Zusammenfassung
Mit Stefan George und Paul Celan haben sich in unserm Jahrhundert zwei Meister der deutschen Sprache an der Übersetzung von Shakespeares Sonetten versucht. Auf das Jahr genau drei Jahrhunderte nach Thorpes Erstdruck brachte George 1909 seine „Umdichtung“ aller 154 Sonette heraus, während Celans 21 Übertragungen im Umkreis von Shakespeares 400. Geburtstag in den 60er Jahren erschienen. Die Aufnahme seitens der Kritik ist freilich bis heute in beiden Fällen widersprüchlich geblieben. Friedrich Gundolf pries, wie zu erwarten, an dem Übersetzer George dessen „ehrfürchtige Treue gegenüber den Urbildern“ .1 Dagegen nannte Max Meyerfeld 1909 die Umdichtungen nicht „gezuckert“, sondern „geradezu struppig“. Bissig fragt er zu ausgewählten Zitaten:
Ist das deutsch oder botokudisch? Ich weiß es, offen gestanden, nicht. Ich weiß nur, daß man, um wissend zu werden, sich vom Orakel Georges zum Tabernakel Shakespeares wenden mufß.2
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Referenzen
Shakepeare in deutscher Sprache, herausgegeben, zum Teil neu übersetzt von Friedrich Gundolf. 10 Bde. (Berlin, 1908–1923). Bd.I, S.9 f.: „In unseren Tagen hat Stefan George eine große Synthese von Bildner- und Nachbildnerkräften gegeben. Seine Übesetzungen aus sechs Sprachen sind vorbildlich durch ihre dichterisch-deutsche Gewalt wie durch ihre ehrfürchtige Treue gegen die Urbilder.“
Max Meyerield, „Shakespeare-Nachdichtungen“, in: Das literarische Echo, 12 (1909/10), Sp. 1663
Zit. n. Shakespeare’s Sonette. Englisch und deutsch. Nachdichtung und Nachwort von Karl Kraus, Diogenes Taschenbuch. (München, 1977), S. 232 und 325.
Raimund Borgmeier, Shakespeares Sonett ,When forty winters . und die deutschen bersetzer.Untersuchungen zu den Problemen der Shakespeare-Übertragung. (München, 1970), S. 156.
Op. cit., S. 76 f.
Op. Cit., S. 75.57.106.77.
Op. cit. S. 106.
Peter Szondi, „Poetry of Constancy. Poetik der Beständigkeit. Celans Übertragung von Shakespeares Sonett 105“, in: Schriften II, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 220. (Frankfurt, 1978), S.321–344.
Op. cit., S. 326.
Op. cit. S. 325 und 342.
Op. cit., S. 341 f.
Op. cit., S. 335–339.
Op. cit., S.335.
Zu Shakespeares 5. Sonett vgl. man außer den kommentierten Ausgaben von E. Dowden (1881; von Stefan George benutzte Ausgabe), H. E. Rollins (1944), J. D. Wilson (1966), G. Willen und V. B. Reed (1964) W.G. Ingram und Th. Redpath (1964, 21978), S. Booth (1977),J. Kerrigan (1986) bes. den Aufsatz von W. Nowottny, „Formal Elements in Shakespeare’s Sonnets: Sonnets I-VI“, Essays in Criticism 2 (1952), 76–84. Nachdruck in Peter Jones, Hrsg., Shakespeare. The Sonnets. A Casebook. (London, 1977), S.111–119. - Zu Georges Übertragung generell Olga Marx, „Stefan George in seinen Übertragungen englischer Dichtung“ Castrum Peregrini 77 (1967), 5–35, und zum 5. Sonett speziell den Kommentar in Castrum Peregrini 92 (1970), S.9. Roger Bauer, „Zur Übersetzungstechnik Stefan Georges“, in: Stefan George Kolloquium, hrsg. v. E. Heftrich et al. (Köln, 1971), S. 160–177. Philippe Forget, „De la traduction éclatante à la critique éclatée. Itinéraires pour une nouvelle approche de Stefan George traducteur“, in: Peter Lutz Lehmann und Robert Wolff, Das Stefan-George-Seminar
1978 in Bingen am Rhein. Eine Dokumentation. (Bingen, 1979), S. 139–158. - Zu Celans Übertragungen allgemein: Henriette Beese, Nachdichtung als Erinnerung. Allegorische Lektüre einiger Gedichte von Paul Celan. (Darmstadt, 1976); Leonard M. Olschner, Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Gedichtübertragungen (Göttingen, 1985); zu den Shakespeare-Übertragungen vgl. H. Viebrock, „Nachwort“, in: William Shakespeare, Einundzwanzig Sonette. Deutsch von Paul Celan. Insel Taschenbuch 132 (Frankfurt, 1967), S. 51–85; P. Szondi, op. cit.; G. Steiner, After Babel. Aspects ofLanguage and Translation. (London, 1975), S. 384–393; R. Lengeler, „Shakespeares Sonette in Celans Übertragung“, Shakespeare Jahrbuch-West 1985, S. 132–145; E. Petuchowski, „A New Examination of Paul Celans’s Translation of Shakespeare’s Sonnet 105“, Shakespeare Jahrbuch-West 1985, S. 146–152; zu einzelnen anderen Übersetzungen vgl. R. Lengeler, „Emily Dickinson in der Manier Paul Celans“, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 20 (1987), 169–183. B. Böschen stein, „Der späte Celan. Dichtung und Übersetzung“, in: Lyrik von allen Seiten. Hrsg. v. L. Jordan et al. (Frankfurt a. M., 1981), S. 399–411f. Ders. „Anmerkungen zu Celans letzter Übersetzung. Jean Daive: Weiße Dezimale“, Text und Kritik 53/54 (1977), 69–73. Ders. „Supervielle in Celans Fügung“ in Paul Celan, hrsg. v. W. Hamacher und W. Menninghaus, suhrkamp taschenbuch materialien. (Frankfurt a. M., 1988), S. 222–238.
Der Shakespeare-Text stammt aus Stephen Booth (Hrsg.), Shakespeare’s Sonnets. (Nachdruck, New Haven, 1980 [11977]). Stefan George, Werke. Ausgabe in vier Bänden, dtv. (Nachdruck, München, 1983 (31976). Bd. III, S. 153. Paul Celan. Gesammelte Werke in fünf Bänden, hrsg. von Beda Allemann u. a. (Frankfurt a. M., 1983), Bd. V, S. 325.
Formal aus dem Rahmen fallen die Sonette 99 (15 Zeilen), 126 (sechs Reimpaare) und 145 (Vierheber).
Nur weibliche Reime enthalten die Sonette 20 und (mit einer Ausnahme) 87.
In den zehn ersten Sonetten etwa gibt es bei George zwölf weibliche Reime von insgesamt siebzig. Fünf dieser zwölf sind allerdings schon bei Shakespeare vorgegeben, so daß bei George letztlich ein Mehr an sieben weiblichen Reimen übrig bleibt.
Sonette 50, 90 und 119.
Sonett 137.
Sonett 57.
Sonette 57 und 107.
Einzelne Adjektivattribute werden durch Substantivierung (Son. 65, 14: in black ink = aus meiner Tinte Schwarz) oder durch Zusammensetzung (Son. 65, 5: summer’s honey breath = Des Sommers Honig-Atem) gerettet. Als besonders typisch kann dagegen die Nachstellung gelten (Son. 4, 1 Unthrifty loveliness = Anmut, verschwenderische du,), die aus dem stehenden Adjektiv einen Zeitvorgang macht oder einen unmittelbaren Erlebnisbezug schafft.
Vgl. Son. 1,1: From fairest creatures = was west und schön ist; Son. 1,7: Making a famine = du darbst und hungerst; Son. 2,6: the treasure of thy lusty daies = der Tage und der Schätze Ort; Son. 57,6: my sovereign = mein Herr und Fürst; Son. 60,1: to = wards the pebbled shore = strand- und kieselwärts.
Vgl. weiter unten die Ausführungen zu den ZZ. 3–4.
Nicht geleugnet ist, daß diesen vorgezogenen Pronomina auch noch eine Signal- u. Appellfunktion zukommt.
Vgl. auch Z. 5 unseres Sonetts.
Vgl. Shakespeare: Profitles vserer why doost thou vse/ So great a summe of summes yet can’st not lue? George: Weshalb du ungelohnter wuchrer brauchst / So großer summen summe doch nicht lebest.
Während die Shakespeare-Forscher sich uneins darüber sind, ob Shakespeares frame in Z. 1 außer ,bilden auch schon ,umrahmen bedeuten konnte (vgl. besonders den Kommentar von Willen und Reed), gibt George die Grundbedeutung zugunsten von umziehn auf. Ähnlich nimmt er im Fall von am zierlichsten (Z. 3) die Verniedlichung in Kauf. Solche Abweichungen legen die Vermutung nahe, daß dem ,Verwörtlicher George Klangspiele wichtiger als lexikalische Genauigkeit waren.
Daß mit den bowers von Z. 1 auch auf die mythologischen Horen angespielt wird, hat Paul Elmen („Shakespear’s Gentle Hours“. Shakespeare Quarterlv 4 (1953) 301–309) auisgefii rt
Vgl. Anm. 24.
Vgl. Hubert Arbogast, Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. (Köln, 1967), S. 108.
Arbogast, op. cit., S. 41.71–74 und 118–119.
Arbogast, S. 53 und 120.
Arbogast, S. 53 und 119
Vgl. Arbogast, S. 105–110.
Son. 6,1–3: „Then let not winters wragged hand deface, / In thee thy summer ere thou be distil’d: / Make sweet some viall;“
Der Begriff wird hier in Anlehnung an Norbert von Hellingrath, „Kunstcharakter der Hölderlinischen (Pindar) Übertragungen“ verwendet (G. P. Landmann, Hrsg. , Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften. (Köln, 1965), S. 113–116).
Ähnlich übersetzt nur R. A. Schröder: „Nur Blumen-Aufguß wahrt zur Winterszeit / Zwar nicht die Schau doch Wesens Süißigkeit“
Vgl. Richard II, III, iv, 48–49 (Arden): „He that hath suffered this disordered spring / Hath now himself met with the fall of leaf.“
Was Borgmeier (op. cit. S. 105–107) zum Reim als Gefahrenherd für den Übersetzer schreibt, trifft auch in seinen Augen mehr auf die bedarften Übersetzer als auf die sprachgewaltigen vom Schlag eines George zu. Wo aber ist das Kriterium, das den Übersetzungskritiker rechtzeitig zwischen Böcken und Schafen unterscheiden läßt? Woher weiß irgendwer auch nur, welches der beiden zusammengehörigen Reimwörter den Ausschlag für die Wahl des Reims gegeben hat? Zu diesen und andern ungenügend abgeklärten Prämissen Borgmeiers kommt hinzu, daß Celan (wie viele moderne Autoren) weder mit reinen Reimen operiert noch überhaupt von dem gleichen Treuebegriff ausgeht, so daß die Reimnot kaum das drängendste Problem des Ubersetzers Celan gewesen sein dürfte.
Neben dem ungewöhnlichen winterhart sind hier vor allem die vielsilbigen Zusammensetzungen (unerinnert, dahingegangen, gestaltlos, aufbewahrt) zu erwähnen.
Mit weiteren bislang nicht in der Ausgabe der Gesammelten Werke erfaßten Übertragungen ist zu rechnen. Vgl. Paul Celan, hrsg. v. W. Harnacher und W. Menninghaus, stm (Frankfurt, 1988), S.347–348.
Peter Szondi, „Durch die Enge geführt“ in: Schriften II, hrsg. v. Jean Bollack u. a., stw 220 (Frankfurt a. M., 1978), S.345–389. Hanebüchen finde ich hingegen, was Szondis Schülerin Henriette Beese in Nachdichtung als Erinnerung (Darmstadt, 1976) zu Celans äquivokem Reim in Son. 4, 13–14 und zum Verwesungsduft im 5. Son. schreibt. Zu Son. 4, 13–14: „Während das Du der Verwesung anheimfällt, wird es im wesenden Gedicht verwahrt; während das Gedicht den Verwesten zu verwahren sucht, verwest es doch selbst; um das verwesende Gedicht zu verwahren, muß das erneut verwahrende Gedicht dem verwesenden und seiner Verwesung sich angleichen. Diese seine Wahrheit sagt es wiederum in der Paronomasie“. (S. 131) Zu Son. 5: „Sublimierter Verwesungsduft, im Glas . . . gefangen, ist der Geist nicht nur etwas Spirituelles, sondern zugleich ein spirit, ein Gespenst, ein Geist in der Flasche. (. . .) Die Trauer (. . .) wird vom Weiterwesen im Gedicht getröstet nur um den Preis des Unheimlichen“. (S. 136f.) Solch eine wildgewordene Spekuliererei haben weder Szondi noch Celan noch Freud verdient. Übertroffen wird dieser Unfug freilich noch durch Beeses Kommentare zu Georges Übersetzung von Son. 107, 12: „Er (sc. Tod) schlage menschen dumpf und ohne sprach!“, die sie allen Ernstes als „Forderung“ mißversteht und entsprechend faschistoid nennt (S. 170 u. 173). Darauf läßt sich eigentlich nur mit einem weiteren George-Zitat antworten: „die losgezogen / Auf meine fehler stellen ihre dar“.
Vgl. oben Anm. 14.
Zu den rühmlichen Ausnahmen gehören David Masson, „Free Phonetic Patterns in Shakespeare’s Sonnets“, Neophilologus, 37 (1954), S. 277–289; Stephen Booth, An Essay on Shakespeare’s Sonnets. (New Haven, 1969) und Inge Leimberg, „ To hear with eyes. Eine Interpretation von Shakespeares 30. Sonett“ in: Kuno Schuhmann u. a. (Hrsg.) Miscellanea Anglo-Americana. Festschrift für Helmut Viebrock. (München. 1974.) S. 335–350.
Walter Benjamin, Schriften in 2 Bänden, hrsg. v. T. W. und G. Adorno (Frankfurt a. M., 1955). Bd. I, S.42 und 44.
Son. 54, 11–14: „Sweet Roses doe not so, / Of their sweet deathes, are sweetest odors made: / And so of you, beautious and louely youth, / When that shall vade, by verse distils your truth.“
Areopagitica: „For books are not absolutely dead things, but do contain a potency of life in them to be as active as that soul was whose progeny they are; nay, they do preserve as in a vial the purest efficacy and extraction of that living intellect that bred them.“ (Complete Poems and Major Prose, hrsg. v. M. Y. Hughes. (New York, 1957), S. 720.
„Buonaparte“: „Heilige Gefälße sind die Dichter, / Worin des Lebens Wein, der Geist / Der Helden, sich aufbewahrt ...“ (Gedichte, hrsg. v. J. Schmidt, insel taschenbuch. (Frankfurt, 1984), S. 43).
Francis Bacon, The Works, hrsg. v. Spedding u. a. (Neudruck, Stuttgart, 1963), Bd. III, S. 318.
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Lengeler, R. (1989). Shakespeares Sonette in deutscher Übersetzung: Stefan George und Paul Celan. In: Shakespeares Sonette in deutscher Übersetzung: Stefan George und Paul Celan. Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, vol 297. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-05335-4_1
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