Zusammenfassung
„Auf das Opfer darf keiner sich berufen“, verurteilt Ingeborg Bachmann den Opferkult der Nachkriegszeit. „Es ist nicht wahr, daß die Opfer [...] Zeugenschaft [ablegen] für etwas, das ist eine der furchtbarsten und gedankenlosesten, schwächsten Poetisierungen. [...] Es ist Mißbrauch“ (IBW 4, 335f.). Ob als Beschwörung einer besseren Welt, eines „Morgenrots“, in der es keine Opfer mehr geben wird — oder, um vieles hautnaher, als vernichtende Selbstkritik am eigenen Schreibimpuls, der Einspruch bleibt bei aller Apodiktik merkwürdig uneindeutig. Denn mit gleicher Vehemenz hebt Bachmann ihr soeben gefälltes Urteil wieder auf, wenn sie zu bedenken gibt, daß „der Mensch, der nicht Opfer ist, im Zwielicht“ steht. Im Klartext bedeutet das: der unbeschädigte Mensch ist per se anrüchig. Legitimiert sie darnit nicht wiederum ihre den weiblichen Opfern unseres Jahrhunderts gewidmeten Todesarten-Darstellungen? Mit der Vertracktheit dieser Aporie ringt unter vielen anderen auch das Fragment „Requiem für Fanny Goldmann“. Denn bloßgelegt werden hier wie in den übrigen 3.000 Seiten der Kritischen Ausgabe die unzähligen Varianten der Kondition des Opfers, des öffentlich anerkannten, wie des privat verborgenen.
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Referenzen
Goldmann II erscheint wie eine Präfiguration von Trotta in „Drei Wege zum See“, IBW 2, 394–486. „[...] und auf welche Weise sich wirklich ein Mensch verändert hatte und vernichtet weiterlebte“ (S. 421).
Das ganze Fanny-Konvolut befindet sich in KA 1, Arbeitsphase 1964, S. 117–167, Requiem für Fanny Goldmann, S. 287–333, (Goldmann/Rottwitz-Roman), S. 337–452. Der letzte Satz dieses Fragmentes beschäftigt sich noch mit dem Verhältnis zwischen Fanny und Goldmann: „Daß Fanny Goldmann auch zuletzt nicht sagen konnte, was sie von ihm wollte, [...], was sie von ihm erwartete, daß Goldmann Fanny nicht mehr rufen konnte, wie er sie gebraucht hätte, das ist eine so langsame und nächtliche Geschichte und unerzählbare Geschichte [...]“ (S. 452).
In: Jean Améry „Jenseits von Schuld und Sühne“, Bewältigungsversuche eines Überwältigten, Klett-Cotta, Stuttgart 1977, S. 74–101. Amnéry sieht sich als „traurigen Ritter Ohneland, getroffen vom Anathem“ (S. 78).
Hans Weigel „Unvollendete Symphonie“, Roman, Verlag Styria, Graz 1992.
„Unvollendete Symphonie“, S. 69.
ebd., S. 15.
ebd., S. 193f.
ebd., S. 199.
Burkhardt Lindner: „Ich: Wie bitte? Was soll das heißen? Hier braucht sich kein Mensch auszukennen.“ Ingeborg Bachmanns großer Prosa-Nachlaß: das „Todesarten“-Projekt. In: Frankfurter Rundschau, 28.11.1995, Literatur-Beilage, S. 2.
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Heidelberger-Leonard, I. (1998). Ernst Goldmann-Geschichten und Geschichte. In: Heidelberger-Leonard, I. (eds) „Text-Tollhaus für Bachmann-Süchtige?“. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-09184-4_5
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