Zusammenfassung
Als Menschen, die den Routinealltag zu bewältigen haben, machen wir uns gewöhnlich drei grundlegende Merkmale der sozialen Realität nicht zureichend deutlich:
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daß die Situationen, in denen wir leben und uns bewegen, hochgradig symbolisch verdichtet sind und wir den Aufbau dieser Symbolik und die komplexe Aufschichtung von Hintergrundserwartungen in der Regel nur vage wahrnehmen, daß wir also oftmals nicht wirklich verstehen, was wir zu verstehen meinen; bzw: daß wir in der Alltagsroutine nur »oberflächlich«-unreflektiert erfassen, was tiefergehend-szenisch verstanden werden müßte;
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daß diese Situationen in ihrer Symbolik nicht nur Ausdruck von soziokultureller Ordnung, sondern oftmals auch das unerwartete Ergebnis von erlittener biographischer und sozialer Unordnung sind, also von »Anomie« (bzw. wörtlich übersetzt von »Abwesenheit von soziokulturellen Regeln«) im Sinne des französischen Begründers der Soziologie Emile Durkheim (1973), und daß die symbolischen Kundgaben, mit denen wir unsere Befindlichkeiten und Absichten für die andern und für uns selber umschreiben, größtenteils gerade nicht auf die heile Welt ordentlicher sozialer und kultureller Gestalten, sondern auf die Brüche, das Irritierende, Chaotische und Fremde von Erleidensprozessen und unerwarteten Abläufen abzielen; sowie
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daß diese Unordnung in ihren Aspekten des Erleidens und der Verletzung der Kooperationsgrundlagen von Interaktion und menschlicher Gesellschaft so abgrundtief sein kann, daß uns hin und wieder — insbesondere bei eklatanten Erlebnissen des Scheiterns — eine quasi-methaphysische Angst oder gar Verzweiflung dahingehend überkommen kann, daß wir einem unaufhebbaren Verhängnis — vergleichbar einer unheilbaren Krankheit — überantwortet sind.
Der vorliegende Text geht auf meine Antrittsvorlesung an der Universität Magdeburg im Sommersemester 1994 zurück. Er verdankt sehr viel meinen eingehenden Gesprächen mit Peter Straus, der dann auch später Anregungen für die Überarbeitung und Ergänzung des Drucktextes gemacht hat. Jeder, der die Thematik biographischer Verlaufskurven kennt, weiß zudem, wie sehr die folgenden Überlegungen von meiner langjährigen Zusammenarbeit mit Anselm Strauss, Gerhard Riemann und Thomas Reim profitieren. — Erläuterungen, die für die nicht-sozialwissenschaftlichen Zuhörer gedacht waren (z.B. zum narrativen Interview, habe ich nicht elimiiert. Man beachte den nach Möglichkeit allgemeinverständlichen Charakter einer Antrittsvorlesung.
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Schütze, F. (1996). Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand der interpretativen Soziologie. In: Krüger, HH., Marotzki, W. (eds) Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09430-2_7
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