Zusammenfassung
Als ich vor einem Jahr zum ersten Mal seit dem Fall der Mauer Berlin besuchte, machte ich mich gleich nach meiner Ankunft auf zum Brandenburger Tor — auf der alten Straße der Erinnerung, die ich vor 30 Jahren vor meiner Übersiedlung nach Marburg so oft gefahren war: von meiner Wohnung in Neu-Westend den Kaiserdamm und die ganze Ost-West-Achse entlang durch das Brandenburger Tor zur Akademie der Wissenschaften Unter den Linden B. Noch ganz erfüllt von der Freude über die Einheit, in einem Gefühl, das zu erleben ich nicht mehr gehofft hatte, wanderte ich die Linden entlang, vorbei an neuen Buchläden und alten Geschäften: dort, in jenem Ledergeschäft hatte ich damals ein später sehr geliebtes Köfferchen gekauft, und dort mußte der kleine Laden für elektrische Eisenbahnen gewesen sein, das erstrebte Ziel meines Sohnes, wenn er mich zuweilen von der Akademie abholte. Um 7 Uhr stand ich vor der Humboldt-Universität, deren Eingang hell erleuchtet war. Ein freundlicher Pförtner begrüßte mich, und niemand fragte wie sonst mürrisch nach Ausweis und Begehr. Vielmehr wurde mir der Gang in den ersten Stock empfohlen, um den Vortrag einer israelischen Kollegin über die Frauen im Judentum anzuhören. Mir schien, als wäre ich zu diesem mich interessierenden Thema eigens gerufen worden, und bald saß ich erwartungsvoll im Vortragssaal. Aber als ich mich in dem hohen, schön renovierten Raum umsah, schweiften meine Gedanken ab in die Vergangenheit: es war unverkennbar jener kleine Saal, in dem ich vor genau 50 Jahren meine mündliche Doktorprüfung in Volkskunde bei meinem Lehrer Adolf Spamer (1883–1953)2 abgelegt hatte. Das war 1940. Etwa ein Dutzend Prüflinge saß damals mit ihren Prüfern und Protokollanten an kleinen Tischen, und der Raum schien erfüllt vom Raunen und Flüstern der Fragen und Antworten und einer gewissen nervösen Spannung. Das freundliche Gelehrtengesicht des alten Spamer mit seinen ausdrucksvollen blauen Augen, dem professoralen langen Nackenhaar und vertrauenerweckenden weißen Spitzbart war mir zugewandt. Während einer kurzen Abwesenheit des Protokollanten wich er vom üblichen Prüfungsgang des Frage- und Antwortspiels ab. Mit seiner tiefen Stimme hielt er mir ein kleines Privatissimum über die von der Nazi-Volkskunde postulierte Aufteilung der Volksüberlieferungen nach den rassistisch geprägten Kategorien »arteigen« und »artfremd«. Ein solches Denken beruhe auf dem von Grund auf falschen Ansatz, sagte er, daß Kultur teilbar sei. Ganz im Gegenteil sei sie jedoch ein historisch gewordener Besitz sozialer Gruppen, eine jeweils komplexe »Gruppengeistigkeit«, wie er das damals nannte, die sich im Zusammenhang mit den geschichtlichen Prozessen verändert3.
Das war das schöne Thema des 27. Deutschen Volkskundekongresses 1989 in Göttingen, und ich habe diese Formulierung gern als Titel für diesen Beitrag übernommen.
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Literatur
Zu Spamers Werdegang vgl. I. Weber-Kellermann, Zum Gedenken an Adolf Spa-mer zu seinem 100. Geburtstag am 10. April 1983. In: Hess. Bl. f. Volksforschung, N.F. 16 (1984), S. 197–206.
Vgl. hierzu I. Weber-Kellermann und A. Bimmer, Einführung in die Volkskunde/Europäische Ethnologie, Stuttgart 1985, S. 103.
Vgl. W. Jacobeit, Die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit in der DDR-Volkskunde. In: H. Gerndt (Hg.), Volkskunde und Nationalsozialismus, München 1987, S. 302.
Vgl. I. Weber-Kellermann, Ich denke an meinen Vater. In: Der Aquädukt 1763–1988. Ein Almanach aus dem Verlag C.H. Beck, München 1988, S. 117–125.
Über Reichwein vgl. die soeben erschienene Dissertation meines Schülers Ulrich Amlung, Adolf Reichwein. 1998–1944. Ein Lebensbild des politischen Pädagogen, Volkskundlers und Widerstandskämpfers,Frankfurt am Main 1991.
Vgl. W. Steinitz, Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten,2 Bde., Berlin 1954/1962.
Vgl. W. Fraenger, Hieronymus Bosch, Dresden 1975.
Deutsches Jahrbuch für Volkskunde,Berlin 1955 ff.
Vgl. hierzu E.M. Hoerning, Kalter Krieg in Berlin (abgedruckt in diesem Band).
G. Heilfurth, »Volkskunde« an der Philipps-Universität. Zum Aufbau des Instituts für mitteleuropäische Volksforschungen 1960–1971. In: alma mater philippina. Sommersemester 1972, Marburg 1972, S. 1–4.
I. Weber-Kellermann, Zehn Jahre Institut für deutsche Volkskunde. In: Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin 1946–1956, Berlin 1956, S. 435–447.
I. Weber-Kellermann, Erntebrauch in der ländlichen Arbeitswelt des 19. Jahrhunderts - aufgrund der Mannhardtbefragung in Deutschland von 1865, Marburg 1965.
Vgl. H. Schäfer, Dokumentation und Interpretation. In: Brauch - Familie - Arbeitsleben. Schriften von Ingeborg Weber-Kellermann,Marburg 1978, S. 210–221 (Filmarbeit beim Hessischen Rundfunk).
Vgl. I. Weber-Kellermann, Deutsche Volkskunde zwischen Germanistik und Sozialwissenschaften, Stuttgart 1969.
Vgl. I. Weber-Kellermann, Das Weihnachtsfest, Luzern und München 1978 (2. Aufl. 1987); dies., Saure Wochen - Frohe Feste. Fest und Alltag in der Sprache der Bräuche, München 1985.
Vgl. I. Weber-Kellermann, Frauenleben im 19. Jahrhundert, München 1983 (3. Aufl. 1991); dies., Landleben im 19. Jahrhundert, München 1987.
Zum Beispiel Sterzhausen. Jugendliche in einem Dorf« (wie Anm. 16, S. 212).
I. Weber-Kellermann, Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte, Frankfurt am Main 1974 (10. Aufl. 1989); dies., Die Familie, Frankfurt am Main 1976; dies., Die Kindheit, Frankfurt am Main 1979 (2. Auflage 1989 ).
Vgl. G. Wiegelmann, Eine erfolgreiche Universitätslaufbahn. In: Hess. Bl. f. Volks- und Kulturforschung,Bd. 16 (1984), S. 211–214. 1985 erhielt ich die Leuschner- Medaille als höchste wissenschaftliche Auszeichnung des Landes Hessen (s. Wilhelm Leuschner - Auftrag und Verpflichtung. Dokumentation des Festaktes 1985,Wiesbaden 1986, S. 120f).
Vgl. wie Anm. 16 (Nr.27, 29, 31 und 34) und 1. Weber-Kellermann, Europäische Ethnologie in der beruflichen Praxis, Bonn 1983, S. 138.
I. Weber-Kellermann, Vom Handwerkersohn zum Millionär. Eine Berliner Karriere des 19. Jahrhunderts, München 1990.
Inzwischen erschien ein Inselbüchlein (Die Kinderstube,Frankfurt am Main 1991).
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Weber-Kellermann, I. (1995). Erinnern und Vergessen. Selbstbiographie und Zeitgeschichte. In: Fischer-Rosenthal, W., Alheit, P. (eds) Biographien in Deutschland. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09434-0_1
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