Phase der industriellen Revolution standen schließlich Konflikte zwischen dem primären und sekundären Wirtschaftssektor sowie zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern im Vordergrund. Der Konflikt zwischen dem primären und dem sekundären Sektor wurzelte im Gegensatz zwischen agrarischen und industriellen Interessen am Gütermarkt, der Konflikt zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern in unterschiedlichen Interessen der Eigentümer und der Nicht-Eigentümer am Arbeitsmarkt. Die konservativen, liberalen und katholischen Parteien seien Ausdruck bereits vor der Industrialisierung bestehender Konfliktlinien. Allein die sozialistischen Parteien seien als vierte politische Hauptrichtung im Zuge der sozialen Auseinander-Setzungen während der Industrialisierung hinzugetreten. Die Industrialisierung habe den Stadt-Land-Gegensatz verschärft und eine neue Spannungslinie erzeugt, die auf der Makroebene als Konflikt zwischen den traditionellen Strukturen und den Industrieregionen interpretiert werden kann.
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Winkler, J.R. (2002). Die Politisierung der Sozialstruktur Der Einfluß der Sozialstruktur auf die Wählerrekrutierung der Parteifamilien im Deutschen Reich. In: Brettschneider, F., van Deth, J., Roller, E. (eds) Das Ende der politisierten Sozialstruktur?. Veröffentlichung des Arbeitskreises „Wahlen und politische Einstellungen“ der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), vol 8. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09538-5_6
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-09538-5_6
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-8100-3203-4
Online ISBN: 978-3-663-09538-5
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