Zusammenfassung
Das Verständnis der politischen und staatsrechtlichen Verhältnisse im heutigen Italien setzt eine Analyse ihrer historischen Entwicklungsprozesse voraus. In Italien wie in anderen europäischen Ländern waren bei der Nationenbildung über die ökonomischen und soziokulturellen Aspekte hinaus politische Faktoren ausschlaggebend, die vor allem die Expansion des Königreichs Piemont-Sardinien und die Neuordnung der europäischen Machtbereiche der Hegemonialkräfte Frankreich und Österreich betrafen. Im folgenden sollen die Hintergründe der Zentralismusoption seit der Entstehung der italienischen Nationalstaates sowie Ansätze föderaler oder dezentraler Alternativen untersucht werden. Besonders relevant für die Einschätzung der unterschiedlichen Perspektiven ist dabei, welchen Stellenwert die Süditalienfrage und der Entwicklungsausgleich zwischen den Landesteilen erlangt.
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Literatur
references>1 Bereits der etruskische Staat war in drei Regionen organisiert, die wiederum in lucomunien unterteilt und durch gegenseitige Beistandspakte miteinander verbunden waren (Morra 1993, 45). Im Mittelalter dominierten über Jahrhunderte die unabhängigen Kommunen.
Die Kämpfe des Risorgimento und die Unabhängigkeitskriege führten 1860 zur italienischen Einigung unter dem Haus Savoyen, die durch Volksabstimmungen bestätigt wurde, an denen allerdings, gemäß der Wahlgesetzgebung, weniger als 2% der damaligen Bevölkerung wahlberechtigt war. Diese Tatsache belegt den elitären, kaum integrationsfähigen Charakter des damaligen italienischen Staates (vgl. Lill 1991, 159). Im Januar 1861 wurde das erste italienische Parlament gewählt, die Proklamation des Königreichs Italien wurde am 17.3.1861 vorgenommen und im Jahre 1866 mit dem Anschluß Venetiens und 1870 mit der Eroberung Roms vollendet. Die Regierungen des liberalen Staates wurden 1860–1876, in der Phase der Konsolidierung des neuen Staates, von der destra storica,der liberalen Rechten,geführt. Das Jahrzehnt nach 1876 war von linksliberalen Regierungen gekennzeichnet, mit reformerischen Zielen (Wahlrecht), aber auch mit einer ausgepagten Praxis des Transformismus (vgl. Kap.l, Fußnote 43). Die 1880er Jahre waren durch die Agrarkrise charakterisiert, den Aufbau der Schwerindustrie im Norden des Landes (Option für den Aufbau der Industrie statt Förderpolitik für die Landwirtschaft; hieraus resultiert die enge Bindung zwischen Staat und Unternehmen, v.a. Großbetriebe und Staatsmonopole), aber auch das Erstarken der sozialistischen und anarchistischen Linken (Gründung der sozialistischen Partei 1892). Die darauffolgende sogenannte “Ara Crispi” von 1886 bis 1896 (die Phase der Regierungen Crispi, Di Rudini und Pelloux) war durch einen starken Autoritarismus, eine repressive Innenpolitik und erste imperialistische Tendenzen gekennzeichnet; “Crispi verkörpert für Italien den Übergang vom emanzipatorischen Nationalprinzip des Risorgimento zum agressiven Nationalismus” (Lill 1991, 162). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begann die linksliberale Wende Giolittis mit seiner Integrations-und Reformpolitik. Nach 1914 erfolgte eine nationalistische und imperialistische Rechtsverschiebung, die in den Übergang zum Faschismus mündete (ebenda, 161f.).
Cavour war seit 1852 Ministerpräsident Piemont-Sardiniens.
Der “zentralistische Statalismus” der Brüder Spaventa trug dazu nicht unwesentlich bei, d.h. die Theorie des “ethischen Staates” des Philosophen Bertrando Spaventa, der “Ideologe der historischen Rechten”, und die Politik seines Bruders Silvio Spaventa, der 1849 die “Geheimgesellschaft der Italienischen Einheit” gründete und dafür von den Bourbonen zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden war. Er wurde Minister für öffentliche Aufgaben unter der letzten Regierung der historischen Rechten, 1873–76 (Garzanti 1982, 1327).
Gesetz Nr. 2248 vom 20. März 1865 (mit 5 Anlagen).
Die italienische Einigung wurde durch die sogenannte “Konspiration” zwischen Cavour und Napoleon Ill. von Frankreich verirklicht, dem sogenannten Abkommen von Plombières. Es definierte die Basis für eine französisch-piemontesische Übereinkunft, die auf das Ende der österreichischen Besetzung Norditaliens abzielte und den 2. Italienischen Unabhängigkeitskrieg vorbereitete. Aus dem Krieg mit Osterreich resultierte demnach für Italien der Gewinn der Lombardei und der Toskana, während Nizza und Savoyen an Frankreich gingen (Keating 1988, 42).
Das Königreich Neapel hieß von 1442 bis 1458 und von 1816 bis 1860, nach der jeweiligen Annexion Siziliens, “Königreich beider Sizilien”. Die Namensgebung beruht auf der Unterscheidung zwischen dem kontinentalen Teil (Königreich Neapel, cifra pharum,der Meerenge von Messina) und der Insel Sizilien (Königreich Sizilien, ultra pharum).
Zwar war die Bildung des Nationalstaates von der intellektuellen Bewegung des Risorgimento begleitet, die ihr die politische Legitimation verlieh; ihr Einfluß auf die realen plitischen Staatbildungsprozesse war jedoch gering, denn die nationale Idee war nur innerhalb eines eng begrenzten Teils der Bevölkerung verbreitet. Mit risorgimento,Wiedererstehung, werden die italienischen Einigungsbewegungen im 19. Jahrhundert bezeichnet.
Siehe Romano 1977, zitiert nach Keating 1988, 41.
Vgl. das “Statut für das Junge Italien” von 1831. Zum “unitarischen Postulat” Mazzinis siehe auch Troccoli 1960, 62.
Der Entwurf des Innenministers Luigi Carlo Farini für eine neue Verwaltungsgesetzgebung 1860 sah in den Regionen “moralische Körperschaften”, die Untereinheiten mit weitgefaßten administrativen Kompetenzen “innerhalb einer ausgeprägten Einheit der Nation” bilden sollten. Das Projekt war, auch in der vom neuen Innenminister Minghetti (1818–1886) ausgearbeiteten Version Anlaß großer Polemiken und wurde 1861 von der zuständigen Parlamentskommission abgelehnt, da ein Wiederaufleben von “antiken politischen Bezirken” in “den Augen vieler” wie ein “Kult der Vergangenheit” erschienen wäre (Gizzi 1991, 3). Vorausgegangen war bereits 1815 der Vorschlag Metternichs eines italienischen Bundes (lega italica),der an dem Widerstand des Papstes und des Königs von PiemontSardinien scheiterte (Gruner 1991, 126).
Gian Domenico Romagnosi, Jurist, Philosoph und Wissenschaftler.
Philosoph, Historiker und Vertreter der linken Demokraten, war Protagonist des Mailänder Aufstands von 1848 gegen die Österreicher und zeichnete sich durch anti-piemontesische und antimoderate Positionen aus. Cattaneo vertrat einen empirischen, rationalen, logischen Wissenschaftsansatz und wandte sich gegen das vorherrschende idealistische “poetische” Denken. Sein wichtigstes Werk, Psicologia delle menti associate,wurde von 1859 bis 1866 verfaßt.
In: Scritti politici ed epistolari, II,48.
in: Considerazioni sulle cose d’Italia,Ill, 329, zitiert nach Morra 1993, 75.
Philosoph und Politiker; schrieb das Werk Federalismo Repubblicano.
Die Guelfen oder Welfen waren im Mittelalter die Anhänger der päpstlichen Politik. Ihre Gegenspieler, die Gibellinen, waren die antipäpstlichen Anhänger der Hohenstauffenkaiser in Italien. Die wichtigsten Gegner des Neoguelfentums waren die Neogibellinen mit unitarischen und republikanischen Zielen (Giusti, Nicolini, Guerazzi). Die beiden wichtigsten Werke des katholischen Föderalismus sind ll primato morale e civile degli ita-liani von Vincenzo Gioberti (1843), sowie Le speranze d’Italia von Cesare Balbo (1844). Gioberti trat in Konflikt mit den katholischen Autoritäten und vor allem mit den Jesuiten, und wurde des Pantheismus und des Laizismus bezichtigt (Morra 1993, 51). Er entfernte sich später von seinen föderalen Ideen und schlug eine reformistische und unitarische Lösung vor; vgl. Del rinnovamento civile d’Italia von 1851. Balbo sah ebenfalls eine konföderale Lösung für den italienischen Staat, gab dabei jedoch im Unter- schied zu Gioberti dem sabaudischen Königreich eine wichtige Rolle. Das Hindernis stelle vor allem die österreichische Besatzung dar; Österreich würde jedoch in Zukunft das Interesse an Italien verlieren, da es weit stärker auf den Balkan und den Orient orientiert sei (Morra 1993, 55f.).
Die Zollunion zwischen der Toskana, Piemont und dem Kirchenstaat unter dem Reformpapst Pius IX. 1847, auf der Schwelle der 1848-Revolution, schien bereits in diese Richtung zu weisen.
Sull’unità d’Italia, 1848.
Auf die Teilvereinigung des Landes von 1861, ohne den Kirchenstaat, reagierte der Vatikan mit der katholischen Abstinenz vom politischen Leben auf staatlicher Ebene. Non expedit war die Formel, mit der der Vatikan am 10.9.1874 die Beteiligung der Katholiken, als “Wähler oder Gewählte” an den politischen Wahlen und den konstitutionellen Institutionen untersagt hatte und die bis 1904 in Kraft blieb.
Der Legitimismus war die politische Doktrin des göttlichen Ursprungs der königlichen Macht; auf dieser Basis hatte er die Wiedereinsetzung der bourbonischen Monarchen zum Ziel. Die Sanfedisten hatten in Neapel unter der Führung des Kardinals Ruffo eine “Armee des heiligen Glaubens” (esercito della Santa fede) zur Bekämpfung der Republik von 1799 gegründet.
Unter dem sogenannten Brigantentum werden die Ausfälle gegen die staatlichen Institutionen verstanden. Das Brigantentum dauerte bis 1870 an. Es band in Süditalien bis zu 120.000 Soldaten, die Hälfte des nationalen Heeres, und kostete beide Seiten nicht weniger als 10.000 Tote (Morra 1993, 93 ).
Die Kompetenzen der Regionen betrafen die Bereiche öffentliche Arbeiten, Schulen, Industrie, Handel, Landwirtschaft, Arbeit, Wohlfahrt, Hygiene und staatliche Dienstleistungen, die vom Staat an die Regionen oder an gemeinsame Organe delegiert werden sollten (Gizzi 1991, 6 ).
Zum Meridionalismus Sturzos siehe ausführlicher Kap. 11.2.
Garibaldi und seine Freiwilligen fanden ein Königreich, in dem die Unzufriedenheit siedete, und eine altersschwache königliche Administration und Armee, die sofort vor seinen Truppen zusammenbrach, so angewachsen wie diese sofort durch lokale Freiwillige waren“ (Keating 1988, 43). Nach fünf Monaten wurde der Süden dann dem piemontesischen König überantwortet und die Einigung Italiens inklusive des Mezzogiorno Realität. Sardinien war allerdings nicht erst 1860, sondern bereits 1718 ins piemontesische Königreich eingegliedert worden.
Siehe auch Salvadori 1976, Galasso 1978. Zur wirtschaftlichen Entwicklung Ende des 19.Jahrhunderts und zur Interdependenz zwischen entwickelten und rückständigen Gebieten siehe auch Barbagallo 1980, 26ff.
Daraus resultierte der sogenannte “Zollkrieg” mit Frankreich; der Export von hochwertigen landwirtschaftlichen Gütern ging daraufhin stark zurück und erreichte erst 1906 wieder das Niveau von 1887 (Praussello 1979, 13).
Ursächlich erscheint nicht zuletzt die Tatsache, daß die meridionalistischen Berater Cavours süditalienische Exilanten waren, die die bourbonischen Gefängnisse kennengelernt hatten, und die den Süden mit dem Ziel seiner Eingliederung wissentlich oder unwissentlich als ein Eldorado darstellten, das unter liberalem Regime automatisch aufblühen würde (Mack Smith 1994, 144).
Unter Transformismus wird die Auflösung traditioneller parteimäßiger Formationen verstanden, auch der Opposition, zugunsten wechselnder parlamentarischer Mehrheiten (Wieser/Spotts 1988, 311 ). Dadurch werden oppositionelle Strukturen ins System integriert (vgl. Kap.l ).
In dieser Untersuchung zu den Lebensverhältnissen in Sizilien 1876–77 wurde erstmalig ein ökonomischer Ansatz der Mezzogiornofrage vertreten (Barbagallo 1980).
Pasquale Villari (1826–1917), ein Vertreter des liberalen Meridionalismus, veröffentlichte 1875 seine Süditalienischen Briefe, die erstmals die Existenz einer Süditalienfrage herausstellen, die er als Konsequenz der mangelnden Beteiligung der Bevölkerung des Südens am Einigungsprozeß und der daraus resultierenden “fragilen Konsensbasis” sah. Eine Reform der Besitz-und Produktionsverhältnisse und eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung habe nicht stattgefunden, eine produktive Mittelschicht und eine neue leadership habe sich nicht entwickelt, und die alte herrschende Klasse nutze die liberalen Institutionen wie einen “privaten und persönlichen Herrschaftsbereich” (Villari 1920; Bevilaqua 1994, 73). Giustino Fortunato (1848–1932) brach als einer der ersten mit der Interpretation, der Süden sei mit natürlichem Reichtum gesegnet und nur durch die Bourbonen heruntergewirtschaftet; und mit der weit verbreiteten Ansicht einer “rassischen Unterlegenheit” der Süditaliener (Keating 1988, 114). Er forderte, auch als Parlamentsabgeordneter, eine neue liberale Politik für den Süden, die die Einheit tatsächlich verwirklichen sollte. Sie müsse allerdings der Tatsache Rechnung trug, daß eine Option für das self government die Macht an lokale Eliten aushändigen würde, die ihrerseits ein Problem darstellten (Korruption, Allianz mit dem Norden). Spezifische Investitionen sollten im Süden getätigt werden, um die Wirtschaft zu entwickeln, und ein allgemeiner Militärdienst sollte den unitarischen Geist stärken und den kulturellen Partikularismus des Südens brechen (ll Mezzogiorno e lo Stato italiano von 1911; Keating 1988, 114).
Francesco Nitti (1868–1953) hatte bereits um die Jahrhundertwende, insbesondere mit seiner Untersuchung über die Tagelöhner im Mezzogiorno 1910, die SUditalienfrage in Bezug zu der Frage der Regionalisierung bzw. Föderalisierung des Staates gestellt. Er stellte die weitaus kleineren Vorteile und größeren Nachteile heraus, die die italienische Einigung für die Regionen Süditaliens mit sich brachte. Er belegte erstmalig die später von den meisten Meridionalisten geteilte These, die Einigung und die Steuerpolitik des liberalen Staates habe einen Nettotransfer von Ressourcen aus dem Süden in den Norden des Landes bewirkt (Passiello 1979, 14). Daraus resultierte seine Forderung nach einer energischen Reformpolitik des Staates für Süditalien (Gizzi 1991, 4). Die “unsichtbare Hand” des Marktes könne allein keine nationale Wirtschaft aufbauen, sondern eine gezielte öffentliche Politik der Industrialisierung sei notwendig (Barbagallo 1980, 36ff.).
Gaetano Salvemini (1873–1957), Politiker und Historiker, war Sozialist seit 1893, trat aber später aus der sozialistischen Partei aus.
Wichtigstes Werk Guido Dorsos (1892–1947) war die La rivoluzione meridionale von 1925. Die Aktionspartei war 1942 aus der Gruppierung Giustizia e libertà durch die Initiative zahlreicher radikaler, republikanischer Intellektueller entstanden, die sich auf die Ideale der ersten republikanischen Bewegung unter Mazzini beriefen (Alf 1977, 28).
Auch Napoleone Colajanni (1847–1921) stellte Ende des Jahrhunderts die Notwendigkeit einer politischen Lösung der Mezzogiornofrage heraus, die die Mittelklassen und den autonomen regionalen Politikrahmen in den Vordergrund stellte.
Siehe ebenda zur Frage der Priorität der Bildung vor dem allgemeinen Wahlrecht. 37 Zitiert nach Salvadori 1976, 110.
Zum Dezentralismus Sturzos siehe auch Kap.11.1. Nach dem ersten Weltkrieg stellte Sturzo die Autonomie des Südens allerdings immer mehr hinter das Ziel der Durchsetzung eines politischen Katholizismus zurück (Keating 1988, 117).
Vgl. Fußnote 26.
Diese Einstellung wurde durch das Wachstum der “garantistischen” Tradition im Süden bestätigt (Keating 1988, 113). Der Garantismus bezeichnet in der juristischen Ordnung das Prinzip, nachdem auf die Garantie von Recht und Freiheit der Bürger gegenüber der Autorität des Staates größter Wert gelegt wird.
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Seitz, M. (1997). Der Italienische Regionalstaat: Historische Entwicklung und Föderalistische Traditionen. In: Italien zwischen Zentralismus und Föderalismus. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-08614-7_3
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