Zusammenfassung
Ende der 80er Jahre unseres Jahrhunderts erzählt Elisabeth Ganser, einundachtzig Jahre alt und Hebamme in Niederbayern:
„War der Mann zur Hebamme unterwegs, gab es in jedem Dorf eine Frau, die so lange bei der Gebärenden blieb, damit sie nicht allein war, wenn etwa das Kind schon kam. Meine Mutter erzählte oft: »Die Bergschusterbäuerin hat euch alle auf die Welt gebracht, denn bis der Vater mit der Hebamm gekommen ist, wart ihr schon da.« Die Bergschusterbäuerin war unsere Nachbarin. Sie ging auch zu anderen Frauen als Ersatz für die Hebamme zur Geburt und hat es sehr geschickt gemacht — (...) Wenn die Bergschusterbäuerin selbst wieder so weit war, ging meine Mutter zu ihr.“ (Grabrucker 1989, S. 122)
Frau Ganser spricht hier von einer Geburtshilfe zwischen Nachbarinnen, wie sie anscheinend noch um die Wende des 20. Jahrhunderts in abgelegenen Dörfern praktiziert wurde. Damit hat sich eine Form der Hilfeleistung erhalten, die es bereits gab, bevor von einem Beruf der Hebamme gesprochen werden konnte. Die obenstehende Beschreibung könnte so gesehen auch aus dem 15. Jahrhundert stammen, einer Zeit, mit der meine Untersuchung des Geburtshilfewesens beginnt.
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Literatur
Jaques Gélis 1989: „In den meisten Fällen war (..) der Mann bei der Geburt nicht dabei, und seine Anwesenheit war auch gar nicht erwünscht. Wenn er zugegen war, dann handelte es sich meist um eine besonders schwere oder tragische Entbindung; seine Anwesenheit war daher meist ein ungutes Zeichen.“ (S. 161)
Die Weitergabe frauenheilkundlichen Wissens geschah mündlich und ausschließlich unter Frauen, in klerikalen handschriftlichen Überlieferungen ist deshalb davon nichts zu finden (Becker 1977, S. 88). Andere volksmedizinische Wissensinhalte wurden von Mönchen bereits im frühen Mittelalter gesammelt und niederge-schrieben. Das was die Kleriker über Medizin wußten, wußten sie also vom Volk und aus antiken und arabischen Quellen (Bitter 1990, S. 138).
Bräuche und Rituale um die Geburt werden von Labouvie (1992, S. 501/502) beschrieben; Loux 1980, S. 84–88 berichtet ebenfalls darüber. Gélis (1989, S. 224–230) schildert eine Osmose von christlichen und traditionellen Praktiken: Da sich die Bräuche häufig aus sogenannten heidnischen Glaubensquellen speisten, waren sie von der Kirche nicht gerne gesehen. Die Hebammen, als besonders Eingeweihte wurden auch besonders angegriffen.
Bitter 1990, S. 161, zitiert Elseluise Haberling, Beitrage zur Geschichte des Hebammenstandes 1, Berlin 1940, S. 21.
Grabrucker, S. 209, zitiert E. Wisselink, Hexen. München 1986, S. 37.
So jedenfalls sieht es Andreas Blauert, Historiker an der Universität Konstanz und Mitglied des „Arbeitskreises Interdisziplinäre Hexenforschung“, in einem Überblicksartikel in der Frankfurter Rundschau vom 31. 7. 1990: Von weisen Frauen und der Reise in die Welt der Toten. Themen und Stand der gegenwärtigen Hexenforschung in derBundesrepublik.
Im Jahr 1484 erscheint das Buch Der Hexenhammer der beiden päpstlichen Inquisitoren und Dominikanermönche Sprenger und Institoris, das die Hebammen als besonders zu verfolgende Gruppe hervorhob (Grabrucker 1989, S. 204).
Verrechtlichung: die zunehmend detaillierte Regulierung aller Lebensbereiche der modernen Gesellschaft durch neue, zusätzliche, ergänzende Rechtsnormen. Ursachen sind: beschleunigter sozialer Wandel, Pluralisierung und wachsende Komplexität der Gesellschaft (…).“ (Hilimann 1994, S. 902 f.)
Es wird vermutet, daß vor der Regensburger Ordnung eine möglicherweise verschollene Ordnung aus Nürnberg existierte. Dafür spricht, daß die Regensburger Ordnung mit der Hilfe einer Hebamme aus Nürnberg verfaßt wurde und daß in der Stadt Nürnberg seit 1442 alle Hebammen in ein „Ämterbüchlein“ eingetragen wurden (Scherzer 1988, S. 41).
Territoriale Medizinalgesetze - anfangs im Rahmen von Kirchen-und Polizeiordnungen - gibt es erst seit dem 16. Jahrhundert.“ (Putz 1994, S. 51)
Vor der Gründung der ersten Universitäten im 14. Jh. konnte die Medizin als Wissenschaft nur im Rahmen da Kirche, d.h. in Klöstern, betrieben werden (Birkelbach 1981, S. 90 f.). Aber auch die Universitäten standen in der Tradition christlichen Glaubens, die Mediziner „neuerer Generation“ waren also ebenfalls in gewissem Sinne Theologen (Ehrenreich 1975, S. 21).
Daß man nicht einfach ein Verbot gegen Unstudierte aussprach, muß verwundern. Offenbar wurde Heilen mit Frauen identifiziert, so daß man annahm, es seien vor allem Frauen, die den Akademikem ins Handwerk pfuschten.
Sie wurden zur Schmiedezunft gerechnet, da sie das Recht hatten, ihre Scheren und Messer selbst zu schleifen (Fischer-Homberger 1976, S. 1352).
Die an den Universitäten gelehrte Medizin stand unter dem kirchlichen Motto: „Der Kirche schaudert vor Blut“ (Ecclesia abhorret a sanguine), weshalb die Gelehrten blutige Verrichtungen den Chirurgen und Badern überließen (vgl. Grabrucker 1989, S. 203/ Birkelbach 1981, S.91 Schmitz 1994, S. 26).
„Ein Amt ist weder ein Gewerbe noch ein Beruf, ein Amt wird verliehen. Da man es nicht erwerben kann, setzt jedes Amt eine Hierarchie voraus: es legitimiert sich durch die Kraft der anerkennenden und belehnenden Autorität.“ (Wolf/Wolf 1995, S. 155)
Zum Vergleich ein Passus aus der Frankfurter Ordnung von 1573: „Zum ftinfften/Solt jhr solches ein ehr achten/daß jhr fruchtbar seit/Dann bei allen vôlckem allwegen die fruchtbarkeit für ein ehre/vnnd die vnfruchtbarkeit für ein verachtung ist gehalten worden /…“ (zitiert bei Pulz1994, S. 146) Frauen äußerte: „Ob sie sich aber auch müde und tzu letzt todt tragen, das schadt nicht, laß nur todt tragen, sie sind drumb da.”48
In der Heilbronner Hebammenordnung bereits Ende des 15. Jahrhunderts. Hier ist auch das Gebot zu lesen, die Hebammen sollten den „Herrn Physicos und Doctores der Artzney“, wenn sie von diesen examiniert würden, gehorsam (..) seyn (und) guten und richtigen Bescheyd ihrer Erfahrung (..) geben.” (Birkelbach 1981, S. 92)
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß es zwischen Verordnungen und der realen Handhabe zunächst große Unterschiede gab (vgl. Pulz 1994, S. 125).
Fischer-Homberger bemerkt dazu, daß die Hebammen - im Gegensatz zu den männlichen Konkurrenten - „nie autonome Berufsorganisationen Ihattenl, vielmehr scheint immer die Tendenz bestanden zu haben, die Hebammen behördlich, stadtärztlich, durch Männer zu kontrollieren.“ (Fischer-Homberger 1988, S. 46)
Diese Spitzenposition der Gelehrten korrelierte lange nicht mit einem adäquaten Sozialprestige und einer abgesicherten ökonomischen Situation, wie Frevert 1986 überzeugend darlegt.
Zitat v. Pulz (1995, S.• 119) aus: Eucharius Rößlin, Der Swangern Frauwen und hebamen Rosegarten. Straßburg 1513. Faks.-Druck. Zürich 1976.
Benedek (1977) bemerkt etwas vorsichtig, Rößlin „… almost certainly had no personal experience as an obstetrician.“ (S. 559) Als Geburtshelfer („obstetrician”) kann er jedoch mit Sicherheit gar keine Erfahrung gehabt haben, denn diesen Beruf gab es im 16. Jahrhundert noch nicht.
Zitiert nach Fischer-Homberger 1979, S. 89. Die Autorin bezieht sich auf folgende Ausgabe: Ambroise Paré, Wund Artzney oder Artzneyspiegell. Aus der lat. Ausg. von J. Guillemeau übers. v. P. Uffenbach, Frankfurt a. M.: Jacob Fischer 1635, S. 979.
Böhme meint meint diese Ausübungsart ihrer Tätigkeit noch bis ins 20. Jahrhundert zu sehen, was übrigens die Lebensberichte nicht nur der Landhebammen bei Grabrucker (1989), sondern auch die Biographien anderer, ebenfalls hauptsächlich auf dem Land, bis in die 1960er Jahre tätig gewesener Hebammen zeigen (siehe z.B. Maria Horner (1985): Aus dem Leben einer Hebamme, Adeline Favre (1982): Ich, Adeline, Hebamme aus dem Val d’Annieviers.)
Anonym in sofern, als es sich um mündlich tradiertes Wissen handelte, für das niemand als Besitzer gezeichnet hatte.
Pulz weist überzeugend nach, daß die Siegemundin die Quellen des Wissens, das über das durch eigene Erfahrung erworbene hinausging, in ihrem Werk verschweigt. Nach Meinung der Autorin hat die Hebamme in ihrem Buch nicht nur eigene Erfahrungen, sondern auch die ihrer Kolleginnen verarbeitet.
Hampe 1993, S. 16, zitiert aus der Antrittsrede des genannten Mediziners für die Professur an der Göttinger Universität.
wird am Hôtel-Dieu in Paris eine offizielle Entbindungsabteilung eröffnet. Auf Erlaubnis des ersten Präsidenten darf Mauriceau als erster männlicher Geburtshelfer in dieser Abteilung an allen Geburten (also nicht nur an den regelwidrigen) teilnehmen (Grabrucker 1989, S. 225).
Die beschriebene Abbildung ist bei Fischer-Homberger 1979, S. 23, zu sehen.
Zitiert nach Pulz, S. 113, die sich auf das in dem benutzten Werk der Siegemundin (Anm. 31) enthaltene Schriftstück „Wider Herrn D. Andreae Petermann Gründliche Deduction Nöthiger Bericht“, geschrieben von J. Siegemund, bezieht.
Zum Vergleich: die Hebamme Siegesmund half während ihrer gesamten Tätigkeit 6199 Kindern auf die Welt (Putz 1994, S. 59).
Um zu verstehen, daß sie tatsächlich keine anatomischen Kenntnisse im wörtlichen Sinne besaß, ist es hilfreich, die Bedeutung des Wortes Anatomie zu kennen: anatemnein (griech.) heißt genau übersetzt „zerschneiden“, anatomieren heißt folglich „(Leichen) zergliedern” (Wahrig, Dtsch. Wörterbuch, München/Gütersloh 1986).
Im Übrigen wurde ihnen der Gebrauch von Instrumenten in einigen Städten bereits im 16. Jahrhundert untersagt (z.B. Eßlingen 1558). Vgl. Kap. 1.3.3. in vorliegender Arbeit.
Elseluise Haberling: Der Hebamrnenstand in Deutschland von seinen Anfängen bis zum. Dreißigjährigen Krieg. Beiträge zur Geschichte des Hebammenstandes 1, Berlin 1940.
J. Siegemund: „Wider Herrn D. Andreae Petermann…“, a.a.O., zit. nach Pulz 1994, S. 160.
Auch die Anleitung der Siegemundin entsprach den Ansprüchen der Wissenschaftler nicht, selbst wenn sie sich lobend zum Inhalt äußerten. So z.B. Cohn: „Es geht ihr jeder Sinn für eine geordnete Darstellung ab; jedenfalls legt sie in dem vorhandenen Werke nicht im mindesten Wert auf die für den Unterricht so sehr notwendige Systematik des zu bewältigenden Materials.“ (Sigismund F. Cohn: Justine Siegemundin im Lichte moderner Geburtshilfe. Diss. Berlin 1899, S. 9; zit. bei Pulz, S. 101)
Fischer-Homberger bezieht sich hier wahrscheinlich nicht auf den deutschsprachigen Raum. Hier wurde erst 1852 ein Gesetz über den Einheitsstand der Ärzte erlassen (Ackerknecht 1974, S.189).
Nach Änderung einer bereits 1791 vorliegenden Fassung in Kraft getretene Kodifikation des gesamten preußischen Rechts. Es umfaßte über 19000 Paragraphen des Zivil- und Strafrechts sowie des Verwaltungs- und Verfassungsrechts (vgl. Meyers Großes Taschenlexikon 1990, S.240).
Da es bis ins 19. Jahrhundert üblich war, daß die Ärzte ins Haus des Patienten kamen und nicht umgekehrt und sie deshalb unter den Augen der Familie ihre Arbeit tun mußten (Frevert 1986, S. 184), waren sie einer Kontrolle unterworfen, die ihre Forschungsmöglichkeiten begrenzte und deren Ergebnisse verfälschte. Welche Befreiung in dieser Hinsicht das Spital war, beschreibt auch Foucault (1988, S. 123).
Konkurrenz erwuchs den Ärzten dort, wo es keine Medizinerkollegien gab, auch aus den eigenen Reihen. Dies galt z.B. für den Medicus Storch, dessen Schriften Duden 1987 untersucht „Die Bedrohung erwächst nicht von unten, durch Pfuscher und andere unakademische Heiler, sondern durch die eigene Gruppe, deren Fortkommen allesamt an den Unwägbarkeiten des Hofstaates zu hängen scheint.“ (S. 79)
Ein Beispiel aus den Frankfurter Hebammenordnungen: War 1816 der Ausbildung einer Hebamme bereits genüge getan, wenn sie einige Zeit als „Beiläuferin“ bei einer erfahrenen
Frevert 1986, S. 193, zitiert aus einem Artikel des Mediziners J.A. Unzer, in: Der Arzt. Eine medizinische Wochenschrift, Bd. 4, Hamburg 1769
Duerr 1994, S. 384, gibt eine Klage des Arztes Johann Georg Krünitz wieder.
Osiander beendete von 2540 Entbindungen 1016 mit der Zange (Scherzer 1988, S. 71).
Bestätigt wird diese Annahme zum Beispiel durch folgende Aussage des Professors Osiander: „…kommt es vorzüglich darauf an, so viele Operationen an Lebenden zu sehen als möglich, und auch da unter Aufsicht und Leitung eines Lehrers Hand anzulegen, ehe man sich selbst überlassen, zur Privatpraxis übergehet.“ (Metz-Becker 1994, S. 220, zit. Osiander: Denkwiirdigkeiten für die Heilkunde und Geburtshilfe…, a.a.O.)
Zwar versuchte man, einige Vorkehrungen zur „Schonung“ der Frauen zu treffen, diese waren jedoch wenig geeignet, Schamgefühle zu verhindern. Der Mediziner Dohm berichtet: „In Gießen stand in der Unterrichtsstunde die Schwangere hinter einem dicken Vorhang und der Praktikant durfte nur durch einen kleinen Schlitzdes Vorhanges seien Finger in die Genitalien der aufrecht stehenden Schwangeren einführen, worauf der Praktikant über den Befund referierte.” (R. Dohm, Geschichte der Geburtshilfe der Neuzeit, Tübingen 1903, Bd. 1, S. 84. Zit. bei Metz-Becker 1994, S. 226)
Diese ergab sich nicht daraus, daß hauptsächlich schwere Fälle in die Kliniken eingeliefert wurden. Die Frauen in den Accouchieranstalten hatten sich „aus purer sozialer Not“ für eine Entbindung dort verdingt (Metz-Becker 1994, S. 218).
Bemerkt wurde das Kindbettfieber bereits 1803 von Professor Stein in Marburg (Metz-Becker 1994, S. 222).
Das Wort Gynäkologie wurde von Carl Gustav Carus geprägt und bezeichntete nach seiner Auffassung „die Lehre von der Eigenthümlichkeit des weiblichen Körpers, seinem Bau, seinem Leben, seinen Krankheiten und der ihm angemessenen so diätetischen als ärztlichen Behandlung nach.“ (Honegger 1991, S. 208, zit. aus dem Werk von Cams, Lehrbuch der Gynhkkologie (…), Leipzig 1820, Bd. 1, S. 3 f.)
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Beaufaÿs, S. (1997). Der Prozeß geburtshilflicher Professionalisierung. In: Professionalisierung der Geburtshilfe. Zugänge zur Moderne. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-08879-0_2
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