Zusammenfassung
»Ringsum hatte sich die graue Schicht der Nacht gehoben, als wir das Achterdeck betraten, unausgeschlafen, wie aus der Naht getrennt, leicht fröstelnd in der Brise, die den Kimm reinfegte und uns bald schon das Schauspiel der näher rückenden Steilküste Mallorcas bot.« Diese einleitende Schilderung der Ankunft von Vigoleis und Beatrice auf der Mittelmeerinsel erweckt höchstens vorübergehend den Eindruck, als befänden sich die beiden auf einer touristischen Vergnügungsreise. Sollte sich die Darstellung weiterhin auf Ansichtskartenniveau bewegen, müßte sich eine empfindsame Beschreibung des reizvollen Sonnenaufgangs unmittelbar anschließen. Stattdessen folgen einfühlungsstörende Reflexionen, die ganz entgegengesetzte Bilder — etwa das »einer Schlackenhalde« (S. 13) — verwenden, und eine entromantisierende pseudowissenschaftliche Betrachtung des Naturschauspiels (vgl. S. 14). Ein solches Verfahren der Evokation und Irritation von Klischeevorstellungen durchbricht Wahrnehmungsgewohnheiten. Dadurch unterscheidet sich die Insel des zweiten Gesichts deutlich von konventionellen Urlaubsberichten. Wie läßt sich der Text aber in das breite Spektrum der künstlerischen Reiseliteratur einordnen? Naheliegend ist es, wiederum an den spanischen Pikaroroman zu denken, dessen Protagonist ja ebenfalls zu den Vaganten gehört.
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Literatur
Siehe dazu Michael Josef Aichmayr: Der Symbolgehalt der Eulenspiegel-Figur, S. 61 u. 71–75; Jürgen Jacobs: Das Erwachen des Schelms, bes. S. 61.
Anonym: Das Leben des Lazarillo von Tormes, S. 13f.
Siehe dazu Bruno Schleussner: Der neopikareske Roman, S. 26ff.
Vgl. bes. G. H.: Albert Vigoleis Thelen Die Insel des zweiten Gesichts, S. 206; Stefan Quante: Die Insel des zweiten Gesichts — Ein moderner Schelmenroman?, S. 101; Willy Schumann: Wiederkehr der Schelme, S. 470f. Siehe dazu Walter Seifert: Die pikareske Tradition im deutschen Roman der Gegenwart, S. 201f
Siehe dazu Michael Josef Aichmayr: Der Symbolgehalt der Eulenspiegel-Figur, S. 57.
Siehe dazu Klaus-Jürgen Hermanik: Ein vigolotrischer Weltkucker, S. 78.
Daß die Erlebnisse von Albert Vigoleis Thelen auf Mallorca generell einer literarischen Gestaltung unterliegen, bedarf keiner erneuten Bekräftigung. Die Möglichkeit, das Primat und die Tendenz der künstlerischen Gestaltung im einzelnen an den Abweichungen der Romanfabel von zeithistorischen Berichten über die Ereignisse ablesen zu können, besteht auf Grund der spärlichen Quellenlage jedoch nur selten. Von einem »Hurenabenteuer«, das dem Umzug in den Turm vorausgeht, ist indes auch in einem bisher unveröffentlichten Brief die Rede, den der Autor der Insel des zweiten Gesichts am 29. August 1931 an Vic van Vriesland schrieb. Die betreffende »Bordellspezialistin« sei »auf ihrem Gebiete sehr leistungsfähig«, wird dort mitgeteilt, könne aber »weder lesen noch schreiben« und habe »ein Kind von neun Jahren«. Der Einspruch von Delen und seiner Frau gegen die brutale Mißhandlung der Tochter habe den Zorn der Mutter erregt und schließlich zur fluchtartigen Übersiedlung des bei ihr logierenden Paares in eine Pension geführt (Anhang A, S. 169). Die Übereinstimmungen mit Herkunft und Verhalten der Figur Maria del Pilar sind evident — und doch finden sich auch gravierende Abweichungen von der literarischen Fabel: Anders als im Roman greifen Thelen und seine Frau in die mütterlichen Prügelexzesse nicht aktiv ein, sondern machen lediglich später »Don Pedro [der vollständige Name von Thelens Schwager lautet Peter Herbert Zwingli Bruckner, siehe dazu Hans Ester: Gespräch mit Albert Vigoleis Thelen, S. 10] Vorhaltungen« deswegen. Erkennbar wird die epische Stilisierung des Protagonisten zum quijotesken Retter der Unterdrückten, welcher den Kampfplatz schließlich als begossener Tor verlassen muß (vgl. S. 120f.). Und auch die Bezeichnung »waschechte Vettel« läßt nichts von der erotischen Faszination ahnen, die Pilar auf den Protagonisten ausübt. Zu betonen ist nochmals, daß es bei diesem Vergleich nicht darum geht, die »angewandten Erinnerungen« der Unwahrheit zu überführen, sondern die ästhetische Durchformung des Materials sichtbar zu machen, damit die Frage nach ihrer Bedeutung präziser gestellt werden kann.
Für die Behauptung, »innerhalb der erzählten Zeit« bestehe das Desengaño-Erlebnis in der schmerzlichen »Erkenntnis, von dem in den letzten Zügen geglaubten Schwager Zwingli übertölpelt« worden zu sein (Guillaume van Genmert: Don Quijote und Sancho Panza zugleich, S. 49), findet sich im Text kein Anhaltspunkt.
Vgl. auch die Situation bei Zwinglis späterer Rückkehr auf die Insel: »Die Rollen waren vertauscht« (S. 653).
Für den preußischen Hauptmann von Martersteig beispielsweise sind die Inselbewohner nur »die komischen Leute« (S. 150).
Don Quijote vergißt über seinen Abenteuerromanen »die Jagd und selbst die Verwaltung seines Vermögens« und veräußert schließlich »manchen schönen Acker […], um Ritterbücher zu kaufen« (Miguel de Cervantes Saavedra: Der scharfsinnige Ritter Don Quixote von der Mancha, S. 60).
Wie Vigoleis bei seine Ausflügen in die Kammern von Julietta (vgl. S. 39f.) und Pilar (vgl. S. 105ff.), so ist auch Don Quijote durch die Magd Maritornes erotischer Versuchung ausgesetzt (vgl. ebd., S. 188–190).
Zu denken ist hier einerseits an die bereits erwähnte Parteinahme von Vigoleis für Julietta im Streit mit der Mutter (vgl. S. 120f.), andererseits etwa an Don Quijotes letztlich nicht weniger vergebliches Eintreten für einen mißhandelten Knaben (vgl. ebd., S. 82–86).
Siehe dazu Armin Halstenberg: Ein Clown, der Tränen weint, S. 25f.
Wirnt von Gravenberc: Wigalois der Ritter mit dem Rade, S. 69.
Ebd., S. 65f.
Ebd., S. 216; unerfindlich bleibt, warum Karl August Horst den angenommenen Namen Vigoleis »eher auf den Wächter Vigilius« beziehen möchte (Doppelgänger Vigoleis, S. 894).
Franz Borkenau: Kampfplatz Spanien, S. 363.
Siehe dazu ebd., S. 13f.
Siehe dazu Rolf Grimminger: Aufklärung, Absolutismus und bürgerliche Individuen, S. 18f.
Siehe dazu Franz Borkenau: Kampfplatz Spanien, S. 30–38.
Guillaume van Gernert: Don Quijote und Sancho Panza zugleich, S. 48. Eine Zusammenschau der Forschungsarbeiten, die den Traditionszusammenhang immerhin bemerken, gibt Klaus-Jürgen Hermanik (Ein vigolotrischer Weltkucker, S. 172–176), dessen eigene Darstellung zur Thematik nicht über van Gemerts im Titel seines Aufsatzes genannte Formel hinausführt (vgl. ebd., S. 180–183).
Guillaume van Gernert: Don Quijote und Sancho Panza zugleich, S. 53f.
So wird Don Quijote von Guillaume van Gernert charakterisiert (ebd., S. 48).
Vgl. ebd., S. 42.
Rosmarie Zeller: Die Insel des zweiten Gesichts — ein Tragelaph?, S. 63.
Werner Jung: Albert Vigoleis Thelen und jean Paul, S. 89. Vgl. auch Anna Krüger: Albert Vigoleis Thelen, S. 298: »Von den vier Merkmalen, die Jean Paul für den Humor nennt, finden sich in seinem [Thelens] Werk die humoristische Totalität, Subjektivität und Sinnlichkeit.« Was dies bedeutet, erläutert die Interpretin jedoch nicht.
Werner Jung: Albert Vigoleis Thelen und Jean Paul, S. 88.
Ebd., S. 84.
Albert Vigoleis Thelen: Im Gläs der Worte, S. 58.
Werner Jung: Albert VigoleisThelen und Jean Paul, S. 89.
Ebd., S. 87.
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 133.
Ebd., S. 132.
Martin Walser: Selbstbewußtsein und Ironie, S. 178.
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 128.
Ebd., S. 132.
Ebd., S. 128.
Ein solches Selbstverhältnis zeugt keinesfalls von jener Ich-Schwäche und Identitätskrise, die Vertreter der biographischen Interpretation in der erzähltechnischen Ich-Dopplung erkennen wollen (vgl. Ria Hess: Untersuchungen zu Albert Vigoleis Thelens Die Insel des zweiten Gesichts, S. 35f.; Jürgen Pütz: Doppelgänger seiner selbst, S. 175–178 u. 189–191). Die Ergebnisse dieses aus methodischen Gründen abzulehnenden Verfahrens sind somit nicht einmal immanent schlüssig.
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 139.
Franz Kafka: Der Proceß, S. 7.
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 143.
Die hier beschriebene literarische Funktionalisierung des biographischen Materials läßt sich wiedenum mit I Iilfe eines Briefes konturieren, den Telen am 9. Okt. 1931 an Vic van Vriesland sandte. jener berichtet darin, er habe die Aufgabe übernommen, das Romanmanuskript des kriegsbeschädigten Kampffliegers Hauptmann Kindermann abzutippen. Als Entgelt erhält Thelen dessen gesamtes Mobiliar, da der Rentner aus gesundheitlichen Gründen zum Umzug nach Alikante gezwungen ist. Vom Abschluß des Handels zeigen sich »beide Parteien […] hochbeglückt« (Anhang A, S. 174f.).
So streitet Don Quijote etwa gegen Windmühlen, die er für Riesen hält (vgl. Miguel de Cervantes Saavedra: Der scharfsinnige Ritter Don Quixote von der Mancha, S. 112f.).
Auch Don Quijote vermag zwischen Fiktion und Realität nicht mehr zu unterscheiden (vgl. ebd., S. 61f).
Jean Paul: Vorschule der Asthetik, S. 138.
Werner Jung: Albert Vigoleis Thelen und Jean Paul, S. 85.
Grundlegende Analogien zwischen den beiden literarischen Typen erkennt auch Klaus-Jürgen Hermanik (Ein vigolotrischer Weltkucker, S. 175): »Der für das Pikareske typische Zusammenfall von Narrheit und Klugheit bestimmt leitmotivisch auch den Charakter Ion Quijotes«.
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 140.
Vgl. auch die impliziten Anspielungen auf die Freudsche Psychologie auf S. 517, 594 u. 618.
Nicht auf praktische Nutzung im üblichen Sinne zielt Vigoleis mit seinen Erfindungen, sondern ihm geht es um »das Glück des schöpferischen Augenblicks« (S. 484), wenn er etwa nach der Formel für »leuchtende Druckerschwärze« sucht, mit der man im Dunkeln lesen könnte (S. 333), einen »pneumatischen Schlafanzug« oder einen »sich selbst spitzenden Bleistift für Bibelforscher konzipiert, die sich noch Gedanken beim Lesen machen und das Gedachte dann aufschreiben wollen« (S. 620).
Auch Hermann Wallmann merkt in seiner Laudatio auf Albert Vigoleis Thelen (S. 23) an, im Zusammenhang mit Beatrice eröffne »sich ein Assoziationsraum für — Dantes Divina Comedia«, freilich ohne die Funktion der Anspielung zu erläutern. Daß es legitim ist, diesen Bezug herzustellen, beweist auch eine andere Textstelle des Romans, wo es heißt: »Dante hatte seine Beatrice, Vigoleis tat es auch nicht darunter« (S. 285). Wiederum wird deutlich, wie biographisch zufällige Namen im literarischen Kontext semantisch aufgeladen werden können.
So aber mißversteht Heinz Beckmann (Der quijoteske Vigoleis) die Darstellung. Bei ihm stößt darum die »Ausmalung« der Ereignisse im Turm »nach Bildern aus der Hedigen Schrift« auf helle Empörung: »Aus den untersten Müllkübeln verrotteter Ressentiments« stamme eine derartige Verunglimpfung — sic gebe »ein trauriges Beispiel für die vergrellte Zuchtlosigkeit eines Geistes im luftleeren Raum«.
Siehe dazu Jürgen Pütz: Vergessene Weltliteratur, S. 13; sowie den Brief von Thelen an die Dülkener Narrenakademie vom 17.9.1967, S. 254.
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Neumann, M. (2000). Epische Makrostrukturen. In: Der pikarische Moralist. Literaturwissenschaft/Kulturwissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-08182-1_3
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