Zusammenfassung
Daß die britische Verfassung eine ungeschriebene Verfassung ist, hat zur Folge, daß die Geschichte ein Teil der Verfassung ist. In einem Lande mit einer geschriebenen Konstitution muß der Verfassungsrechtler vielleicht Geschichte studieren, um den Text der Verfassung deuten zu können; in Großbritannien ist dagegen die Geschichte selbst sein Text. Zwar ist die entfernte Vergangenheit von der jüngeren Vergangenheit überlagert worden, man muß aber auch daran denken, daß Königin Elisabeth II. eine feudale Monarchin ist oder zumindest doch die Nachfolgerin einer langen Reihe von feudalen Monarchen; daß das Parlament der »High Court of Parliament« (Hoher Gerichtshof Parlament, die offizielle Bezeichnung des Parlaments) ist, eine Erscheinungsform der »curia regis«, des feudalen Gerichtshofes des Monarchen. Man muß sich ferner daran erinnern, daß das Kabinett, juristisch gesehen, eine informelle Zusammenkunft der wichtigsten Berater der Königin darstellt und die Kabinettsmitglieder die Nachfolger derjenigen sind, die mit den Vorgängern der Königin im Council (Staatsrat) saßen. Diejenigen, die ihre Geschichte vergessen, vergessen auch ihr Recht. Als der Autor Verfassungen für Ceylon und Pakistan entwarf, erachtete er es für notwendig, vor Analogien mit dem Vereinigten Königreich zu warnen, denn geschichtlich und daher auch rechtlich ist die übliche Ansicht, daß das »Parlament« aus der Königin, dem Oberhaus (House of Lords) und dem Unterhaus (House of Commons) besteht, unrichtig. Rechtlich besteht das Parlament aus den geistlichen und weltlichen Lords, den Gemeinen (Commons) und der Königin, die im Parlament versammelt sind, und das Fehlen eines jeden Hinweises auf irgendwelche Häuser (Houses) ist nicht ohne Absicht. Glücklicherweise hat jetzt eine lange Reihe von Verfassungshistorikern die Quellen erschlossen, aus denen sich die britische Verfassung herleitet und aus denen sie auch heute noch in der Tat besteht. Verfassungsrecht ohne Verfassungsgeschichte führt zu Verfassungshäresie. Die älteren Verfassungshistoriker begannen ihre Werke mit der Beschreibung der Germanen, wie sie Tacitus gibt; zweifellos begann ja auch die Geschichte Großbritanniens mit der Invasion der Angeln, Sachsen und Jüten, die auf Hadrians Rückzug der römischen Legionen folgte. Auch läßt sich das anglo-normannische System, das der letzten erfolgreichen Invasion in England durch Wilhelm den Eroberer 1066 folgte, nur durch Begriffe des angelsächsischen Brauchtums und des normannischen Feudalismus erklären. Trotzdem waren die durch die Normannen bewirkten Veränderungen so wesentlich, daß die normannische Eroberung einen günstigen Ausgangspunkt für unsere Darstellung bietet.
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Jennings, I.W., Ritter, G.A. (1958). Die historische Tradition. In: Das britische Regierungssystem. Die Wissenschaft von der Politik, vol 4. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-02149-0_2
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