Zusammenfassung
Dieses Buch ist das Ergebnis jahrelanger Studien zum Leben und Werk Nietzsches, aber auch Reflex eigener Lebenserfahrungen. Diesen Reflex zur Reflexion zu entfalten, d.h. die persönliche Rezeptionsgeschichte als Teil des wissenschaftlichen Forschungsprozesses zu verstehen und darzustellen, mag nicht unbedingt der herrschenden wissenschaftlichen Konvention entsprechen. Wenn ich trotzdem im folgenden die Phasen meiner Auseinandersetzung mit Nietzsche skizziere, so geschieht dies vor allem aus folgenden Gründen: erstens scheint mir die Tendenz, die eigene Subjektivität hinter der Maske der reinen, wissenschaftlichen Sachlichkeit zu verbergen, zum Scheindialog zwischen Scheinsubjekten zu führen, und zweitens wird auch der Sachverhalt kaschiert, daß eine humanwissenschaftliche Analyse immer Moment eines unabgeschlossenen und unabschließbaren Forschungsprozesses ist. Nietzsche gehört zu den Geistern, die starke Emotionen und emphatische Stellungnahmen provozieren. In der Rezeptionsgeschichte gibt es eine starke Tendenz zur Polarisierung der Positionen: es gibt Nietzsche-Verehrer, die ihn bewundern und sich gleichzeitig weitgehend mit ihm identifizieren, und es gibt Nietzsche-Hasser, die ihn ins Nichts verbannen möchten.1) Wahrscheinlich ist es aber vielen wie mir ergangen, der ich sowohl Phasen der Nietzsche-Verehrung bzw.Identifikation und Phasen der Nietzsche-Skepsis durchlebt habe. Die explizite Reflexion einer solchen individuellen Umwertung der Philosophie Nietzsches könnte auch einem tieferen Verständnis und einer gerechteren und ausgeglicheneren Würdigung dieses vielschichtigen und widerspruchsvollen Philosophen dienen.
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Anmerkungen
Vgl. Wolfgang Harich, “Revision des marxistischen Nietzsche-Bildes”, in: “Sinn und Form” Nt V 1987, S.1053.
Eine hervorragende Analyse der inneren Verwandtschaft zwischen faschistischer Mentalität und Nietzsches Philosophie findet man in Horst-Eberhard Richters Erinnerungsbuch “Die Chance des Gewissens”.
Für diese These habe ich anderswo eingehender argumentiert: “Thomas Manns Antifaschismus im Lichte seiner Weltanschauung”.
Ein typisches Beispiel hierfür ist der Schweizer Schriftsteller Max Frisch. Vgl. dazu J. Kjaer, “Max Frisch. Theorie und Praxis”.
Negt/Kluge 1973, S.48f.
Nur in dem kurzen Kapitel “Die überforderte Frau” berührt Mitscherlich das Mutterproblem. “Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft”, S.76.
Diese Problematik hat der Schriftsteller Volker E. Pilgrim in seinem Werk “Muttersöhne”, in dem er auch Nietzsche als einen typischen “Muttersohn” charakterisiert, eindrucksvoll beschrieben.
Vgl. etwa Helen Caldicott, “Missile Envy” und Christa Wolf, “Kassandra”. Zum Problem “Feindbilder” vgl. auch J. Kjaer “Zur Diagnose der Kommunikationssituation der westeuropäischen Friedensbewegung(en) als Partner eines Ost-Westdialogs. Polemik oder politisch kultivierter Dialog?”
Vgl. z.B. Lars Lambrecht, “Intellektuelle Subjektivität und Gesellschaftsgeschichte”, Heinz Pepperle, “Revision des marxistischen Nietzschebildes?” Auch auf dem Nietzsche-Symposion der Marx-Engels-Stiftung im April 1988 bemühte man sich um eine zeitgemäße marxistische Auseinandersetzung mit der Philosophie Nietzsches. Die Beiträge der Teilnehmer sind unter dem Titel “Bruder Nietzsche?” von der Marx-Engels-Stiftung veröffentlicht worden. Der DDR-Philosoph Friedrich Tomberg hat zur marxistischen Nietzsche-Diskussion beigetragen mit einem wesentlichen, leider noch unpublizierten Artikel “Prolegomena zu einer zeitgemäßen Lektüre der ‘Unzeitgemäßen Betrachtungen’ von Friedrich Nietzsche.”
Vgl. dazu meine Analyse der Nietzsche-Biographien von Blunck, Janz und Ross in: “Orbis Litterarum” Nr. 39, Kopenhagen 1984. In der marxistischen Nietzsche-Rezeption ist Lars Lambrecht, der in seiner oben erwähnten Arbeit wesentliche Aspekte der Dialektik von Theorie, Begrifflichkeit, Empirie und Darstellung sehr prägnant formuliert hat, der einzige, der sich für die Sozialisation Nietzsches interessiert. Er verfolgt den intellektuellen Werdegang Nietzsches seit seinem Aufenthalt auf Schulpforta, da er sich aber eben öausschließlich für die intellektuelle Subjektivität Nietzsches interessiert, geht er nicht auf die Primärsozialisation in der Kindheit ein.
Besonders Alfred Lorenzer hat die Wichtigkeit der Interaktion zwischen Mutter und Kind für die Sozialisation des Kindes hervorgehoben.
H.-E. Richter, “Eltern, Kind und Neurose”, “Patient Familie”.
Christiane Olivier, “Jokastes Kinder”, Volker E. Pilgrim, “Muttersöhne”.
Elisabeth Badinter, “Die Mutterliebe”
Vgl. Erikson, Erik H., “Identity and the life cycle.”
Mahler, Margareth S. u.a. “Die psychische Geburt des Menschen”.
Ebd.
Richten H.-E., “Der Gotteskomplex”.
Holzkamp, Klaus, “Grundlegung der Psychologie”.
Odo Marquard hat in seinem gewichtigen Werk “Transzendentaler Idealismus. Romantische Naturphilosophie. Psychoanalyse” überzeugend nachgewiesen, daß psychoanalytische Grundkategorien Freuds wie “Unbewußtes, Verdrängung, Wiederkehr des Verdrängten, Ersatzbildung, Kompromißbildung, Sublimierung, Kompensation, Regression, Fixierung, Abwehr, Widerstand, Aufhebung der Amnesien usf. — ‘in gewisser Hinsicht philosophische Kategorien’ sind.” (Marquard, S.1) Fundamentale Elemente der psychoanalytischen Theorie seien schon Elemente der Philosophie, und zwar der transzendentalen Naturphilosophie gewesen. (Ebd., S.2) Freuds Theorie sei eine Antwort auf ein Problem, das selbst als Konsequenz der Transzendentalphilosophie und ihrer Wende zur Naturphilosophie entsteht, d.h. durch die ‘ Depotenzierung der Transzendentalphilosophie’ genetisch charakterisiert werden kann: wie leben mit der Natur, wo sie Macht hat über die Geschichte, wenn doch nicht mehr ‘ ästhetisch’ ?” (Ebd.)
Habermas, “Theorie und Praxis”, Frankfurt a.M. 1978, S.16.
Løgstrup, K.E., “Die ethische Forderung”.
Mit diesem Terminus, der im Deutschen ungebräuchlich ist, bezeichnet Løgstrup den bewußten, willkürlichen Vorbehalt bzw. die Zurückhaltung, mit denen ein Mensch sich vor der Gefahr der Selbstauslieferung oder des Mißbrauchs seiner Offenheit, seines Vertrauens oder anderer ‘spontaner Lebensäußerungen’ schützt.
Übersetzung Rosemarie Løgstrup.
Vgl. zudem Uffe Juul Jensen, “Moralsk ansvar og menneskesyn”, Kopenhagen 1984.
Vollständig neu ist dieser Autonomiebegriff allerdings nicht, insofern sich eine deutliche Verwandtschaft zwischen postfreudschen und vormarxschen Gedanken über die Autonomie des Menschen feststellen läßt. Es finden sich Elemente, die z.B. an Kant, Goethe, Schiller und Feuerbach erinnern.
Vgl. Miller 1979, S.25.
Vgl. Richters Erinnerungsbuch, “Die Chance des Gewissens”, das z.T. eine persönliche Auseinandersetzung Richters mit Nietzsches Denken ist.
Über das Phänomen Selbstmitleid schreibt Richter an anderer Stelle: “Solange wir unsere innere Repression aufrechterhalten, können wir nicht glaubwürdig auf einen Abbau der Repression und des Militarismus in der Gesellschaft hinarbeiten. Selbstmitleid gilt als verachtungswürdlig. Aber haben wir nicht zu lernen, Mitleid mit dem schwachen, elenden Teil unseres Selbst zu haben, um uns mit dem Elend der sozial Schwachen, der armen Völker in verpflichtender Solidarität verbunden zu fühlen, (...)”. (Richter 1986, S.252)
Zum Problem einseitiger Vernunftkritiken vgl. den wichtigen Artikel von Hans Jörg Sandkühler “Plädoyer für Rationalität. Zur geschichtlichen Aufgabe philosophischer Vernunftentwürfe”. In: “Bruder Nietzsche”, S.7.
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Kjaer, J. (1990). Einleitung. In: Friedrich Nietzsche. Kulturwissenschaftliche Studien zur deutschen Literatur. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-06748-1_1
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