Zusammenfassung
Ein Gespenst geht um in Gewerkschaften und politischen Parteien. Sein Name ist Vergreisung. Hält der Trend zum “Auszug aus den Institutionen” an, sind viele Organisationen dabei, sich in jugendfreie Zonen zu verwandeln. Allein bei der IG Metall, ihres Zeichens größte Einzelgewerkschaft, ging die Zahl der jugendlichen Mitglieder innerhalb von zwei Jahren um ca. 200.000 (zwei Fünftel) zurück. 1992 verbuchte die Organisation den Austritt von 32.000 jungen Leuten. Auch wenn konjunkturelle und demographische Faktoren bei sinkenden Mitgliederzahlen eine Rolle spielen, verweist das soziale Profil der “Organisationslücke” auf ein den gesamten DGB betreffendes strukturelles Problem: Überdurchschnittlich hoch sind die Einbußen bei jungen Frauen und Jungangestellten — ein sicheres Indiz dafür, daß sich die Ausstrahlung der Gewerkschaften in sogenannten “neuen Arbeitnehmergruppen” weiter verringert hat.1
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Referenzen
Die Zahl der IG Metaller/-innen bis 25 sank von 534 623 (Dezember 1991) auf 343 889 (Ende 1993, Der Gewerkschafter 2/94, S. 20).
Zinnecker 1992, Band 1, S. 24; Zinnecker/Fischer 1992, S. 216 f.; siehe auch: Baethge 1991, S. 51.
Der Begriff “Solidarität” wird hier nicht als moralischer Kampfbegriff der Arbeiterklasse, sondern in einem soziologisch umfassenderen Sinne gebraucht. Nach Durkheim erzeugt Arbeitsteilung beobachtbare Regelsysteme, eben verschiedene Arten von Solidarität, die die Bildung sozialer Aggregate beeinflussen. Der Begriff der Solidarität richtet sich demnach “auf die allgemeinen Formen der Soziabilität und ihre Gesetzte”; er bezeichnet jenes soziale Band, das Gesellschaft im Durkheimschen Verständnis überhaupt erst möglich macht (Müller/Schmidt 1992, S. 489).
Dafür steht z.B. die breite Rezeption der nordamerikanischen “Kommunitarier” (siehe z.B.: Bellah 1987, Walzer 1991, 1992, Honneth 1992, kritisch: Demirovic 1993). Ulrich Beck interpretiert sie als Versuch, das scheinbar verloren gegangene “Gemeinwohl mit einer Pflichtimpfung in die Herzen der Menschen zu spritzen” (Beck 1993, S. 154).
Machiavellismus meint hier eine Haltung, die den Verbindlichkeitsverlust und die wachsende Begründungspflicht politischer Identitäten “opportunistisch nicht als Belastung, sondern als Beliebigkeitschance” betrachtet und so wendet, “daß individueller Machtzuwachs” erreicht wird (Heitmeyer 1991, S. 30).
Bourdieu unterscheidet zwischen ökonomischem, sozialem (Kapital an “mondänen Beziehungen”) und kulturellem (Bildungs-)Kapital. Je nach Kapitalvolumen und -struktur lassen sich die einzelnen Berufsgruppen dann unterschiedlichen Klassenfraktionen zuordnen. Spannungen entstehen nicht nur zwischen “oben” und “unten”, sondern auch zwischen “ökonomischen” und “kulturellen” Klassenfraktionen. Vgl. dazu Bourdieu 1982/1988 (2. Auflage), besonders S. 169 ff.; ein Versuch, dies auf den Jugendhabitus anzuwenden, findet sich bei: Zinnecker 1986.
Für Beck z.B. spielt der “Fahrstuhleffekt”, d.h. das in der Prosperitätsphase zwischen 1950 und 1970 erreichte “kollektive Mehr” an Wohlstand und sozialer Sicherheit bei stabilen oder sich vergrößernden Ungleichheitsrelationen eine entscheidende Rolle bei der Begründung seiner Individualisierungsthese. Mit Blick auf die 80er wird ein “Fahrstuhleffekt nach unten” zwar eingeräumt, aber nur als zusätzliche Drehung an der Individualisierungsspirale begriffen.
Zur “neuen Dialektik” von Privilegierung und Benachteiligung bei Jugendlichen vgl. bereits: Baethge u.a. 1988.
Die Begriffe “soziale Geltung” und “Anerkennung” sind, das sei hier am Rande vermerkt, nicht unbedingt identisch. Vgl. dazu: Honneth 1993.
Zur Diskussion vgl. auch: Moore 1982, Thompson 1987; sowie aus der Perspektive von Arbeitslosen: Kronauer u.a. 1993.
Zur Mitgliederentwicklung in den 90er Jahren gibt es bislang nur unzureichendes statistisches Material. Vgl. dazu Löhrlein 1993, S. 100 ff. Allerdings ist aus wichtigen Einzelgewerkschaften bekannt, daß Rezession und strukturelle Krise im Osten bei wichtigen Einzelgewerkschaften zu beträchtlichen Mitgliedereinbußen geführt haben. Die IG Metall wies im gleichen Zeitraum 6,3 % weniger Mitglieder aus, die IG Chemie minus 6,6 %. Den höchsten Verlust verzeichnete die Gewerkschaft Leder mit 23,6 %.
Diese Einschätzung gilt mehr oder minder für alle Jugendorganisationen der Einzelgewerkschaften, denen formal alle Mitglieder im Alter bis 25 Jahre angehören. Zwar weist die Mitgliederstatistik des DGB bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten bis zu 25 Jahren in der Zeitspanne zwischen 1975 und 1990 (in den alten Bundesländern) einen Organisationsgrad auf, der zwischen 24,9 % (1985) und 23,4 % (1990) schwankt und im internationalen Vergleich ausgesprochen hoch ist (Baethge/Pelull 1993, S. 19). Doch zeigten sich schon während der 80er Jahre hinter der scheinbar stabilen Fassade erhebliche Risse (vgl. dazu: Löhrlein 1986).
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Dörre, K. (1994). Junge Angestellte — Individualisierung contra Solidarität?. In: Jugendliche Angestellte. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-05719-2_1
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-05719-2_1
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
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