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Der „Fatum-und-Geschichte-Textkomplex“. Ein gescheiterter Versuch der emanzipatorischen Reflexion der entfremdenden Sozialisationserfahrungen

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Zusammenfassung

Die Texte, die im folgenden analysiert werden, betrachte ich als gedanklich eng zusammengehörend und fasse sie unter der Bezeichnung “Fatum-und-GeschichteTextkomplex” (FGT) zusammen. Dieser Komplex umfaßt drei Hauptteile: 1. eine kleine Abhandlung “Fatum und Geschichte” (HKAW II,54), geschrieben in den Osterferien 1862 und als Synodalvortrag im Verein “Germania” präsentiert; 2. ein kleiner Aufsatz “Willensfreiheit und Fatum” (HKAW II,60) und 3. ein Fragment eines Briefes vom 27. April 1862 an die beiden anderen Vereinsmitglieder der “Germania”, Wilhelm Pinder und Gustav Krug. Der Aufsatz “Willensfreiheit und Fatum” ist nicht datiert und ist im Nietzschenachlaß unter einer anderen Hauptnummer registriert als die beiden anderen Komponenten des Textkomplexes. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß alle drei Texte gedanklich und zeitlich eng zusammengehören.

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Anmerkungen

  1. Vgl. dazu besonders Johann Figl, der theologisch sachverständig den aufklärerisch kritischen Geist nachweist, der in Schulpforta das Studium der Bibel prägte. (Figl, S.55f) Auch Ross betont den liberal-aufklärerischen Geist der Schule. Ganz besonders aufschlußreich ist sein Hinweis auf einen jungen Griechischlehrer, Dietrich Volkmann, der nach Ross als nur 23jähriger nach Pforta kam und neben seinem Unterricht im Griechischen auch Privatstunden im Englischen gab. Ross vermutet, daß es Volkmann war, der das Interesse Nietzsches für Byron, “die Unmoral in Person”, und für den “freigesinnten amerikanischen Pfarrersohn Emerson” weckte. (Ross, S.590

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  2. Ross, S.59.

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  3. Zum Geburtstag 1862 wünscht sich Nietzsche Feuerbachs “Wesen des Christentums”, was zumindest darauf schließen läßt, daß man in Pforta Feuerbachs Gedanken diskutierte. (HKAW 1,251)

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  4. Kohut, S.70.

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  5. Vgl. Deussen, S.4.

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  6. Die depressive zynisch-dämonische Stimmung, in der Nietzsche sich zu dieser Zeit oft befand, kommt außerordentlich deutlich zum Ausdruck in einem kleinen Novellenfragment, das er einem Freund schickt, zum Ausdruck. Der Text trägt alle Züge einer onanistischen Phantasie. (HKAW 11,71f)

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  7. Vgl. Mahler, Margareth S., u.a., “Die psychische Geburt des Menschen”.

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  8. Vgl. Horney, Karen, “Neurosis and Human Growth”.

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  9. Es bleibt allerdings problematisch, inwiefem bei der schweren Persönlichkeitsstörung Nietzsches eine Selbsttherapie denkbar wäre. Er selbst hat seine Philosophie als Selbsttherapie verstanden, m. E. hat sie aber keinen therapeutischen Effekt gehabt, sondern nur sein Problem reproduziert und radikalisiert. Wenn Miller im “Drama des begabten Kindes” von Therapie spricht, ist die Mitwirkung eines Therapeuten vorausgesetzt. Für die Ansichten Millers über das Verhältnis eines narzißtisch mißbrauchten Kindes zu seiner Kindheit ist der folgende Abschnitt charakteristisch: “Die Fähigkeit zu trauern, d.h. auf die Illusion über die eigene ‘glückliche’ Kindheit zu verzichten, gibt dem Depressiven seine Lebendigkeit und Kreativität wieder und kann den Grandiosen — falls er eine Analyse überhaupt aufsucht — von den Anstrengungen und der Abhängigkeit seiner Sisyphos-Arbeit befreien. Kann ein Mensch, in einem langen Prozeß, erleben, daß er nie als das Kind, das er war, sondern für seine Leistungen, Erfolge und Qualitäten ‘geliebt’ worden ist, daß er seine Kindheit für diese ‘Liebe’ geopfert hat, so wird ihn das zu großen inneren Erschütterungen führen, aber er wird eines Tages den Wunsch verspüren, mit dieser Werbung aufzuhören. Er wird in sich das Bedürfnis entdecken, sein wahres Selbst zu leben und sich nicht länger Liebe verdienen zu müssen, eine Liebe, die ihn im Grunde doch mit leeren Händen zurückläßt, weil sie dem falschen Selbst gilt, das er aufzugeben begonnen hat. Die Befreiung von der Depression führt nicht zu einer dauernden Fröhlichkeit oder zum Mangel an Leiden, sondern zur Lebendigkeit, d.h. zur Freiheit, spontan auftretende Gefühle leben zu können. Es gehört zur Vielfalt des Lebendigen, daß diese Gefühle nicht immer heiter, ‘schön’ und ‘gut’ sein können, sondern die ganze Skala des Menschlichen offenbaren, d.h. auch Neid, Eifersucht, Wut, Empörung, Habgier, Verzweiflung und Trauet Aber diese Freiheit ist nicht zu erreichen, wenn ihre Wurzeln in der Kindheit abgeschnitten wurden. Daher ist der Zugang zu seinem wahren Selbst für einen narzißtisch gestörten Menschen erst möglich, wenn die intensive, ‘psychotische’ Gefühlswelt seiner frühen Kindheit nicht mehr gefürchtet werden muß.” (Miller 1979, S.94f) Zwar kann man, wie z.B. die Texte “FG” und “Euphorion” belegen, nicht sagen, daß Nietzsche konsequent seine Kindheit und seine Mutter idealisiert. Nur der Vater ist Gegenstand einer permanenten Idealisierung. Nietzsches kritische Überlegungen zu Problemen seiner Kindheit haben aber nicht — allenfalls in der kurzen Passage im “FGT” — den Charakter eines emotionellen Anschlusses an verdrängte Gefühle des mißbrauchten Kindes und bewirken keine Trauerarbeit, die es ihm ermöglicht hätte, seine Wut der Mutter gegenüber zu erleben und sich zu seinen allzumenschlichen Gefühlen zu bekennen. Wenn er später im Leben, z.B. in “Ecce homo” das Kindheitsmilieu kritisiert, geht er im Gegenteil davon aus, daß er von Natur ein besonders exklusives Gefühlsleben besitzt, das die Mutter und die Schwester wegen ihrer ‘Canaillenhaftigkeit’ nicht verstanden haben. Viele von den weniger “schönen” Gefühlen tut Nietzsche sein Leben lang als unvomehm und seiner unwürdig ab und kategorisiert sie als Ressentiments. Was das Problem der Kreativität betrifft, so hat seine Sozialisation diese eher gefördert als gehemmt, aber wie an anderer Stelle nachzuweisen versucht wurde, hat die Kreativität Nietzsches vor allem mit seinem Zugang zu archaischen Schichten seiner Seele zu tun, die eben nicht mit seiner sozialen Umwelt kommunizieren und nicht in seine Persönlichkeit integriert sind. Die Kreativität Nietzsches trug kaum zur Integration seiner abgespaltenen Gefühlswelt in sein Bewußtsein und seine Persönlichkeit bei, sondern befestigt die Spaltung und kompensiert den Verlust der echten Gefühlswelt durch grandiose Selbstinszenierung und momentane rauschhaft-euphorische Exaltationen, die mehr mit Psychosen zu tun haben als mit lebendigen menschlichen Gefühlen. Sowohl Miller als auch Horst-Eberhard Richter betonen die Verachtung für die Kleineren und Schwächeren als Ausdruck der eigenen abgespaltenen Schwäche. “Der Starke, der um seine Ohnmacht weiß, weil er sie erlebt hat, braucht nicht mit Verachtung Stärke zu demonstrieren.” (Miller 1979, S.113). Horst-Eberhard Richter schreibt in seinem Erinnerungsbuch “Die Chance des Gewissens”: “Ich las die vielen Briefe, in denen Nietzsche das Leiden an seiner chronischen Krankheit und an seiner Vereinsamung beschrieb. Verstohlenes Selbstmitleid entdeckte ich zuerst in seinen Gedichten. Dann wurde mir deutlich, daß in der grenzenlosen Wut auf die christliche Moral der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit eine Abwehr genau der Bedürfnisse steckte, die er so verächtlich machte. In einem rasenden narzißtischen Trotz verbat er sich, was er in seiner Moralphilosophie als bloßes kollektives Ressentiment interpretierte und bekämpfte: Die Schwachheit sollte ausgemerzt, die Ohnmacht durch einen unbegrenzten Machtwillen getilgt werden. Nietzsche benötigte den Traum von der Übermenschen-Omnipotenz als unentbehrliches Rezept zur Unterdrückung seiner Depressionen, des Bewußtseins seiner Einsamkeit und seines Siechtums. Es war ein elender gequälter Mensch, der in sich niederzukämpfen versuchte, was in der Gesellschaft unterdrückt und ausgerottet werden sollte.” (Richter 1986, S.278)

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  10. Vgl. dazu auch Ross, 5.65.

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  11. Heideggers Idealisierung von Nietzsche kommt z.B. deutlich in seiner kritiklosen Interpretation von “Zarathustra” zum Ausdruck. Heidegger, “Nietzsche”, Bd.1. Auch Deleuzes Buch “Nietzsche und die Philosophie” ist durch eine vollständig unkritische Übernahme des Selbstverständnisses Nietzsches gekennzeichnet.

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  12. Vgl. z.B. folgenden Abschnitt in der “Geburt der Tragödie”: “Dieser Schein der ‘griechischen Heiterkeit’ war es, der die tiefsinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christentums so empörte: ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung.” (KSA 1,78)

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Kjaer, J. (1990). Der „Fatum-und-Geschichte-Textkomplex“. Ein gescheiterter Versuch der emanzipatorischen Reflexion der entfremdenden Sozialisationserfahrungen. In: Friedrich Nietzsche. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-06748-1_6

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-06748-1_6

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-531-12065-2

  • Online ISBN: 978-3-663-06748-1

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