Zusammenfassung
Zwei Aspekte kennzeichnen die klassisch soziologische Diskussion der Staatsbürgerschaft: zum einen die zentrale Bedeutung gesellschaftlicher Krisen im Zuge historischer Umbrüche, deren Wahrnehmung zum Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung mit dem Konzept der Staatsbürgerschaft wird; zum anderen der Versuch, auf der Grundlage einer Analyse der Funktionsweise nationaler Staatsbürgerschaft diese als entscheidendes Instrument zur Regulierung dieser Krisen zu bestimmen. Die Arbeiten Emile Durkheims, T.H. Marshalls und Talcott Parsons’ — den Klassikern einer Soziologie der Staatsbürgerschaft — markieren den Beginn dieser Auseinandersetzung, in der der Beitrag nationaler Staatsbürgerschaft zur Institutionalisierung sozialer Ordnung thematisiert, und Staatsbürgerschaft als Krisenkonzept begriffen wird.
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Literatur
Vgl. Max Weber (1985) zu den Ursprüngen der Staatsbürgerschaft; Tönnies (1979) implizit zum Wesen sozialer Mitgliedschaft; Marx (1988) zur historischen Errungenschaft und bloßem Schein staatsbürgerlicher Rechte; Turner (1993b).
Zu Durkheims Moralbegriff siehe Durkheim (1986a); Müller (1986); zum Begriff der Moralität siehe Durkheim (1984).
Müller (1991; 1993) hat wiederholt darauf hingewiesen, daß Durkheim keine politische Soziologie im eigentlichen Sinn entwickelt hat.
Siehe dazu ausführlich Allardt (1968).
Vgl. Giddens (1977a); Müller (1991).
Zu dieser Auseinandersetzung siehe Hamilton (1990); Meier (1987).
Siehe zu diesem Problem Wallwork (1972).
Vgl. die werkgeschichtliche Einführung in Durkheims ‘Arbeitsteilung’ bei Müller/Schmid (1988).
Zu dieser Einschätzung siehe Müller (1991); Schmid (1989); Tyrell (1985).
Ausführlich hierzu Müller (1983; 1991; 1993).
Zu Durkheims Forschungsprogramm siehe Müller (1983); Müller/Schmid (1988).
Zum Begriff der Anomie siehe Durkheim (1987; 1988).
Durkheim ( 1991: 108f) diskutiert eine solche mögliche Perspektive vorsichtig, skeptisch und bestenfalls als einen ersten Schritt vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Kosmopolitismus und einem egoistischen Individualismus: “Es gäbe durchaus eine theoretische Lösung für das Problem; man bräuchte sich nur vorzustellen, daß die Menschheit insgesamt als Gesellschaft organisiert wäre. Doch es liegt auf der Hand, daß solch eine Vorstellung, falls sie denn überhaupt realisierbar sein sollte, in eine so ungewisse Zukunft verwiesen werden muß, daß es gar keinen Sinn hat, sie bei unseren Überlegungen zu berücksichtigen. Vergeblich gilt heute als Endpunkt der Entwicklung größerer Gesellschaften, als sie gegenwärtig existieren, zum Beispiel eine Konföderation der europäischen Staaten. Eine solch umfassendere Konföderation wäre aber ihrerseits wieder ein Einzelstaat mit eigener Persönlichkeit, eigenen Interessen und einer eigenen Physiognomie. Die Menschheit wäre sie noch nicht.”
Vgl. hierzu Durkheims (1995a) Auseinandersetzung mit dem Deutschland seiner Zeit.
Zu seinem Verständnis von Individualismus siehe Durkheim (1986b).
Diese Bedeutung Durkheims ist in der Sekundärliteratur fast vollständig ignoriert worden. Ausnahmen bilden Lockwood (1974; 1987; 1996); Müller (1995a); Turner (1986).
Zu dieser Analyse des Durkheimschen Forschungsprogramms siehe ausführlich Müller (1983)
Dies ist die Tradition soziologisch gehaltvoller Theorie der von Beck (1983; 1986) in ausgedünnter Form thematisierten Prozesse der Herauslösung, Freisetzung und Wiedereinbindung von Individuen im Zuge gesellschaftlicher Modernisierung.
Zur Bedeutung sozialer Rechte siehe Harrison (1991); Roche (1992); Turner (1991; 1997).
Die Bedeutung zeigt sich auch an der Neuveröffentlichung von ‘Citizenship and Social Class’: Marshall/Bottomore (1992).
Siehe hierzu Aron (1974); Dahrendorf (1974); Nisbet (1974).
Die besten Auseinandersetzungen mit Marshall findet sich nach wie vor bei Barbalet (1988) und Turner (1986).
Es ist zweifellos Anthony Giddens’ Verdienst, diese Debatte angestoßen zu haben. Giddens (1983; 1985; 1994) betont zwar die Bedeutung der Staatsbürgerrechte für die Analyse gegenwärtiger Industriegesellschaften, kritisiert jedoch Marshalls evolutionistischen Ansatz, die Annahme einer Entwicklungslogik, die Vernachlässigung industrieller Rechte, seine Auffassung von Staatsbürgerrechten als homogenem Bündel und schließlich die Verallgemeinerung des historischen Falles Großbritannien zu einem allgemeinen Konzept der Staatsbürgerschaft. Zu einer interessanten Kritik an Giddens’ Interpretation siehe Held (1990c). Zu Giddens’ anhaltender Auseinandersetzung mit Marshall siehe Giddens (1996a).
Die Diskussion läßt sich grob vereinfacht in Positionen unterteilen, die dem Marshallschen Konzept positiv oder ablehnend gegenüberstehen. Zur Diskussion, die eng an Marshalls Konzept blieb, siehe Barbalet (1988) und Turner (1986; 1988); zu jenen, die sich um die produktive Weiterentwicklung bemühen siehe v.a. Turner (1990; 1991; 19936; 1993c ); Barbalet (1993); Hall/Held (1989); Jenson (1996); Jenson/Phillips (1996); Roche (1987; 1992; 1995); Somers (1993; 1994; 1995a; 1995b) für eine historische Kritik und den Versuch, den Zusammenhang der Diskussion um Staatsbürgerschaft und Zivilgesellschaftstheorie herzustellen. Dazu ferner Cohen/Arato (1992); in demokratietheoretischer Perspektive v.a. die Arbeiten von David Held (1990a; 1990b; 1990c; 1991a; 1991b; 1993a); Mouffe (1992a; 1992b; 1992c; 1993a); Zolo (1993). Ferner Jessop (1978); Oldfield (1990), Parry (1991); Stewart (1995). Grundsätzliche Kritik an der Brauchbarkeit des Marshallschen Konzepts kommt dagegen vor allem aus feministischer Perspektive: Dietz (1992); Lister (1991; 1995); Pateman (1989a); aus der Perspektive eines kulturellen Pluralismus Young (1989; 1990); ferner Taylor (1989).
Zu dieser Frage siehe die Diskussion zwischen Mann (1987) und Turner ( 1990 ). Mann zieht den emanzipatorischen Charakter der Staatsbürgerrechte im Rahmen eines historisch-komparativen Zuganges in Zweifel und definiert sie als Integrationsinstrument für eine Vielzahl politischer Regime. Turner entwickelt gegen diesen ‘klassenreduktionistischen’ Zugang ein stärker soziologisch geprägtes Verständnis der Herausbildung der Staatsbürgerschaft, indem er entlang der beiden Achsen öffentlich/privat und aktiv/passiv unterschiedliche historische und kulturelle Traditionen der Genese nationaler Staatsbürgerschaft herausstellt.
Zu dieser Perspektive siehe Lockwood (1992); Turner (1986).
Vgl. Bendix (1960); Dahrendorf (1987); Lockwood (1974).
Darauf weisen Barbalet (1988) und Janowitz (1980) hin.
Vgl. dazu Parsons’ Durkheim-Interpretation (1968; 1993).
Zur Bedeutung der Vorstellung eines dynamischen Gleichgewichts siehe Parsons (1976).
Parsons’ Gebrauch der Begriffe soziale und ökonomische Rechte ist äußerst irreführend. Er benutzt beide Begriffe, klärt aber nicht, daß sie für ihn eine einzige Dimension staatsbürgerlicher Rechte darstellen. Vgl. Parsons ( 1977a: 336, 338, 340 ).
Zu den Differenzierungsprozessen der gesellschaftlichen Subsysteme von der gesellschaftlichen Gemeinschaft Toby (1977); Müller/Schmid (1995a).
Vgl. auch Alexander (1983: 98): “Parsons is concerned with the transition from a particularistic societal community to a universalistic one, a process which he views as synonymous with the growth of citizenship.”
Parsons (1977a) unterscheidet zwischen Klasse im alten und neuen Sinn. Erstere stellt für ihn eine vorübergehende Phase des historischen Entwicklungsprozesses moderner Gesellschaften dar, die durch das Verhältnis von Kapital und Arbeit gekennzeichnet ist. Klasse im neuen Sinn hat dagegen den Charakter eines vielgliedrigen Schichtsystems.
Parsons (1977a: 327) betont gleichwohl die fortbestehende Bedeutung der Familie, um erworbene Merkmale von Generation zu Generation weiterzugeben.
Vgl. hierzu die hervorragende Studie zur ‘amerikanischen Universität’ von Parsons/Platt (1973).
Zu diesem Prozeß siehe Barbalet (1988); Hettlage (1996).
Vgl. Jenson (1996); Jenson/Phillips (1996). Zu unterschiedlichen historischen Kontexten siehe Heater (1990).
Offe (1987).
Zur Fordismusdebatte und dem Begriff des Akkumulationsregimes siehe Aglietta (1976); Hirsch/Roth (1986).
Dies kann m.E. auch für Parsons behauptet werden, obwohl er in der Inklusion von Immigranten keine Probleme sieht. Dies ist allerdings nur vor dem Hintergrund eines universalistischen Anspruchs der Werte zu begreifen, die über das Bildungswesen in Nationalstaaten der westlichen Zivilisation vermittelt werden.
Zum Begriff des ‘citizenship regime’ siehe Jenson (1996); Jenson/Phillips (1996).
Zu einem normativen Kriterienset nationaler Staatsbürgerschaft siehe Brubaker (1989a; 1989d).
Zu seiner unzureichenden Behandlung des Exklusionsproblems siehe Parsons (1977a: 359).
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Mackert, J. (1999). Die Tradition einer Soziologie der Staatsbürgerschaft. In: Kampf um Zugehörigkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-07982-8_3
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-07982-8_3
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-531-13361-4
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