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Das „Lou-Erlebnis“. Die dritte Autonomiekrise und das endgültige Scheitern seiner Emanzipation von Mutter und Schwester

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Friedrich Nietzsche
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Zusammenfassung

Nach den ersten Studienjahren und den Kontroversen um das abgebrochene Theologiestudium stabilisierte sich das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn. Beide waren offensichtlich daran interessiert, die zarten Bande, die sie miteinander verbanden, nicht unnötig zu belasten oder gar zu zerreißen. Die Professur in Basel und seine ersten Werke, durch die sich Nietzsche unter seinen Freunden und Bekannten nicht nur Respekt verschaffte, sondern auch viel Bewunderung und liebevollen Zuspruch erwarb, stärkten sein Selbstgefühl, und er trat auch mit größerer Selbstsicherheit gegenüber seinen Verwandten auf, die trotz des bedenklichen Inhalts seiner Bücher unglaublich stolz auf den jungen Löwen waren, der in den mondänsten Kreisen reüssierte. Das gute Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ließ sich aber nur dadurch aufrechterhalten, daß sie sich stillschweigend darüber einigten, die kontroversen Gedanken Nietzsches, die er in seinen Werken veröffentlichte, und überhaupt sein philosophisches Denken als Gesprächsthema zu vermeiden. Die Welt seiner Mutter und die Welt seiner Werke und Gedanken wurden von beiden als hermetisch abgeriegelte Sphären betrachtet. Dies heißt, daß Nietzsche ein Doppelleben führte: als radikaler Philosoph und als rücksichtsvoller Sohn, der zugleich auf die alte Weise, d.h. sowohl reserviert als auch kontakthungrig, mit der Mutter über praktische Angelegenheiten und Nebensächlichkeiten kommunizierte, die nach wie vor nicht bloß Äußerlichkeiten für ihn waren.

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Anmerkungen

  1. Als Nietzsche im Frühjahr 1873 von Carl von Gersdorff erfährt, Wagner sei gekränkt gewesen, weil er ihn zu Neujahr nicht besucht habe, bekennt er seinem Freund: “Gott weiß übrigens, wie oft ich dem Meister Anstoß gebe: ich wundere mich jedes mal von Neuem und kann gar nicht recht dahinter kommen, woran es eigentlich liegt. (...) Sage mir doch Deine Ansicht über das wiederholte Anstoßgeben. Ich kann mir gar nicht denken, wie man W. in allen Hauptsachen mehr Treue halten könne und tiefer ergeben sein könne als ich es bin: wenn ich es mir denken könnte, würde ich’s noch mehr sein. Aber in kleinen untergeordneten Nebenpunkten und in einer gewissen für mich nothwendigen beinahe ‘sanitarisch’ zu nennenden Enthaltung von häufigerem persönlichem Zusammenleben muß ich mir eine Freiheit wahren, wirklich nur um jene Treue in einem höheren Sinne halten zu können. (...) Ich hatte diesmal keinen Augenblick daran gedacht, solchen heftigen Anstoß gegeben zu haben; und ich fürchte immer durch solche Erlebnisse noch ängstlicher zu werden als ich es schon bin.” (KGB II,3,1310

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  2. Wenn Nietzsche ständig hinter der christlichen Weltauslegung Feigheit vor unangenehmen Lebensrealitäten sieht, so spricht er aus ureigener Erfahrung. Die Sprache, die in der Umwelt Nietzsches gesprochen wurde und die harmonisierende, idyllisierende, infantile Version des Christentums, die seine Verwandten kultivierten, hat deutlich den Charakter ängstlicher Beschwörung aller Arten von Dramatik und Konflikt im Leben. Nicht nur die Mutter denkt und spricht infantil, sondern auch die Onkel und Tanten — der Brief von Gustav Adolf Oswald, der im II. Kapitel zitiert wurde, ist ein beredtes Zeugnis; die Reaktion Ludwig Nietzsches auf die revolutionären Ereignisse im Jahre 1848 ist ein anderes Beispiel der nervösen Ängstlichkeit, mit der man auf die Konflikte dieser Welt blickte. Die Häuslichkeit der Biedermeierwelt war an sich schon eine Abkapselung gegen die furchterregenden Ereignisse der Welt. Stifters “Nachsommer” ist das unüberbietbare literarische Beispiel dieser Realitätsangst, in der realen Welt war aber das Pfarrhaus ohne Zweifel die extemste Form dieser reservathaften Abschirmung vor den Realitäten des Lebens, hier wurde ein Schongebiet errichtet, in dem man ungestört seine apolitische Innerlichkeit pflegen konnte. Der Vater Nietzsches bekennt, wie wir gesehen haben, seinem Freund gegenüber unumwunden, daß er politisch naiv ist, und daß diese Naivität ein “kindlicher Glaube” ist (vgl.Kap.V11 Anm.29). Der protestantische Glaube ist im 19. Jahrhundert weitgehend ein Kinderglaube, durch den man sich gegen die soziale und politische Wirklichkeit schützt, was nicht verhindert, daß man in den großen politischen Fragen klare und oft martialische konservative Positionen bezieht, wie Nietzsches Vater Die Pfarrerstochter Ruth Rehmann schildert in ihrem Erinnerungsroman “Der Mann auf der Kanzel” eindrucksvoll die Vorstellungen, Sprachregelungen und Verhaltensweisen eines solchen christlichen Reservats. Als sie mit ihrem Bruder über die unheilige Allianz von Glauben und Patriotismus gestritten hat, beschreibt sie den Abschied von ihrem Bruder mit folgenden Worten: “Wir trennen uns kühl, trotz geschwisterlicher Umarmung, die mir zum ersten Mal als Farce erscheint. Es wirkt etwas nach aus diesem intakten, liebreichen Elternhaus, das sowohl Streit als Verständigung verhindert: zuviel ‘Rücksicht’, zuwenig Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, ein Harmoniebedürfnis, das Gegensätze verkleistert und Feindseligkeiten mit ihren heimlichen Ursachen im dunkeln schwelen läßt.” (Rehmann, S.78). Die Tochter lernt in dieser Familie schnell, was leidige Themen sind, “und wird es nie mehr vergessen, nie über Geld, Politik, Verbrechen, Sexualität reden können, ohne vor dieser Sperre zu zögern und dann allzu heftig durchzustoßen, mit ‘scharfer Zunge’, ‘unweiblicher Härte’, ‘schonungsloser Offenheit’.” (Rehmann, S.167) Es ist auch verboten, schlecht über Menschen zu sprechen, “aber in diesem Punkt hilft sich die Familie mit einer Tarnsprache, die Schlechtes als eine Nuance des Guten erscheinen läßt. Negatives wird durch Positives an- oder abgeführt: Er ist ja ein lieber Kerl...Er gibt sich bestimmt große Mühe...Es sind sicher brave rechtschaffene Leute...Sie kann nichts dafür...Er hat zweifellos seine Qualitäten.” (Ebd.) Mit einem Ausdruck aus “Zarathustra”: es wird für alles ein “Tugendname” erfunden. Nietzsche hat wie niemand sonst diese Feigheit und Verlogenheit durchschaut und verworfen, leider war er selber so stark von seinem Milieu geprägt, daß er diese ‘schonungslose’ Kritik nur durchführen konnte, indem er ständig neue Tugendnamen für seine Ziele, Motive und namentlich für seine Gefühle erfand. Den wirklichen Mut, die wirkliche Wahrheitsliebe und zwar den Mut, sich mit seinen eigenen niedrigen Gefühlen zu konfrontieren und sie als das, was sie sind, zu erkennen, sie bewußt zu fühlen und zu ihnen zu stehen, brachte er nie auf. Von der Allgemeinheit und Radikalität dieses Problems zeugen auch folgenden Worte Alice Millers: “Jeder erfahrene Analytiker kennt die ehemaligen Pfarrerskinder, denen es nie erlaubt war, sogenannte ‘böse Gedanken’ zu haben, und die es fertigbrachten, keine zu haben, wenn auch um den Preis einer schweren Neurose. Wenn dann in der Analyse die kindlichen Phantasien endlich leben dürfen, so haben sie regelmäßig einen grausamen, sadistischen Inhalt. In diesen Phantasien verdichten sich die ehemaligen Rachephantasien des pädagogisch geqäulten Kindes mit der introjizierten Grausamkeit der Eltern, die das Vitale im Kind mit undurchführbaren Vorschriften abzutöten versuchten oder abgetötet haben.” (Miller 1980, S.304f) Die folgende Fortsetzung dieser Überlegungen hört sich wie eine Beschreibung eines Grundproblems Nietzsches an: “Jeder Mensch muß seine Form der Aggressivität fmden, wenn er sich nicht zur gehorsamen Marionette anderer machen lassen will. Nur jemand, der sich nicht zum Instrument eines fremden Willens reduzieren läßt, kann seine persönlichen Bedürfnisse durchsetzen und seine legitimen Rechte verteidigen. Aber diese angemessene, adäquate Form der Aggression bleibt vielen Menschen verschlossen, die als Kinder in dem absurden Glauben aufgewachsen sind, ein Mensch könne ständig nur liebe, gute und fromme Gedanken haben und dabei gleichzeitig ehrlich und wahrhaftig sein.” (Ebd., S.305)

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  3. Der Ärger über das ständige Verwechselt-Werden ist sogar angeblich der Anstoß für die autobiographische Schrift “Ecce homo”, in deren Vorwort er sich darüber beschwert, daß seine Zeitgenossen ihn weder gehört noch gesehen haben: “Ich brauche nur irgendeinen ‘Gebildeten’ zu sprechen, der im Sommer ins Ober-Engadin kommt, um mich zu überzeugen, daß ich nicht lebe...Unter diesen Umständen gibt es eine Pflicht, gegen die im Grunde meine Gewohnheit, noch mehr der Stolz meiner Instinkte revoltiert, nämlich zu sagen: Hört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!” (KSA 4,258)

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Kjaer, J. (1990). Das „Lou-Erlebnis“. Die dritte Autonomiekrise und das endgültige Scheitern seiner Emanzipation von Mutter und Schwester. In: Friedrich Nietzsche. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-06748-1_10

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-06748-1_10

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-531-12065-2

  • Online ISBN: 978-3-663-06748-1

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