Zusammenfassung
Nach dem verlorenen Krieg kam es in Deutschland zu einer allgemeinen »Verdrängung des Nationalsozialismus«.1 Erst im Laufe der sechziger Jahre konnte die »Verleugnung der Geschehnisse im Dritten Reich«2 aufgebrochen werden. Für die Rezeption eines antifaschistischen Romans herrschten somit in den fünfziger Jahren keine günstigen Voraussetzungen, und deshalb verwundert es nicht, daß man dem Autor 1953 nach dem Erscheinen der Insel des zweiten Gesichts, dort nicht mehr folgen wollte, »wo er deutschen Geist für etwas verantwortlich« mache »was nur Ausgeburt barbarischen Ungeistes genannt werden« dürfe.3 Andere beanstandeten ein angeblich »unvergorenes Ressentiment gegen die NaziDeutschen«.4 Der Verdacht, daß für Thelen »Nation, Heimat und Volk [...] leere Begriffe« seien, führt 1956 gar zu infamer Diffamierung: »Antifaschismus und Kosmopolitanismus feiern bei Thelen eine erzwungene, düstere Hochzeit miteinander. Gleichwohl kann das glänzende intellektuelle Gepränge dieser Hochzeit nicht die Geburt eines Wechselbalges verhindern, dessen Ähnlichkeit mit dem Faschismus vielleicht sogar den Autor frappieren wird.«5 Trotz solcher Außerungen schreibt man Thelen ein Jahr darauf als selbstgerechte Mahnung »ins Stammbuch: die braune Schminke der vor einem Jahrzehnt zu Ende gegangenen tausend Jahre ist abgeblättert, abgewaschen. Darf man als urbaner Mann von >den< Deutschen sprechen? In deinem nächsten Buch [...] lieber Vigoleis, auch hier noch ein bißchen Gerechtigkeit.
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Literatur
Siehe dazu Ludwig Fischer: Die Zeit von 1945 bis 1967 als Phase der Gesellschafts- und Literaturentwicklung, S. 58–60, Zitat S. 60.
Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 14; siehe dazu auch S. 24 u. 40.
Gisela Bonn: Ein neuer Don Quichotte.
Gerhard Sanden: Unsterblicher Roman, S. 44.
Alfred Antkowiak: Literatur des zweiten Gesichts, S. 144.
Heinz Schöffler: Über Maler — über Dichter, S. 44.
Werner Welzig: Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert, S. 108.
Siehe dazu Franz Trommler: Auf dem Wege zu einer kleineren Literatur, S. 29f.; Ralf Schnell: Die Literatur der BRD, S. 76f.; Erhard Schütz/Jochen Vogt: Einführung in die deutsche Literatur von 1918 bis zur Gegenwart, S. 14f.
Siehe dazu Friedhelm Kröll: Die konzeptbildende Funktion der Gruppe 47, S. 370; Tatjana Michaelis: Paradigmen der Literaturkritik, S. 615f.
Siehe dazu Jürgen Pütz: Doppelgänger seiner selbst, S. 33.
Ebd., S. 53; siehe dazu auch Werner Jung: Erzweltschmerzler und Diebsverbeller Albert Vigoleis Thelen, S. 126.
Gisela Bonn: Ein neuer Don Quichotte.
Anonym: Kampf gegen die Kartoffel, S. 34.
G. H.: Albert Vigoleis Thelen Die Insel des zweiten Gesichts, S. 205.
Ebd., S. 211.
Ebd., S. 205.
Karl Rauch: Zeitgeschehen im Spiegel des Humors.
Siehe dazu Alfred Grosser: Geschichte Deutschlands seit 1945, S. 87.
Siehe dazu etwa ebd., S. 253–255; Dietrich Thränhardt: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 65–71.
Ralf Schnell: Traditionalistische Konzepte, S. 227.
Siehe dazu Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 10, 24 u. 30f.
Siehe dazu Ludwig Fischer: Die Zeit von 1945 bis 1967 als Phase der Literatur- und Gesellschaftsentwicklung, S. 59.
Siehe dazu Dietrich Thränhardt: Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, S. 70f.
Ralf Schnell: Traditionalistische Konzepte, S. 215.
Friedhelm Kröll: Anverwandlung an die >klassische Moderne‹, S. 255.
Ralf Schnell: Traditionalistische Konzepte, S. 226.
Frank Trommler: Nachkriegsliteratur — eine neue deutsche Literatur?, S. 171.
Wilhelm I Heinrich Pott: Die Philosophien der Nachkriegsliteratur, S. 266.
Werner Jung: Die Insel des zweiten Gesichts, — eine antifaschistische Lektüre?, S. 23.
Ebd., S. 26.
Siehe aber Rosmarie Zeller: Die poetischen Verfahren Albert Vigoleis Thelens, S. 343: »Dem Buch fehlt wohl auch in einer Zeit, wo der Existentialismus die herrschende Philosophie ist, der im deutschen Sprachgebiet so geschätzte Tiefsinn, die ›tiefere‹ Problematik, die Auseinandersetzung mit Zeitproblemen«.
Werner Jung: Die Insel des zweiten Gesichts, — eine antifaschistische Lektüre?, S. 26.
Zur existentialistischen »Verteufelung der >Massen‹« und zur »Kulturkritik«, verbunden mit dem Ekel »vor der Geschichte«, siehe Wilhelm I einrich Pott: Die Philosophien der Nachkriegsliteratur, S. 265f.
Vgl. Alfred Andersch: Die Kirschen der Freiheit, S. 130; siehe dazu Karl Esselborn: Neubeginn als Programm, S. 236.
Siehe dazu Wilhelm Heinrich Pott: Die Philosophien der Nachkriegsliteratur, S. 265f., Zitat S. 266.
Siehe dazu Francisco Sanchés-Blanco: Ortega y Gasset: Philosoph des Wiederaufbaus?, S. 106.
Vgl. diese Arbeit, Kap II, S. 37.
Friedhelm Kröll: Anverwandlung an die >klassische Moderne‹, S. 255. Somit ist für Thelens Roman bereits ein Entwicklungsstand zu konstatieren, der in der deutschen Literatur auf breiterer Basis erst in den sechziger Jahren mit der Entwicklung »operativer Schreibkonzepte« erreicht wird, »die radikal jede Autonomie von Kunst aufgeben« (Hans Gerd Winter: Das >Ende der Literatur< und die Ansätze zu operativer Literatur, S. 299f.). Es ist keineswegs ein Zufall, daß die Autoren der dokumentarischen Literatur die Authentizität des verwendeten Materials ebenso betonen wie der Verfasser »angewandter Erinnerungen«.
Karl Esselborn: Neubeginn als Programm, S. 236.
Anton Krättli: Doppelt angewandte Erinnerungen, S. 16; siehe auch Johannes Roskothen: HHermetische Pikareske, S. 154.
Vgl. dazu folgende Ausführungen von Vigoleis: ›» ›Passen Sie auf. Jeder Gegenstand, besser: jedes Ding der uns umgebenden Welt ist eine Welt an sich. Jede neue Sprache, die ein Mensch erlernt, um bei der Linguistik zu bleiben, ist wiederum eine Welt an, aber auch für sich. Man spricht ja heute schon ganz allgemein vom Weltbild einer Sprache. [...] In meiner langjährigen Erfahrung als Linguistiker [...] habe ich erkannt ,daß eine fortschreitende Sublimierung der Umwelt die Aufnahmefähigkeit des Schülers erhöht. In Deutschland, und noch als Student, ist es mir, zu Füßen von Max Scheler, zum ersten Male recht klar geworden, soweit einem in einem Kolleg dieses Philosophen etwas klar werden konnte, daß die Gegenstandssphäre mit Gewalt aus unserem Um-, nicht Unbewußten herausgerissen werden muß, wollen wir zur reinen Erfassung vorstoßen. Mit anderen Worten, mein Freund: je weniger sich im Klassenzimmer oder Hörsaal an Umwelt befindet, je kleiner wird der Ablenkungskoeffizient bei der lernenden Masse, wobei natürlich in Rechnung zu bringen ist, daß auch die Hörer wieder eine Umwelt bilden, die sogenannte Umumwelt, die einer Eigengesetzlichkeit unterliegt«‹ (S. 495).
So ist er trotz seine Abneigung gegenüber Keyserlings Plan nicht zu jenem »doppelten Schwindel« zu bewegen, den Vigoleis vorschlägt, um auf pikarische Weise dem Betrüger mit Betrug zu begegnen: › »Mitmachen, Graf Keßler! Sie stellen Keyserling jetzt ein Thema, er hat noch drei Tage Zeit, es zu präparieren, und wenn er auf der Bühne steht und seinem Komplizen zublinzelt, stellen Sie ihm ein Bein und nennen ein anderes. Ein Schwindel ist den anderen wert. Beide Themen müssen aber so sein, daß er sich die Zähne ausbeißt. Der Gauner muß mal hochgenommen werden!‹« Der Versuch des Schelms, den Philosophen selbst »durch Zwischenfragen auf politisches Glatteis« zu führen, scheitert allerdings bereits im Ansatz (S. 736).
Betont schüchtern bewegt er sich durch den Saal, drückt »sich aufs letzte Bänkli nieder« und läßt sich von dort nur widerstrebend »an den Grünen Tisch zerren« (S. 736).
Die Gestaltungsintention wird deutlich sichtbar, wenn man diese Passage mit dem vergleicht, was Keßler am 26. Januar 1935 in seinen Tagebüchern über den gemeinsamen Auftritt mit Keyserling notiert: »Da er mich gebeten hatte, ihn zu unterstützen und an dem Gespräch teilzunehmen, neben ihm am Vortragstisch gesessen. Mit Francis de Miomandre auf seiner andren Seite. Gespräch über >Mechanisierung und Kultur‹. Keyserling stellte mich mit einem glühenden Lob meines Rathenau-Buches dem mallorQuinischen Publikum vor. [...] Ich stellte Keyserling die Frage, wie er sich die Rolle der nordischen und südlichen Völker in der neuen >statischen‹ Zeit denke [...]. Er gab eine ziemlich konfuse und unbefriedigende Erklärung.« Von einer entsprechenden Replik berichtet Keßler jedoch ebensowenig, wie von vorausgegangenen Absprachen: »Vor dem Vortrag bei Keyserling auf seinem Zimmer und eine halbe Stunde mit ihm unter vier Augen. Er sagt, er sei schrecklich von den Nazis behandelt worden, viel schlimmer als seinerzeit von den Bolschewiken« (Harry Graf Kessler: Tagebücher, S. 732f.).
»Er lebte nur noch dem Memoirenwerk, in das er sich wie für einen endlosen Winter einmummelte. Tagesfragen der Politik und vor allem die des Nazireiches berührten ihn kaum« (S. 635).
Ludwig Fischer: Die Zeit von 1945 bis 1967 als Phase der Literatur- und Gesellschaftsentwicklung, S. 89f.
Frank Trommler: Nachkriegsliteratur — eine neue deutsche Literatur?, S. 171.
Horst Ohde: Die Magie des H leilen, S. 349.
Auch Werner Jung erscheinen »idyllische Züge« des Insellebens »aufgrund der andauernden politischen Gefährdung höchst zweifelhaft« (Die Insel des zweiten Gesichts, — eine antifaschistische Lektüre?, S. 25).
Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 24.
Siehe dazu diese Arbeit, Kap. III, S. 59.
»Vigoleis versteht es nicht, natürliche Landschaften zu schildern. Für die Natur besitzt er kein Organ« (Karl Heinz Kramberg: Vigoleis, der Doppelgänger, S. 133).
Ludwig Fischer: Dominante Muster des Literaturverständnisses, S. 204.
Siehe dazu Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 272.
Hans Mayer: Konfrontation der inneren und äußeren Emigration, S. 79.
Vgl. etwa S. 601: »>Wiederholen Sie, was habe ich zuletzt gesagt?‹«, oder »›Dann kommen Sie mit, sofort, wir müssen ein Exempel statuieren.‹«; vgl. auch S. 665.
Vgl. auch S. 598: Vigoleis erfährt von Silberstern, daß »seine Brüder alle hocharische Namen trügen, fünf Stück, alles mit Fried und Wolf und I eim, und eine Schwester endete auf Linde. Dennoch ginge es ihnen jetzt allen an den I als, obwohl die Familie an den Großmut des Führers glaube.«
Vgl. auch die abweisende Reaktion eines anderen ratsuchenden Emigranten, als Vigoleis »fürchterlich über die Deutschen« zu schimpfen beginnt: »Der I Herr verbat sich schließlich solche Anpöbeleien seines Vaterlandes« (S. 649).
So auch bei Silberstern: »Wenn das Gespräch auf Deutschland kam, weinerte der geizige Schleimling mit einem feuchten Auge« (S. 674).
Siehe dazu Hans Mayer: Die umerzogene Literatur, S. 33f.
»Das Dritte Reich, hub Graf Keßler an, werde noch sehr lange dauern [...] Er sei pessimistisch, und in diesem Pessimismus der ewige Optimist, denn er habe nun seine Memoiren in Angriff genommen, [...] unbekümmert um alles, was nun in seinem geliebten Deutschland vor sich gehe. Er begänne, wo ihm der Weg von vorne abgeschnitten sei, zurück zu leben« (S. 629).
Siehe dazu Egbert Krispyn: Exil als Lebensform, S. 103; Helmut Koopmann: ›Geschichte ist die Sinngebung des Sinnlosen‹, S. 18f.
Siehe dazu Matthias Wegener: Exil und Literatur, S. 100.
Vgl. etwa die lapidaren Ausführungen über das Spitzelwesen auf Mallorca: »Auch murkste man ab« (S. 471).
Theodor W. Adorno: Ist die Kunst heiter?, S. 603. Daß Komik auf eine so zweifelhafte Weise wie durch die äußerliche Beschreibung eines Geistesschwachen in der Episode mit dem Kindermakler Don Fulgentio erzeugt wird (vgl. S. 591f.), bleibt im Roman von Thelen eine — freilich unrühmliche — Ausnahme.
Dies drückt auch ein Kommentar auf S. 761 aus: »Es ist ja das Wunderbare an jedem Kriege, daß der Mensch schon nach wenigen Greueltaten in den Schoß der Urgreuel zurückkehrt.«
So etwa die vergebliche Jagd nach der letzten eßbaren Schnecke (vgl. S. 760) oder die versehentliche Gefangennahme des Admirals der britischen Mittelmeerflotte (vgl. S. 761f.).
Auf die motivische Bedeutung militärischer Kleidung für die im Roman von Thelen konstitutive Opposition zwischen Spanien und Deutschland ist schon im Zusammenhang mit Pedros Rekrutierung hingewiesen worden; vgl. diese Arbeit, Kap. IV, S. 102f.
Siehe etwa Georg Bemanos: Die großen Friedhöfe unter dem Mond, S. 124–126.
Siehe dazu Franz Borkenau: Kampfplatz Spanien, S. 110f.
Siehe dazu ebd., S. 166.
Bereits den widrigen Umständen im Turm der Uhr entziehen sie sich so weit als möglich mit Hilfe ihrer Lektüre (vgl. S. 193 u. 199), und auch nach dem Umzug bleibt ihnen der Kauf eines Buches wichtiger als die Anschaffung notwendigen I Hausrats (vgl. S. 328).
Theodor W. Adorno: Asthetische Theorie, S. 16.
Diese gilt besonders für motivierte Neologismen wie »Pilarière«, deren Bedeutung sich ja ausschließlich immanent aus dem Zusammenhang der Handlung ergibt. Sie machen jedoch nur einen sehr kleinen Teil des den Rahmen durchschnittlichen Sprachgebrauchs übersteigenden Vokabulars (siehe dazu Anhang B) aus, dessen Sperrigkeit für die Eigentümlichkeit und relative Autonomie des ästhetischen Kontinuums mitkonstitutiv ist.
Theodor W. Adorno: Asthetische Theorie, S. 19.
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Neumann, M. (2000). Literatur als vermeintlicher Fluchtraum. In: Der pikarische Moralist. Literaturwissenschaft/Kulturwissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-08182-1_6
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