Zusammenfassung
Man gesteht es sich ja ungern ein, aber der Höhepunkt der sprachwissenschaftlichen Forschung in Deutschland lag zweifellos im neunzehnten Jahrhundert. Die Werke der Bopp, Grimm, Humboldt, Paul, Brugmann sind Klassiker, sie werden nach wie vor von den Gelehrten des In- und Auslandes zitiert, mehr wahrscheinlich als jedes linguistische Werk deutscher Zunge, das im zwanzigsten Jahrhundert erschienen ist. Das ist ein Kompliment für unsere Urgroßväter, aber keines für unsere Großväter, für unsere Väter, für uns. Immerhin, eines kann man schon festhalten: seit Mitte der Sechzigerjahre hat die sprachwissenschaftliche Forschung hierzulande wiederum einen erheblichen Aufschwung genommen, in der damaligen DDR etwas früher als in der (alten) Bundesrepublik. Ursprünge und weiterer Verlauf dieser Entwicklung sind verwickelt, und je nachdem, welcher Richtung man anhängt, kann man sie auch ganz unterschiedlich sehen. Der Gang der Wissenschaft folgt ja selten den Vorstellungen der Wissenschaftstheorie, er hat zahllose Momente des Zufalls, ebenso viele Ungerechtigkeiten, und das Ergebnis gleicht einer chaotisch wachsenden Großstadt, in der ständig etwas Neues gebaut, vieles halbgebaut stehen gelassen und selten etwas abgerissen wird und in der die vielen darin Tätigen unablässig nach schwer durchschaubaren Prinzipien hin und her wuseln. Sie alle verfolgen ihre Pläne; aber man hat nicht den Eindruck, dass es gelungen ist, „die verschiednen Mitarbeiter in der Art, wie die gemeinschaftliche Absicht erfolgt werden soll, einhellig zu machen: so kann man immer überzeugt sein, daß ein solches Studium bei weitem noch nicht den sicheren Gang einer Wissenschaft eingeschlagen, sondern ein bloßes Herumtappen sei.“ (so Immanuel Kant am Beginn der „Kritik der reinen Vernunft“).
Gibt es eigentlich eine Partei der Leute, die sich nicht sicher sind, recht zu haben? Da würde ich gern Mitglied werden.
Camus
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Klein, W. (2001). Die Linguistik ist anders geworden. In: Anschütz, S., Kanngießer, S., Rickheit, G. (eds) Spektren der Linguistik. Studien zur Kognitionswissenschaft. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-07764-0_4
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