Zusammenfassung
Die Aufnahme Nietzsches als Schüler der Landesschule Pforta 1858 führt aus guten Gründen zu einer Intensivierung der Korrespondenz zwischen Nietzsche und seiner Familie in Naumburg. Trotz der Tatsache, daß nur fünf Briefe der Mutter gegenüber 165 von Nietzsche erhalten sind, enthält diese Korrespondenz eine Fülle von wertvollen direkten und indirekten Informationen über das Verhältnis zwischen den beiden und über die Art, wie sie miteinander kommunizierten.
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Anmerkungen
Kulturgeschichtlich bezeugt die Korrespondenz zwischen Nietzsche und seiner Mutter den tiefgreifenden Wandel der Interaktion und des Umgangstons zwischen Eltern und Kindern, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Deutschland wie in anderen westeuropäischen Ländern durchsetzte. Diesen Wandel kann man allgemein mit den Stichworten Partnerschaft und Emotionalisierung charakterisieren. Ein Vergleich etwa mit den Briefen des 74 Jahre früher geborenen Hölderlin an seine Mutter exemplifiziert eindrucksvoll den veränderten Umgangston. Die größere Partnerschaftlichkeit verbürgt aber keineswegs, daß die Eltern ihren Kindern mehr Verständnis entgegengebracht und ihre wirklichen emotionellen Bedürfnisse befriedigt haben, im Gegenteil spricht alles dafür, daß die Emotionalisierung vor allem den emotionalen Bedürfnissen der Eltern zu Gute gekommen ist und daß die Kinder dem erzieherischen Zugriff der Eltern nunmehr noch wehrloser ausgesetzt waren. Trotz der Partnerschaftlichkeit ging auch Nietzsche wahrscheinlich vor allem an seiner Mutter zu Grunde, so wie die Behandlung, die Hölderlin von seiner Mutter erfuhr, mehr als ausreichend ist, um seinen Wahnsinn zu erklären. Eva Carstanjen hat in ihrem Buch “Hölderlins Mutter” das Verhältnis zwischen Hölderlin und seiner Mutter einer gründlichen Analyse unterzogen, in der nachdrücklich an der bisherigen Idealisierung der aufopfernden Mutter gerüttelt wird. Carstanjen hat leider nicht das früher erschienene Werk Pilgrims über Muttersöhne gekannt, in dem er gleichfalls den Parasitismus der Mutter und die verhängnisvolle Mutterbindung Hölderlins nachweist (Pilgrim, 151f).
Am 18. Oktober 1888 schreibt Franziska Nietzsche an ihren Sohn: “Mein lieber, lieber Herzenssohn! Was wirst und mußt Du von Deiner Mutter denken, Deinen Geburtstag so vollständig zu vergessen! Heute am 18. October Abends gegen 1 0, fahre ich plötzlich wie eine Rakete vom Stuhle, als es mir einfiel und schwer auf das Herz fiel! Ich bin ganz außer mir!” (KGB III,6,334)
Auf diesen Kompensationsmechanismus hat besonders Volker E. Pilgrim mit großer Überzeugungskraft hingewiesen.
Berne, Eric, “Games People play”.
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Kjaer, J. (1990). Die Korrespondenz zwischen dem Schüler Nietzsche und seiner Mutter. Die Einsamkeit des Kindes und seine Angst vor Liebesverlust. In: Friedrich Nietzsche. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-06748-1_4
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