Zusammenfassung
Kleist erzählt die Geschichte von Toni und Gustav im Hinblick auf die Kolonisierung und Unterwerfung Europas durch das napoleonische Frankreich. Nichtsdestoweniger ist Die Verlobung in St. Domingo auch allgemein im Kontext der Kolonialliteratur zu sehen, denn sie folgt bestimmten Mustern, die dieser Gattung eigentümlich sind. Die international prägenden Dichtungen, die die Begegnung von Europäern mit Einwohnern des noch weitgehend unbekannten amerikanischen Kontinents behandelten, kamen im 17. und 18. Jahrhundert bezeichnenderweise aus England. England war damals die europäische Nation, die die Ausdehnung ihres Kolonialreichs am aktivsten betrieb. William Shakespeares The Tempest (1611)26, Richard Steeles Geschichte von „Inkle and Yarico“ im Spectator von 171127 und Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719)28: Die Grundkonstellationen in diesen Dichtungen sind zahllos abgewandelt worden, und sie scheinen auch in Kleists Erzählung durch. Der Zufall will es, daß ausgerechnet Lucien Bonaparte, ein Bruder Napoleons, 1799 ebenfalls eine Variation der Inkle-und-Yarico-Geschichte veröffentlichte. Lucien hatte als Präsident des Rats der Fünfhundert am 18. Brumaire 1799 Napoleon bei seinem Staatsstreich maßgeblich unterstützt. Dann aber wandte er sich aus persönlichen, politischen und ideologischen Gründen als einziges Mitglied des Bonaparte-Clans gegen den großen Bruder und lehnte dessen Angebote ab, Königsthrone in Italien und Spanien zu besteigen. Lucien wollte 1810 in die USA auswandern, wurde aber bei der Überreise von einem englischen Kreuzer abgefangen, und so verbrachte er vier Jahre in englischer Kriegsgefangenschaft. Napoleons sechs Jahre jüngerer Bruder war mehr Schöngeist als Politiker, und zu den Büchern, die er geschrieben hat, gehört der genannte zweibändige Roman mit dem Titel La tribu indienne ou Edouard et Stellina. Der Ort der Handlung ist hier allerdings nicht eine Karibikinsel, sondern die Insel Ceylon, das heutige Sri Lanka. Wer eine solche europa-und kolonialismuskritische Geschichte verfaßte, konnte sich schlecht auf die Seite des mächtigen Bruders schlagen, der bald nach seinem Staatsstreich den Plan faßte, ein amerikanisches Kolonialimperium zu begründen und die Sklaverei wieder einzuführen. Es ist nicht auszuschließen, daß Kleist, der sich 1801 in Paris aufhielt, die Erzählung vom Bruder des Ersten Konsuls kannte.
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Literatur
Vgl. Peter Hulme, Colonial Encounters. Europe and the Native Caribbean 1492–1797 (London und New York: Methuen, 1986). Auf den Seiten 175ff. wird Defoes Robinson Crusoe und auf den Seiten 190 ff. Shakespeares The Tempest diskutiert.
Lawrence Marsden Price, Inkle and Yarico Album (Berkeley: University of California Press, 1937); English Trader, Indian Maid. Representing Gender, Race, and Slavery in the New World. An Inkle and Yarico Reader,hrsg. v. Frank Felsenstein (Baltimore und London: The Johns Hopkins University Press, 1999). Auf das Inkle-und-Yarico-Schema kommen in der Kleistforschung zu sprechen: Herbert Uerlings, „Preußen in Haiti? Zur interkulturellen Begegnung in Kleists,Verlobung in St. Domingo“, Kleist Jahrbuch (1991): 194; Susanne Zantop, Colonial Fantasies,145.
Vgl. Edward W. Said, Culture and Imperialism (New York: Vintage, 1994 ), 70.
Frantz Fanon, Les damnés de la terre (Paris: Maspero, 1961); Peau noire, masques blancs (Paris: Seuil, 1965); Pour la révolution africaine. Ecrits politiques ( Paris: Maspero, 1964 ).
Vgl. zum Thema auch: Wolf Kittler, Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege (Freiburg i. Br.: Rombach, 1987 ).
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Lützeler, P.M. (2000). Grundmuster kolonialer Erzählungen. In: Napoleons Kolonialtraum und Kleists „Die Verlobung in St. Domingo“. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, vol 372. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01782-0_5
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