Zusammenfassung
Die Faszination, die Rimbaud, der Rebell, auf den Autor der Ästhetik des Widerstands ausübte, prägt schon die allerersten Seiten der Trilogie. Sie wird den Kenner der Weissschen Gedankenwelt kaum überraschen. Der Dichter der Subversion erscheint als die ideale Verkörperung von Peter Weiss’ Grundüberzeugung, nach der Kunst „stören“, „unterhöhlen“ und beunruhigen solle.1 Weiss, der „Unzugehörige“ und „Unbeheimatete“, fühlte sich offensichtlich mit diesem Abtrünnigen und Wanderer par excellence verwandt, den Verlaine bekanntlich „l’homme aux semelles de vent“ nannte. In diesem Außenseiter, der sich nach einer anderen Gemeinschaft sehnte und für den Dichtung auch eine Waffe zur Befreiung war, erkannte er einen Gleichgesinnten.
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Anmerkungen
Peter Weiss: Notizbücher 1971–1980 II. Frankfurt am Main 1981, S. 579.
Vgl. Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands III. Frankfurt am Main 1991, S. 246.
Weiss: Notizbücher 1971–1980 II, S. 491. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um G. Ekelöfs Rimbaud-Übersetzungen, die in den dreißiger Jahren herauskamen und die Weiss in seinen Interviews erwähnt.
Zit. n. Alfons Söliner: Peter Weiss und die Deutschen. Opladen 1988, S. 39.
René Etiemble: Le Mythe de Rimbaud. Paris 1952.
Weiss: Notizbücher 1960–1971 II. Frankfurt am Main 1982, S. 679. Der Autor fragt sich, ob Rimbaud als Wanderer, als Verbrecher, als „Ohneherz Rimbaud“ (eine Anspielung auf die Unterschrift „Ce sans-coeur de Rimbaud“ in einigen von seinen frühen Briefen) oder eher als gefeierter Dichter dargestellt werden soll.
Weiss, ebd., S. 501 f. Die Sonnenmetaphern sind keine Seltenheit in Rimbauds Poesie. Man denke u.a. an Das trunkene Schiff (Le Bateau ivre), Ein Aufenthalt in der Hölle (Une Saison en enfer) und Die Erleuchtungen (Les Illuminations).
Weiss hielt sie vor allem für einen „vorrevolutionären“, machtlosen Aktivismus, der aber immerhin das Verdienst hätte, auf den repressiven Staat und auf die „Unterdrückungsmechanismen“ der etablierten Gesellschaft aufmerksam zu machen (Weiss, ebd., S. 694 f., 707 f.).
Weiss: Notizbücher 1960–1971 II, S. 672–676.
Ernest Delahaye: Rimbaud. L’Artiste et l’être moral. Paris 1923, S. 37.
Siehe diesbezüglich die Studien von Michel Décaudin, Steve Murphy und insbesondere von Frédéric Eigeldinger und André Gendre: Delahaye témoin de Rimbaud. Neuchâtel 1974, S. 304–316.
Der sogenannte Sklavenhandel wird von der heutigen Rimbaud-Forschung als Legende betrachtet. Vgl. Jean-Luc Steinmetz, in Rimbaud: Oeuvres I Poésies. Paris 1989, S. 15.
Weiss, ebd., S. 680.
Ebd., S. 677. Rimbaud sagte von seiner Mutter, die er „la bouche d’ombre“ (Schattenmund) nannte, sie sei „so unnachgiebig wie dreiundsiebzig Verwaltungsbehörden in Bleihelmen“ („aussi inflexible que soixante-treize administrations à casquettes de plomb“). Arthur Rimbaud. Brief vom August 1871 an Paul Demeny, in Rimbaud: Briefe, Dokumente. Hamburg 1964, S. 38. Übersetzung: Curd Ochwadt.
Weiss, ebd., S. 838. Weiss: Rapporte. Frankfurt 1968, S. 72.
Weiss: Notizbücher 1960–1971 II, S. 682.
Ebd., S. 681.
Ebd., S. 684.
„Ich werde ein Arbeiter sein: das ist der Gedanke, der mich zurückhält, wenn rasender Zorn mich hin zur Schlacht von Paris treibt ...“ (Rimbaud: Briefe, Dokumente, S. 18/19).
Weiss, ebd., S. 685 f.
„Ich will Dichter werden, und ich arbeite daran, mich sehend zu machen [...]. Es geht darum, durch die Entregelung aller Sinne beim Unbekannten anzukommen.“ „Ich sage, daß es nottut, Seher zu sein, sich sehend zu machen“ (Rimbaud: Briefe, Dokumente, S. 18/19, 24/25).
Weiss, ebd., S. 686.
„Sie werden aber nie weiter kommen als jemand, der befriedigt ist, ohne etwas getan zu haben, da er nichts hat tun wollen. Abgesehen davon, daß Ihre subjektive Dichtung immer entsetzlich fade sein wird“ (Rimbaud: Briefe, Dokumente, S. 18/19).
Weiss, ebd., S. 687.
Rimbaud: Une Saison en enfer. In: Oeuvres complètes. Paris 1954, S. 243.
Vgl. Weiss: Notizbücher 1960–1971 II, S. 723, 728, 758–763, 766, 826, 838, 842 sowie Notizbücher 1971–1980II, S. 786–788, 802. Weiss betont u.a., daß Hölderlin im Gedicht Der Wanderer etwas von der Sprache Rimbauds vorwegnehme. Ein ähnlicher Bilder- und Motivkreis (Wüste, Feuer, Sonne, Glühen ...) ist in der Tat beiden Dichtern gemeinsam. Obwohl sie nicht im selben Kontext erscheinen, verraten sie jedoch eine verwandte Sensibilität. Vgl. Notizbücher 1960–1971, S. 10 und Notizbücher 1971–1980 II, S. 493.
Weiss: Ästhetik III, S. 169 f.
Rimbaud: Soleil et Chair (IV), Combat d’Hercule et du fleuve Archeloüs (Nachdichtung eines Gedichts von J. Delille). In: Oeuvres complètes, S. 14 f., 49 f.
Weiss: Ästhetik I, S. 19, 25, 314.
Ebd., S. 315 f.
Ebd., S. 8.
Elena Nährlich-Slateva: Visionäres bei Rimbaud und Peter Weiss. In: Jürgen Garbers (Hrsg.): Ästhetik Revolte Widerstand. Zum literarischen Werk von P. Weiss. Lüneburg 1990, S. 146–161.
Weiss: Ästhetik I, 18.
Ebd., S. 58.
Rimbaud spricht ja in seinem Brief an P. Demeny von einer „überlegten Entregelung aller Sinne“ („un long, immense et raisonné dérèglement de tous les sens“) (Rimbaud: Briefe, Dokumente, S. 24/25).
„Die Fülle des großen Traums“ (Rimbaud, ebd., S. 24/25).
Weiss: Ästheti1k-III, S. 204–209. Dieser lange Brief, der mit seinen Reflexionen über den Traum und die Beziehung zu der geliebten Kampfgenossin als Bilanz und Testament erscheint, hat außer dem beherrschten Ton wenig gemeinsam mit Horst Heilmanns kurzem Originalbrief an die Eltern. Vgl.: Deutsche Widerstandskämpfer 1933–1945. Biographien und Briefe I. Berlin 1970, S. 382.
Ebd., S. 204, 207.
Ebd., S. 16 f., 24 f.
Ebd., S. 169.
Ernest Delahaye: Rimbaud, S. 150, 220.
Rimbaud, Briefe vom 6/5/1883 und 4/8/1888 aus Harar an seine Verwandten. In Rimbaud: Oeuvres complètes. Paris 1954, S. 375, 490. „Für mich bedaure ich es, daß ich nicht verheiratet bin und keine Familie habe. Aber vorerst bin ich dazu verurteilt, herumzuirren [...]. Ihr sprecht mir von politischen Neuigkeiten. Wenn Ihr wüßtet, wie gleichgültig mir das ist! Mehr als zwei Jahre habe ich keine Zeitung angerührt. Alle diese Streitereien sind mir zur Zeit unbegreiflich. Wie die Muselmanen weiß ich, daß das, was geschehen soll, geschieht, und damit Schluß.“ „Und ist es denn nicht ein Elend, dieses Dasein ohne Familie, ohne geistige Beschäftigung, verloren inmitten von Negern, deren Los man verbessern möchte und die ihrerseits versuchen, einen auszubeuten [...]? Genötigt, ihr Kauderwelsch zu reden, ihr dreckiges Essen zu nehmen, tausend Ärger über sich ergehen zu lassen, die von ihrer Faulheit, ihrer Verräterei, ihrer Stumpfsinnigkeit kommen!“ In Rimbaud: Briefe und Dokumente, S. 79 f., 118. Siehe auch den Brief vom 25/2/1890 aus Aden (ebd., S. 126).
Zu dieser Traditionslinie gehört auch die schwedische Dichterin Karin Boye. Siehe diesbezüglich Weiss: Notizbücher 1971–1980 II, S. 536, 793; Ästhetik I, S. 78; IL S. 66 f.
Denken wir an Formulierungen wie „Changer la vie“ (sein Leben ändern) oder „Rendre [l’homme] à son état primitif de fils du soleil“ ([den Menschen] seinem ursprünglichen Zustand eines Sohnes der Sonne zurückgeben) in ine Saison en enfer und Les Illuminations. Rimbaud: Oeuvres complètes, S. 230, 190. Die Rimbaud-Zitate lassen bei allen Affinitäten auch die evidenten Unterschiede zwischen dem Autor der Ästhetik und dem französischen Dichter erkennen: auf der einen Seite die heidnische, manchmal jubelnde Sinnlichkeit des Lyrikers, auf der anderen die Abstraktheit und die fast puritanische Haltung des Epikers.
Weiss: Ästhetik, S. 268.
Rimbaud: Matin. In: Une Saison en enfer, Oeuvres complètes, S. 242. Deutsche Nachdichtung von Paul Zech: „Wann werde ich endlich über alle Gestade und Berge hinweg, die Geburt der neuen Arbeit begrüßen können, die ’neue Weisheit’, die Flucht der Tyrannen und Dämonen, das Ende einer abergläubigen Zeit, und anbeten - als allererster! - Weihnachten auf Erden? Gesang des Himmels, Zug der Völker! Das wünschte ich: wann, wann? Sind wir auch ewig Sklaven, laßt uns das Leben nicht verfluchen!“ In: Sämtliche Dichtungen des Jean Arthur Rimbaud. München 1963, S. 118 f. Vgl. Weiss: Ästhetik, S. 265–267.
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Boussart, M. (1994). Zur Rolle Rimbauds in Peter Weiss’ Werk. Vom Alter ego zur mythischen Figur. In: Heidelberger-Leonard, I. (eds) Peter Weiss. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-05721-5_9
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