Zusammenfassung
Der autobiographische Roman Fluchtpunkt, den Peter Weiss im Jahre 1961 fertigstellte, endet mit der Beschreibung eines Parisaufenthaltes im Frühjahr 1947. Der dreißigjährige Emigrant, dessen problematische Erfahrungen in Schweden seit 1940 den Gegenstand der Aufzeichnungen bilden, erlebt die Begegnung mit der Stadt Bretons und Sartres, der surrealistischen Traumbilder und des existentialistischen Freiheitspathos nacheinander als Schock und als Befreiung. Die enge sprachliche Orientierung an der Terminologie des französischen Philosophen, die eine Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit ausdrückt, vermittelt im Bewußtsein des Schreibenden einen Wendepunkt in dessen Leben, und sie verweist — wie ich zeigen möchte - auch auf einen Wendepunkt in der literarischen Produktion des Autors Peter Weiss. Die erste Konfrontation mit der Metropole, in der einige Jahre zuvor noch Walter Benjamin die Spuren der Passagen des neunzehnten Jahrhunderts zu entziffern versucht hatte, bevor er auf der Flucht vor den Faschisten den Freitod wählte, wird als Kulminationspunkt der Krise erfahren, deren Verlauf der Roman schilderte:
Dies war der Augenblick der Sprengung, der Augenblick, in dem ich hinausgeschleudert worden war in die absolute Freiheit, der Augenblick, in dem ich losgerissen worden war von jeder Verankerung, [...] der Augenblick, in dem die Welt offen vor mir lag. [...] Doch die Freiheit war so groß, daß ich alle Maßstäbe verlor. Ich hatte die Freiheit nicht gewonnen, ich war verurteilt zu dieser Freiheit, es war nur noch eine einzige Wahrnehmung da, die Wahrnehmung des Urübels, des Ausgesetztseins, der Verlassenheit.1
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Anmerkungen
Peter Weiss: Fluchtpunkt. Roman. Frankfurt am Main 1965, S. 194 f.
Ebd., S. 196 f.
Als Zeugnisse der in Fluchtpunkt dargestellten existentialistischen Orientierung lassen sich die Prosa Die Besiegten (erschienen 1948) und die dramatische Parabel Der Turm (uraufgeführt 1950) verstehen. Deren existentialistische Elemente sind von Alfons Söllner (Peter Weiss und die Deutschen. Die Entstehung einer politischen Ästhetik wider die Verdrängung. Opladen 1988, vor allem S. 77 f.) und Otto F. Best (Peter Weiss. Vom existentialistischen Drama zum marxistischen Welttheater. Eine kritische Bilanz. Bern/ München 1971) bereits überzeugend nachgewiesen worden, weshalb sich mein Beitrag auf die Entwicklung von Peter Weiss nach 1961 bezieht.
Söllner: Peter Weiss und die Deutschen, S. 45.
Ebd., S. 54.
Ebd., S. 49.
Jean-Paul Sartre: Ist der Existentialismus ein Humanismus? (Originalausgabe 1947) In: Ders.: Drei Essays. Mit einem Nachwort von Walter Schmiele. Frankfurt am Main u.a. 1979, S. 7–51; hier S. 29 f.
Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. (Originalausgabe 1943) Hrsg. v. Traugott König. Übersetzt von Hans Schöneberg und Traugott König. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 985.
Ebd. S. 807 f.
Vgl. zur Konzeption des Augenblicks das Géricault-Kapitel der Ästhetik des Widerstands (hier besonders die Rede vom Zermahlen der Zeit durch das Ich, vgl. Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Roman. Frankfurt am Main 1988. Band II, S. 15). Die Herausarbeitung des Bezugs der Sartreschen Augenblickskonzeption zu Benjamins „Sprengung des Kontinuums“ ist meines Wissens ein Forschungsdesiderat. Hier liegt wohl ein Schlüssel zu einer Gegenthese in bezug auf Bohrers „Ästhetik der Plötzlichkeit“. 11 Sartre: Das Sein und das Nichts, S. 860.
Vgl. Peter Weiss: Aus dem Pariser Journal (Juni 1962). In: Ders.: Rapporte (I). Frankfurt am Main 1968, S. 83–112.
Jean-Paul Sartre: Was ist Literatur? (Originalausgabe 1947) Übersetzt von Hans Georg Brenner. Reinbek bei Hamburg 1950, S. 157.
Theodor W. Adorno: Rückblickend auf den Surrealismus In: Ders.: Noten zur Literatur. (Ausgabe in einem Band) Frankfurt am Main 1981, S. 101–105; hier S. 103 f. Vgl. zur Rekonstruktion eines verpaßten Dialoges zwischen Horkheimer/ Adorno und dem Pariser Freiheitsphilosophen Herbert Schnädelbach: Sartre und die Frankfurter Schule. In: Traugott König (Hrsg.): Sartre. Ein Kongreß. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 13–35. Zu den Gemeinsamkeiten zwischen beiden „Lagern“ zählt Schnädelbach unter anderem die für unsere Überlegungen wichtige Bewahrung eines kritischen Subjektbegriffes: „So gilt ihnen auch die seit Nietzsche immer wieder konstatierte Dezentrierung des Subjekts in der Moderne nicht als eine metaphysische, sondern ausschließlich als eine soziale und darum prinzipiell revidierbare Tatsache; sie halten konsequent am Entfremdungstheorem fest.“ (S. 22)
Sartre: Was ist Literatur? S. 266.
Vgl. zum Verhältnis Weiss-Lyotard meinen Aufsatz: Die Ästhetik der Postmoderne und die Ästhetik des Widerstands. Vorüberlegungen zu einem Vergleich. In: Michael Hofmann (Hrsg.): Ästhetik, Literatur, Geschichte. Neue Zugänge zu Peter Weiss. Sankt Ingbert 1992, S. 147–163.
Vgl. hierzu meinen Aufsatz: Der ältere Sohn des Laokoon. Zum Verhältnis von Bildern und Worten in Peter Weiss’ Lessingpreisrede und in der Ästhetik des Widerstands. In: Rainer Koch u.a. (Hrsg.): Peter Weiss Jahrbuch 1. Opladen 1992, S. 42–58.
Peter Weiss: Laokoon oder über die Grenzen der Sprache. In: Ders.: Rapporte (I), S. 170–187; hier S. 182.
Ebd., S. 171.
Ebd., S. 179.
Ebd., S. 180.
Peter Weiss: Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia. In: Ders.: Rapporte (I), S. 125–141; hier S. 135.
Peter Weiss: Gespräch über Dante. In: Ders.: Rapporte (I), S. 142–169; hier S. 157.
Peter Weiss: Marat/Sade. In: Ders.: Stücke I. Frankfurt am Main 1976, S. 155–255; hier S. 245.
Weiss: Marat/Sade, S. 180.
Peter Weiss: Rekonvaleszenz. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Frankfurt am Main 1991. Zweiter Band. Prosa 2, S. 345–546; hier S. 362 f. (Aufzeichnung vom 16. August 1970).
Weiss: Rekonvaleszenz, S. 409 f.
Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Band II, S. 151.
Vgl. Klaus Briegleb, Sigrid Weigel (Hrsg.): Gegenwartsliteratur seit 1968. München/Wien 1992, S. 140–145.
Vgl. zum Verhältnis zwischen Schillers Ästhetik des Erhabenen und Sartres Freiheitsphilosophie Käte Hamburger: Schiller und Sartre. Ein Versuch zum Idealismus-Problem Schillers. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 3 (1959), S. 34–70.
Burkhardt Lindner: Der Wiiderstand und das Erhabene. Über ein zentrales Motiv der Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss. In: Literaturmagazin 27. Reinbek bei Hamburg 1991, S. 28–44; hier S. 29.
Ebd., S. 34.
Ebd., S. 43.
Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Band III, S. 148 f.
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© 1994 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen
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Hofmann, M. (1994). Entwürfe gegen die Ichauflösung. Spuren des kritischen Existentialismus Sartres im literarischen Werk von Peter Weiss. In: Heidelberger-Leonard, I. (eds) Peter Weiss. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-05721-5_10
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