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Bildung und Autonomie gegen Verluste im Migrationskontext — Fallanalyse

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Book cover Bildung, Autonomie, Tradition und Migration
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Zusammenfassung

Im folgenden werde ich längere Passagen aus der strukturellen Beschreibung, d.h. der inhaltlichen Analyse des Interviews mit Serap Dursan in allen forschungsrelevanten Überlegungen wiedergeben, um insbesondere die zwei unterschiedlichen Perspektiven der Biographin zu dokumentieren, aus denen sich die Theorie der Doppelperspektivität ableiten läßt. In der strukturellen Beschreibung wurden alle Textstellen bis zur Koda, d.h. der Ankündigung der Beendigung der lebensgeschichtlichen Erzählung durch die Biographin, Satz für Satz, Zeile für Zeile analysiert und niedergeschrieben.34 Hier werden die ersten und für den Aufbau des Interpretationsvorgangs wichtigsten Passagen sowie die Zusammenfassung der Interpretation der Suprasegmente jeweils an deren Ende unter der Überschrift „Gesamtinterpretation“ dokumentiert.

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Referenzen

  1. Die strukturelle Beschreibung des Interviews mit Serap Dursan umfaßte insgesamt 119 DIN-A4 Seiten der Dissertation, die im Fachbereich Erziehungswissenschaften der Universität Frankfurt am Main im Januar 2001 eingereicht wurde. Diejenigen Leserinnen, die nicht mit den biographischen Methoden vertraut sind, und die sich nicht gerade diese Methoden aneignen wollen, könnten die Feininterpretationen bereits nach den ersten Segmenten zu ausführlich und lang finden. Ihnen empfehle ich die Durchsicht der Gesamtinterpretationen jeweils am Ende der beiden Versionen der Lebensgeschichte sowie der Suprasegmente und das Weiterlesen ab Abschnitt 2 (Rekonstruktion der Lebensgeschichte). Alle Interviews wurden laufend nach Seiten und Zeilen numeriert, um im Interpretationsprozeß die Stelle der jeweiligen Aussage nachweisen und leicht finden zu können. Die erste Zahl weist auf die Seite im Interview hin, die Zahlen nach dem Schrägstrich geben die Stelle der Aussage in Zeilennummern wieder. Beispielsweise bedeutet 11/38–40 Seite 11 Zeilen 38 bis einschließlich 40. Die Zeilen wurden auf jeder Seite erneut numeriert. Das Interview mit Serap Dursan wird vollständig bis zur Koda in diesem Abschnitt dokumentiert. Aus den übrigen Teilen der insgesamt zwei mit ihr durchgeführten Interviews werden nur Auszüge zitiert, die im Zusammenhang mit dem gerade besprochenen Aspekt stehen.

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  2. Tunceli liegt im Osten der Türkei, der seit Gründung des Nationalstaates 1923 bis in die 80er Jahre hinein im Gegensatz zum Westen des Landes ökonomisch und infrastrukturell kaum gefördert wurde.

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  3. Es gehört zum Kontextwissen, daß in den 70er Jahren gesonderte Klassen in Grundschulen für die nachgezogenen Kinder aus den Anwerbeländern eingerichtet wurden. Es ging nicht um muttersprachlichen Unterricht, wie es ihn heute vielerorts parallel zum regulären Unterricht gibt, sondern um altersgemischte Klassen mit Kindern unterschiedlicher Vorkenntnisse. Lehrerinnen aus den Heimatländern unterrichteten sie regulär mit eigenem Curriculum und zusätzlichem Deutschunterricht, der von deutschen Lehrerinnen erteilt wurde. Die eigenethnischen Lehrerinnen hatten sicherlich ihre Rücksprache mit der Schulleitung. Trotzdem unterlagen sie nicht allzu großer Kontrolle, zumal die Unterrichtssprache in unserem Fall Türkisch war und die meisten Eltern weder ihre Rechte und Pflichten innerhalb des deutschen Schulsystems kannten, noch in der Lage waren, mit der Schulleitung selbst zu kommunizieren. Letztere war möglicherweise froh, das neue Problem kurzfristig und einfach gelöst zu haben.

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  4. Im zweiten Interview erzählt Frau Dursan, daß ihr Vater in den ersten Migrationsjahren sehr viele Überstunden machen und (“obwohl es eigentlich verboten ist“) auch sonntags arbeiten mußte, ohne daß er dafür bezahlt wurde (2. Int.:2/26–39), “Hauptsache er hat diesen Job noch gekriegt“ (2. Int. 2/31). Dies gibt uns einen Hinweis auf den hier erwähnten Streß des Vaters.

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  5. Es ist anzunehmen, daß Frau Dursan eine ähnliche Bewertung auch von mir als Interviewerin vermutet, die sie wegen des Forschungsvorhabens an der Universität wohl eher einer bürgerlichen Schicht zurechnet.

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  6. Aus den späteren Angaben ist bekannt, daß ungefähr zur Zeit der Beschäftigung von Frau Dursan bei Firma C der Zwillingsbruder mit seiner Ehefrau bei seinen Eltern in Kassel mitwohnte und alle Beteiligten massive Konflikte miteinander hatten, (siehe 2. Int. 10/35–12/36) Damit werden nun die vorhergehenden Blockaden und Anzeichen des Haderns nachvollziehbar und die Annahme einer Erzählbarriere bzw. einer Ausblendungstendenz seit 5/17, was im vorhergehenden Segment erwähnt wurde, erhält eine weitere Erhärtung, bzw. sie wird nun nachvollziehbar.

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  7. Im zweiten Interview wird diese Vermutung bestätigt: Frau Dursan erzählt weitere Einzelheiten zu der Zeit der Ausreise ihrer Mutter und zu deren baldigen Rückkehr mit dem Vater fur die Hochzeit des ältesten Sohns, um im Anschluß daran ihre drei Kinder nach Deutschland mitzunehmen (2. Int: 3/32–4/37). Ferner ist dem Kontextwissen über die Region zu entnehmen, daß der Bräutigam bei der Heirat eine festgelegte Summe an Bargeld oder eine bestimmte Menge an Gold(-schmuck), genannt baslik, an die Familie der Braut zahlen muß, was eine große finanzielle Belastung allgemein für Familien von Söhnen bedeutet. Daher ist es naheliegend, daß diese Ausgabe erst nach der Arbeitsmigration getätigt werden konnte (vgl. Tekeli 1991: 35f).

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  8. Es ist eine häufige Praxis unter heiratswilligen jungen Leuten, zusammen wegzulaufen, um die Eheschließung zu erzwingen, wenn der Mann die finanziellen Mittel für das Baslik und für die Hochzeit nicht besitzt (vgl ebd.).

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  9. Im zweiten Interview macht die Biographin konkrete Angaben über ihre älteste Schwester, die ungefähr als siebzehn Jährige zusammen mit dem ältesten Bruder die genannten drei Kinder in einem vom Vater zuvor gekauften Haus in Adana versorgt haben muß. Danach habe der Bruder geheiratet, und es sei den Kindern “dann“ “eigentlich ganz gut“ gegangen. Kurze Zeit danach seien die Eltern gekommen und hätten die drei Kinder im Anschluß an die Hochzeitsfeier des Bruders gleich mitgenommen. Möglich ist, daß die älteste Schwester nach der Heirat des Bruders, aber vor dessen Hochzeitsfeier im Familienkreis weglief und dadurch als Versorgerin der Kinder nicht mehr in Frage kam. (2. Int: 4/25–39) Deshalb kamen sie zum Onkel mütterlicherseits, bei dem sie völlig vernachlässigt wurden (2. Int.) Die offizielle Heirat und die Hochzeitsfeier können in der Türkei auf dem Land durchaus zeitlich auseinanderliegen.

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  10. Diese Tatsache wird weiter unten (7/25–34) und im zweiten Interview (2. Int: 1/36–2/8 & 3/16–21) detailliert zur Sprache gebracht.

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  11. Im zweiten Interview erzählt die Biographin zunächst, daß die Eltern ihres Vaters vor der Geburt der viertältesten Schwester starben, daß die Mutter danach mit ihren Kindern “halt bei Nachbarn bei denen bei denen also wo sie was kriegen konnte“ gewohnt habe. Nach der Auswanderung ihres Vaters hätten ihre älteren Brüder “auf dem Land arbeiten gehen“ müssen. (2. Int.: 3/13–21)

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  12. Es kann angenommen werden, daß die vorhergehende Pause und der Abbruch den gleichen Gedanken zuzuschreiben sind, nämlich der Gewalttätigkeit gegenüber Seraps Mutter, die die Biographin in beiden Versionen der biographischen Selbstpräsentation nicht thematisiert. Im zweiten Interview erzählt sie, daß die Mutter von beiden Schwiegereltern geschlagen und daß darüber hinaus Seraps Vater von seiner Mutter gegen seine Frau aufgehetzt wurde (2. Int: 1/42–2/6).

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  13. Im zweiten Interview wird die Biographin präzise Angaben darüber machen, daß zur Zeit der Auswanderung des Vaters aus der Türkei nach Deutschland seine Eltern bereits tot waren und Seraps Mutter mit mindestens sechs Kindern abwechselnd bei verschiedenen Nachbarn unterkommen mußte (siehe auch vorletzten Segment). In diesem Kontext wird der Gebrauch von “durft=dann“ plausibel; d.h. es war ihr erlaubt bei bestimmten Nachbarn mit zu wohnen, wobei die älteren Kinder arbeiten mußten. An dieser Stelle und für das Konzept der neu aufzurollenden biographischen Selbstpräsentation scheint die Entfaltung dieser Details für die Biographin keine Relevanz zu haben.

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  14. Für „qualifizierte Arbeiter (lag die Altersgrenze) bei 40 Jahren, für Frauen bei 45, tur Bergarbeiter bei 35 und für unqualifizierte Arbeiter bei 30 Jahren“ (Eryilmaz 1998:103).

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  15. Die Biographin spricht im zweiten Interview konkret über die Gewaltanwendung der Großeltern gegenüber ihrer Mutter und über die Hetze der Großmutter, durch die ihr Vater in den ersten Ehejahren angetrieben wurde, seine Frau zu schlagen. Diese Tatsachen bleiben in der Haupterzählung unerwähnt. Siehe dazu auch Segment 2.2.

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  16. Siehe Segment 1.8a Zeilen 4/7–8

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  17. In diesem Zusammenhang verdient die Handlung des Tot-Erklärens durch den Vater eine besondere Aufmerksamkeit, der bei der Rekonstruktion wichtiger Elemente der Familiengeschichte im Abschnitt 2.3 nachgegangen wird. (Siehe auch die Interpretation des Segments 2.1 in diesem Abschnitt.)

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  18. Diese Differenzen bestehen zwischen den (ost-)anatolischen Dörfern und den Großstädten der Türkei gleichermaßen.

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  19. Siehe die Interpretation des Segments 2.8b im Abschnitt 1.2 in diesem Kapitel

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  20. Vgl. die Interpretation der Zeilen 5/38–6/5. Siehe auch die Gesamtinterpretation des nächsten Suprasegments, Abschnitt 1.4.

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  21. Aber auch wegen der Rückkehr oder des Rückkehrplans des Zwillingsbruders und der Unruhe zu Hause hat sich vermutlich ihre Motivation zum Lernen damals erheblich verringert („dann hatt=ich keine Lust mehr für die Schule“ 5/4–5). Die Details zu diesem Aspekt kommen erst im zweiten Interview zur Sprache.

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  22. Siehe dazu die Zeilen 6/1–7.

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  23. Der Vater versorgt über seine Familie hinaus auch die Söhne seines gehörlosen Bruders, die als Kleinkinder von ihrer Mutter verlassen wurden. Der älteste Bruder von Serap in der Türkei nahm sie auf. Sie erhielten mit der Finanzierung von Seraps Vater eine sehr gute Schulbildung dort. (2. Int. 6/2–29)

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  24. Der Vater denkt heute noch, er hat nicht genug Geld, um seine Frau bei Krankheit von einem Arzt untersuchen zu lassen, obwohl beide Eltern ausreichend Rente haben, um in der Türkei relativ gut leben zu können. (1. Int. 14/22–36)

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  25. Seraps Mutter selbst ist aus ihrer Familie weggelaufen, um Seraps Vater zu heiraten. Die älteste Tochter der Familie in der Türkei ist zur Zeit der Ausreise von Serap ebenfalls mit einem Mann geflohen, um ihn zu heiraten. Die Ehefrau des Onkels väterlicherseits war von dem gehörlosen Ehemann und zwei kleinen Söhnen weggelaufen, um einen anderen zu heiraten. Zwei in Deutschland lebende Töchter laufen auch weg, wobei sie hier institutionelle Möglichkeiten (z.B. Heim) in Anspruch nehmen anstatt zu heiraten, um vom Elternhaus unabhängig zu sein.

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  26. Dersim ist der ursprüngliche kurdische Ortsname, der später als Tunceli umbenannt wurde (vgl. Firat 1997).

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  27. Siehe Abschnitt 1.4 in diesem Kapitel.

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  28. Im 1. Interview: 13/2–11 (Siehe folgende Fußnote) und im 2. Interview: 1/32–39: „aber meine Oma und Opa die waren ziemlich streng gewesen waren auch sehr arm gewesen im Gegensatz zu meiner Oma mütterlicherseits ne sie hat schon mehr gehabt von ihrem Mann auch noch und so mein Opa und Oma vom Vater her die waren sehr arm und dementsprechend sehr geizig und meine Mutter mußte wirklich mit einem/ ein Fladenbrot oder mit diesem e großen Brot mußte sie zwei Kinder ernähren sich ernähren“

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  29. In ihrer Studie zitiert Gülsün Firat eine alte kurdische Frau aus der Region, die unter Tränen ihre fünfzig Jahre zurückliegenden Erlebnisse nach dem Aufstand folgendermaßen erzählt: „Die Soldaten sind gekommen und haben die Kurden gesammelt und dann erschossen. Allein in unserer Familie waren acht Männer dabei. Wir, Frauen, Kinder und einige Männer, sind in die Berge geflüchtet, wo wir uns ein Jahr lang unter schweren Bedingungen verstecken mußten. Die Kinder weinten, es gab nichts zu essen, und wir spürten Todes-angst.“(Firat 1997: 115) Serap Dursan sagt folgendes im ersten Interview über das Leiden ihrer Mutter im Haushalt der Großeltern: „also sie mußte hungern und die Kinder mußten hungern und s’war wirklich ziemlich schlimm gewesen vor allem die Kinder hungern zu sehen ... dann muß du noch die Kinder im Bett lassen mußt im Feld ackern gehen und weißt nicht was es jetzt zu Hause mit dem Kind geworden ist ist es noch am Leben oder ist es schon tot“ (13/2–11)

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  30. In der vergleichenden Studie über Familien von Verfolgten des Naziregimes bzw. Überlebenden der Konzentrationslagern und Familien von Nazi-Tätern bzw. Mitläufern zeigt Gabriele Rosenthal wie sehr die Familiendynamik auch in den folgenden Generationen von der Vergangenheit geprägt ist und wie sehr die psychischen Symptome der Vergangenheit in den jüngeren Generationen weiter getragen und ausagiert werden. In den Familien der Verfolgten und Überlebenden hindert in der Regel die älteste Generation, die Zeugen der Verfolgung war, die Thematisierung der belastenden Vergangenheit, um der Ohnmacht, 128 den Erinnerungen von Grausamkeiten und Todesangst auszuweichen. (Rosenthal 1997)

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  31. Siehe Fußnote 52 im vorhergehenden Abschnitt

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  32. Zur Zeit des Aufstandes war Seraps Vater ungefähr sieben bis neun Jahre alt. Heftige militärische Auseinandersetzungen und Nachwirkungen dauern in der Region bis heute an.

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  33. Wahrscheinlich ist die Sprache der Familie Kurmandschi, weil sie konfessionell Aleviten sind (vgl. Firat 1997: 28ff).

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  34. Çengül Çenol konstatiert für die kurdischen Frauen der ersten Generation schwerste Betroffenheit von den Benachteiligungsstrukturen, nicht nur weil es keine Sozialdienste gibt, sondern weil sie weder Radio- und Fernsehprogramme in ihren Sprachen empfangen können, noch können sie ihren Kindern Unterricht in eigener Sprache ermöglichen; letztere werden in der Schule in Türkisch und Deutsch unterrichtet. (Çenol 1992: 72ff) So werden die Kinder immer weiter von ihnen entrückt.

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  35. Trotz kurdischer Abstammung setzt Frau Dursan für die Plausibilisierung mancher Zusammenhänge ihrer Familie oft Konstruktionen über Türken ein, z.B. um die Angst ihres Mannes vor der Initiative für eine Qualifizierungsmaßnahme zu erklären sagt sie: „das Stolz der türkischen Männer denk ich daß sie denken wenn sie’s nicht schaffen werden sie dann niedergemacht“ (1. Int. 18/9–14). Solche Klischees werden ständig im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs so beliebig eingesetzt, daß es nahezu unmöglich ist, ihnen in der Alltagssprache auszuweichen. Mit ihrem Einsatz trägt Frau Dursan unbeabsichtigt zum Ethnisierungsprozeß bei, der mit den sozialen Konstruktionen in Gang gesetzt wurde. Siehe dazu Kapitel I Abschnitt 2.

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  36. Weil er seine Rechte nicht kennt und aus Angst, er könnte den Arbeitsplatz verlieren arbeitet der Vater bei Baufirmen dauernd Überstunden und auch sonntags, die nicht bezahlt werden. Seine Unwissenheit und Angst müssen schamlos ausgenutzt worden sein (2. Int. 2/26–41). Die Mutter soll sogar mehr gearbeitet haben als er (1. Int. 14/7–16). Es gibt noch die Episode, daß die Mutter an der Markthalle Obstreste sammelt, von denen sie die Kinder mit den guten Stücken futtert (1. Int. 13/38–14/5).

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  37. „We know that men are more physically aggressive and autoritarian than women, that men commit more violent acts and are more approving of aggression than women (...) Acceptance of the „fact“ of human aggression forms a cornerstone of our images of the future, even though women’s attitudes and behaviors differ from men’s. Bringing women’s aggression into larger dialogues about this subject is critical for society.“ (Jack 1999: 3) Dana Crowley Jack zeigt anhand von sechzig Fraueninterviews, die sie hauptsächlich in den USA mit Frauen verschiedener Schicht, Ethnie und Hautfarbe geführt hat, die Ausmaße und Dimensionen der Aggressionen von Frauen. Sie verläßt die dualistische Opfer-Täter-Perspektive and sucht nach Praktiken kreativer, subversiver und renitenter Natur in den Handlungen von Frauen (ebd. 3ff).

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  38. Auf der Kassette sind es 19 Minuten. Aufgrund der Erschütterung und des Weinens von Frau Dursan schaltete ich die Kassette aus, danach erzählte sie noch einmal 10–12 Minuten, was später aus dem Gedächtnis zusammenfassend protokolliert und im zweiten Interview als Extrateil festgehalten wurde.

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  39. Schütze schreibt: „Es kann der Fall eintreten, daß bestimmte Erfahrungsbereiche der eigenen Identität überhaupt nicht mehr formulierbar, geschweige denn theoretisch reflektierbar sind“ (Schütze 1984: 108). Hier scheint ein solcher Fall vorzuliegen.

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  40. Siehe auch Schütze 1987: 43f

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  41. Im zweiten Interview erzählt Frau Dursan, daß sie ihm einen Job organisiert, ihm Taschengeld gibt, sich mit seiner Ehefrau auseinandersetzt und mit ihrem Vater zugunsten des Bruders streitet, usw. Das heißt, sie setzt sich auf vielen Fronten für ihn ein.

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  42. Ihre Erfolge werden versteckt, weil sonst die Mißerfolge und das Scheitern des Zwillingsbruders im Kontrast um so deutlicher herausstechen würden. Im Nachfrageteil erkennen wir ihre Kompetenzen in ihren Aussagen zur Umschulung, zur Praktikumssuche und zu ihrem Mann (siehe Abschnitte 1.3 und 1.4). Im zweiten Interview werden dann direkte Aussagen gemacht wie: „für mich war die Schule nicht egal gewesen war schon ein wichtiger Teil von meinem Leben damals schon gewesen“ (2. Int. 15/27–30). „weil ich war so de Boss gewesen in der Klasse und ich hatte das Sagen gehabt“ (2. Int. 16/26–27)

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  43. Am Ende des zweiten Interviews betont sie direkt die Wichtigkeit des Lernens für sich und ihre Schwestern: „mein Sohn? ich hoffe (...) daß er durch mich irgendwie angesteckt wird dieses Lernen daß er irgendwie sagt ‚ich möchte lernen ich möchte studieren’ oder so, daß ich das ihm nicht irgendwie jetzt reinzwingen muß ‚lern lern lern’ oder so, weil in meiner Familie eigentlich em die hat es, wir haben das alle mit dem Lernen (...) ja wir sind eigentlich/ wir lernen gerne und ich hoff daß er mehr sich nach unserer Seite gezogen fühlt“ (2. Int. 23/15–29).

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  44. Siehe hierzu die Ausführungen im Abschnitt 1.4 in diesem Kapitel.

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  45. Gemeint sind die Biographin und ihre frühere Schulfreundinnen.

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  46. Auf die Frage hin, ob sie noch Kontakt zu ihren Freundinnen von früher hat, antwortet sie mit: „zu gar keiner, (...) ich hab geheiratet e und/ dann wars aus.“ (2. Int.: 16/41–17/2)

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  47. Staub saugen, Staub wischen, Wäsche waschen, Küche und Kinderzimmer aufräumen sind konkrete Handlungen, die sie in diesem Zusammenhang aufzählt. (2. Int.: 20/16–21/21)

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  48. Siehe den Abschnitt 1.4 in diesem Kapitel.

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  49. Diese Ideen und die Auseinandersetzung damit scheinen aktuell zu sein (2. Int.: 18/17–19/9), denn im ersten Interview ist noch von den Depressionen des Ehemannes wegen dem damals vier Monate zurückliegenden Verlust seiner Arbeitsstelle die Rede (1. Int.: 16/34–17/15).

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  50. Wie uns bekannt ist, hatte Herr Dursan insgesamt drei Jahre Schulbesuch in der Türkei. In Deutschland war er immer in der Fabrik als Lagerarbeiter beschäftigt und verfügt über geringe Deutschkenntnisse. Diese Tatsachen machen Frau Dursans Haltung plausibel.

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  51. Bettina Dausien stellt 1996 als ein wichtiges Ergebnis ihrer empirischen Studie die „soziale Bezogenheit biographischer Konstruktionen“, mit anderen Worten „’Ich-in-Beziehungen, vs. individualisiertes Ich“ als eine Form der „Selbstkonstruktion“ von Frauen vor (Dausien 1996: 565ff).

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  52. Gabriele Rosenthal macht Ausführungen zur Organisiertheit vom Thema sowie dessen Feld und Rand: „Die Differenz Figur-Grund (hier im Sinne von Thema-thematisches Feld; N.G.) als Phänomen einer Struktur, die sich nicht aus einzelnen Elementen, sondern aus deren Stellung zueinander konstituiert, impliziert eine prinzipielle Offenheit für Transformationen.“ (Rosenthal 1995: 49) „Die an das Thema je nach Feld angrenzenden Themen bestimmen das Thema, das im Moment meiner Zuwendung im Zentrum steht. Hier deutet sich bereits an, daß von einer dialektischen Beziehung zwischen Thema und Feld auszugehen ist: Das Feld bestimmt das Thema und das Thema das Feld.“ (ebd.: 53) Das gestalttheoretische Konzept von Rosenthal korrespondiert mit dem Konzept der fokussierten, dominanten und an den Rand gedrängten rezessiven Linien der Ereignisketten von Schütze (vgl. Schütze 1984).

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  53. In der „Art der Bilanzierung in der Vorkoda-Phase“ wird die Präferenz für eine bestimmte Erzähllinie deutlich, von der wiederum auf die Gesamtgestalt der Selbstpräsentation geschlossen werden kann. (Schütze 1984: 106)

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  54. Siehe auch den Abschnitt 2.5 und Fußnote 72 in diesem Kapitel

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  55. In den 70er Jahren gab es sogenannte Vorbereitungsklassen für die einwandernden Immigrantenkinder, die vom Wissen und Alter her völlig heterogen waren. Obwohl diese Klassen zwölf Wochenstunden Deutschunterricht erteilt durch deutsche Lehrerinnen haben sollten, fand in der Regel aufgrund von Lehrermangel kein Deutschunterricht statt (vgl. Nakipoglu 1984). Der Unterricht wurde von Lehrkräften in der Muttersprache abgehalten, die durch die Konsulate der Herkunftsländer vermittelt wurden. So wurden die Vorbereitungsklassen zu nationalhomogenen Klassen ohne direkten Kontakt zu deutschen Kindern und Sprache (vgl. ebd.). Kinder konnten auch nach zwei oder drei Jahren der „Vorbereitung“ nicht in die deutsche Regelklasse wechseln, wie die ursprüngliche Absicht dieser Maßnahme war (vgl. ebd.). 1977 wurden sie aufgelöst. Zusätzlich dazu gab es die Vorklas- se wie heute. Es scheint, daß die Zuweisung der Zwillinge in veschiedene Klassen in der Tat willkürlich vonstatten ging.

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  56. In seiner vergleichenden Analyse des bis 1991 gültigen Jugendwohlfahrtsgesetzes (JWG) und des danach in Kraft getretenen neuen Kinder- und Jugendhilfegesetzes (KJHG) macht Helmut Richter deutlich, daß die Praxis unter JWG und nach dem diesem zugrunde liegenden Verständnis für die von der Einweisung betroffenen Kinder oder Jugendlichen eine stigmatisierende Wirkung hatte. Die Rechtsbegriffe implizierten nach seiner Auffassung „fremddefinierte Defizite“, womit die „Gefährdung“ und „Verwahrlosung“ des Kindes bzw. Jugendlichen begründet wurden (Richter 1998: 170; auch Thiersch 1973: 57). Das abweichende Verhalten wurde im alten Jugendwohlfahrtsgesetz „mehr dem Kind zugeschrieben“ als seiner Umwelt wie es im neuen KJHG der Fall ist (vgl. Richter ebd.: 172).

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  57. Das JWG wurde zur Zeit der Heimunterbringung des Bruders, ungefähr 1976/77, höchst wahrscheinlich noch seinem Ursprung treu angewandt. Die Unterbringung wurde oft recht schnell eingeleitet.

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  58. Helmut Richter macht in seiner Abhandlung der Institutionen deutlich, daß das Heim als „Zwangseinrichtung“ erfahren wird, wenn die Heimeinweisung bzw. -aufenthalt als Ergebnis des Sorgerechtsentzugs angeordnet wurde. (Richter 1998: 167f)

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  59. Zeilen 3/10–11; 3/13–14; 3/17–18; 3/27–28; 4/7–8; 4/14–15; 4/19–20; 4/30–5/5 im 1. Interview

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  60. Dieser Konflikt ist zwischen der Institution Heim und Immigrantenfamilien verschiedener Herkunft bereits mehrfach konstatiert worden, wobei er häufig auf den Dissenz zwischen den hiesigen und den fremden Normen zurückgeführt wird, oder wo dieser Konflikt nicht besteht, wird er von den Erzieherinnen antizipiert (vgl: Kallert/Akpinar-Weber 1993: 20ff).

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  61. Helmut Richter definiert Institutionen „als informelle oder formelle, auf Dauer gestellte Muster menschlicher Interaktionen, die in einer Gesellschaft legitim gelebt werden“ (Richter 1998: 18). Er ergänzt diese Definition mit einem Zitat von John Rawls: „Eine Institution existiert zu bestimmter Zeit und an bestimmtem Ort, wenn die von ihr festgelegten Handlungen regelmäßig ausgeführt werden und dies öffentlich erwartet wird“ (Rawls 1975: 75, nach Richter 1998).

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  62. „Dann hatt ich die Christine der ihr Eltern waren ziemlich lieb () ((langsamer)) obwohl die Eltern nicht so ausländer/freundlich waren mich mochten die unheimlich gern (...) -man nennt mich heute immer noch Sonja- ‚ach Sonja du bist sowieso anders als die anderen Ausländer’ und so und ich war schon irgendwie en Teü von denen““ (2. Int. 16/6–11) ja die Susanne hatt ich auch noch die Susanne war auch ganz lieb war ne mollige gewesen () und sie war e eigentlich immer so em eifersüchtig auf mich weil ich war so de Boss gewesen in der Klasse und ich hatte das Sagen gehabt (...) hab sie angesprochen und so (...) hab gesagt ja ich hab nix gegen dich ja und e ich meine e wenn die Jungs so auf mich abfliegen mir ist es scheiß egal’ die Jungs waren für mich nix gewesen, und dann seitdem also ich die angesprochen hab waren wir dicke Freundinnen (...) sie hat dann gleich mich ihrer Mutter vorgestellt und hat dann gesagt ja und e daß sie auf mich vorher eifersüchtig war und daß ich doch nicht so sei wie sie gedacht hätte und ich/ sie hat immer so Ausländerhaß früher gehabt und durch mich hat sie dann diesen Ha/ Haß überwunden und so“ (2. Int.: 16/23–40)

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  63. Siehe 1. Interview 5/3–5/17 (Segment 1.9)

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  64. Siehe die Gesamtinterpretation des Suprasegments „Partnerschaft und Ehe“

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  65. Nach der Theorie der „kognitive Figuren autobiographischen Stegreiferzählens“ sind die genannten Institutionen in der Lebensgeschichte von Serap Dursan wie „Organisationen, Gruppen (...) und soziale Bewegungen“ zu sehen; von denen sich „der Biographieträger“ „bestimmt, prozessiert, beeinflußt, eingeschränkt, gehindert, orientiert, verglichen und/oder mit neuen Aktivitätspotentialen versehen fühlen“ kann (vgl. Schütze 1984: 84f).

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  66. „Der Biographieträger steht mit den übrigen Ereignisträgern in einem Geflecht grundlegender und sich wandelnder sozialer Beziehungen. In vielen autobiographischen Erzählungen ist ein wesentliches Thema bzw. eine wesentliche Erzähllinie die Umgestaltung sozialer Beziehungen, die für den Biographieträger zentral sind.“ (Schütze 1984: 85f)

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  67. Siehe dazu oben die Ausführungen in „Mehrdimensionalität von Erzählfiguren am Beispiel des Institutions Heim“.

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  68. Siehe die Interpretation des Segments 2.8b im Abschnitt 1.2 in diesem Kapitel.

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  69. Mit den zwei Anläufen der Lebensgeschichte haben wir zwei Versionen bzw. Evaluationen der Migrationsgeschichte aus zwei verschiedenen Perspektiven vorliegen. Auf die Versionen der Lebensgeschichte wird im folgenden Zitat von Fritz Schütze Bezug genommen: „Zumindest indirekt steht die vom Informanten gewählte Erzähllinie mit der autobiographischen Thematisierung der lebensgeschichtlichen Gesamterzählung bzw. einer spezifischen Version der autobiographischen Thematisierung in Beziehung. Die Erzähllinie hat stets einen impliziten oder auch expliziten Bezug auf eine spezifische Version der Gesamtbiographie“. (Schütze 1984:106)

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  70. Zur „Erzählpräambel und deren Bedeutung fur die gewählte Erzähllinie bzw. die Gesamtgestalt der autobiographischen Stegreiferzählung“ siehe Schütze 1984, S. 106.

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  71. Siehe dazu die Ausführungen im Kapitel I Abschnitte 2 und 3.

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  72. Nach Schütze sind für Biographinnen „alternative Betrachtungsweisen“ bestimmter Abschnitte der Lebensgeschichte unter besonderen Gegebenheiten denkbar; zwei konkurrierende Erzähllinien für die gesamte Biographie würden allerdings zur Wucherung und „Expansion der argumentativ-theoretischen Passagen“ führen (Schütze 1984: 106f), was in der Selbstpräsentation von Serap Dursan nicht der Fall ist. Nur im ersten Anlauf kommen kurze Argumentationspassagen vor, zwar unmittelbar vor dem Tod des Zwillingsbruders. Dies hat wiederum mit dem Verlust der Identität als Zwilling, der Verdrängung vom Tod des Bruders wie mit ihrer eigenen vermeintlichen Verwicklung darin etwas zu tun (vgl. ebd.: 107f). Er starb ein Jahr vor dem Interview und zur Zeit des Interviews war alles, was mit dem Ereignis zu tun hatte, von der Biographin noch nicht verarbeitet gewesen.

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  73. Auch sind die Übernahme und Einsatz unterschiedlicher Diskurse durch die Biographin als Deutungsmuster von Aspekten der eigenen Lebensgeschichte in diesem Zusammenhang zu sehen.

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Gültekin, N. (2003). Bildung und Autonomie gegen Verluste im Migrationskontext — Fallanalyse. In: Bildung, Autonomie, Tradition und Migration. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09419-7_4

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