Zusammenfassung
Fritz Mauthners Roman „Quartett“ ist der erste Band einer Trilogie, deren Gesamttitel „Berlin W.“ lautet. Berlin W. war ein allgemein übliches Kürzel für das Villenviertel der Berliner Oberschicht am Südrand des Tiergartens. Dieser Teilraum der Stadt beschäftigte häufig die Imaginationen der über Berlin Schreibenden. Obgleich abseits von großstädtischer Betriebsamkeit gelegen, schien er im besonderen Maße typisch für den Charakter der neuen Metropole.1 Hier lebte eine Parvenü-Schicht, deren Aufstieg eng an die Entwicklung Berlins zur Großstadt gekoppelt war. Das „arbeitsame und erwerbende“ Berlin — so Paul Lindau in seinem seinerzeit sehr bekannten Berlin-W.-Roman „Der Zug nach dem Westen“ — wandelte sich hier in ein „genießendes und ausgebendes Berlin“2 und eröffnete damit einen Raum, in dem die erprobten Themen der Literatur, die seelischen Konflikte und sozialen Ambitionen, Platz fanden. Obgleich sich die naturalistischen Schriftsteller im Bewußtsein, daß der „Salon (...) abgegrast“ sei3, ursprünglich eher zum proletarischen Berlin hingezogen fühlten (vgl. das folgende Kapitel zu Max Kretzers Roman „Die Verkommenen“), bot sich offensichtlich auch dieses Milieu luxuriös lebender Parvenüs als Projektionsfläche für die bevorzugten drastischen Sujets an:4 Wie Wilhelm Bölsche mit kritischer Intention beschrieb, entwickelte sich in den achtziger Jahren als eine „Spezies“ des „neueren Berliner Romans“ die „in schwärzestem Gewande einherwandelnde Ehebruchsgeschichte aus Berlin W“.5Mauthners Roman ist für dieses (oft in die Nähe des Unterhaltungsromans absinkende) Genre ein prägnantes Beispiel.
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Literatur
Paul Lindau beschrieb in seinem Roman „Der Zug nach dem Westen“ (1886) den Berliner Westen als Ziel, dem entgegenzuziehen derselbe innere Kompaß treibt, der auch schon die Menschen nach Berlin führte: „die großstädtische Gesellschaft folgt demselben Zuge, der schon seit den Tagen der Völkerwanderung der gesetzmäßige geworden ist (CHRW(133)): dem großen Zuge nach dem Westen. Das eigentümliche Berlin, das unser Geschlecht zu einer Millionenstadt hat entstehen lassen, hat sich fast ausschließlich durch den Zuzug vom Osten her gebildet. (CHRW(133)) und die große Flutung bewahrt ihre Richtung auch innerhalb der Stadt selbst. Auch da ist derselbe Zug nach dem Westen der charakteristische”. (P. Lindau: Der Zug nach dem Westen. S. 74)
P. Lindau: Der Zug nach dem Westen. S. 74.
M. Kretzer: Zur Entwicklung und Charakteristik des „Berliner Romans“. S. 269ff.
Zur Tendenz des deutschen Naturalismus und der auf ihn folgenden Literaturströmungen, sich eher dem bürgerlichen `Salon’ als proletarischen Milieus zuzuwenden, vgl. D. Scheunemann: Romankrise. S. 50ff und K. Wais: Zur Auswirkung des französischen naturalistischen Romans in Deutschland.
W. Bölsche: Die Poesie der Großstadt. S. 625.
T. Fontane: Aufsätze zur Literatur. S. 370.
Selbst wenn, wie in Lindaus „Der Zug nach dem Westen“, eine Wohnung außerhalb des bisherigen Milieus gesucht werden muß, ist diese nur in derselben Stadthemisphäre vorstellbar: „Auf den Gedanken, ihren Wohnsitz nach Osten zu verlegen, kamen sie gar nicht. Nur der westliche Teil von Berlin galt ihnen als der Inbegriff von Berlin” (P. Lindau: Der Zug nach dem Westen. S. 369).
W. Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. S. 287.
Joachim Kühn interpretierte in seiner Mauthners Leben und Werk vorstellenden 11G. Hermann: Der Großstadtroman. S. 7.
Diese Figur besitzt sehr direkt die typische `auktoriale’ Verfügungsgewalt über den Raum (wie in Alain-René Lesages „Le Diable Boiteux“ (1707) steht ihm das Innere der Häuser offen): Wenn er bei seinem Gang durch den Berliner Westen die Luxushäuser betrachtet, blickte er „durch die Wände und durch die Jalousien hindurch und sah in alle Räume hinein, wo der Reichthum und die Künste zu Hause waren” (434).
Kühn: Gescheiterte Sprachkritik. S. 151.
Vgl. auch die trotz deutlicher Kritik zumindest im Vergleich mit Lindaus „Der Zug nach dem Westen“ bedingt positive AuBerung Fontanes zu Mauthners Roman (T. Fontane: Aufsätze zur Literatur. S. 368).
Max Kretzers Berlin-W.-Roman „Drei Weiber“ gibt in besonderer Ausführlichkeit das Tableau eines Diners (M. Kretzer: Drei Weiber. Bd. 1, S. 52ff). Paul Lindaus „Der Zug nach dem Westen” beginnt mit einem ausfühlich geschilderten Diner (P. Lindau: Der Zug nach dem Westen. S. 1ff); auch Conrad Albertis „Wer ist der Stärkere?“ enthält eine ausführliche Einladungsbeschreibung (C. Alberti: Wer ist der Stärkere? Bd. 1, S. 91ff).
Max Kretzer charakterisiert das in seinem Roman „Drei Weiber“ geschilderte Liebesverhältnis als eines „jener intimen Verhältnisse (CHRW(133)), die unter dem Firnisse der Gesellschaft vortrefflich gedeihen” (M. Kretzer: Drei Weiber. Bd 1, S. 43).
An Friedrich Stephany, 2. July 1894. In: Fontanes Briefe in zwei Bänden. Bd. 2, S. 348.
Lucie Semisch in Albertis „Wer ist der Stärkere“ und Stephanie Wilprecht in Lindaus „Der Zug nach dem Westen” stellen denselben Frauentyp dar.
C. Alberti: Wer ist der Stärkere? Band I, S. 266.
F. Mauthner: Die Fanfare. S. 30. Auch schon im „Quartett“ wird Leontine als „Symbol” der „Gegenwart“ angesprochen (65).
Vgl. zur Allegorie der Hure Babylon in der Berlindarstellung: H. Bergius: Berlin als Hure Babylon.
Mit der primär soziologischen Darstellungsabsicht dieses und ähnlicher Berlin-W.Romane hängt eine geringe psychologische Tiefenschärfe der Beschreibung zusammen. Obgleich die Abgründe des Psychischen für die Romanpersonen bestimmend sind
A. Döblin: Aufsätze zur Literatur. S. 355. Zu Döblins Kritik der „Dramatisierung“ der epischen Form durch die Konstruktion von Liebesgeschichten vgl. U. Scholvin: Döblins Metropolen. S. 15f.
Die einzige Beschreibung von Passanten hat bezeichnenderweise nicht eine Stadtstraße, sondern einen Tiergartenweg zum Schauplatz. Sie folgt der Perspektive Jakubukowskis. Dieser ideele Werte vertretende„Humorist” wohnt wie E. T. A. Hoffmann im alten Zentrum und läßt — als wolle Mauthner noch einmal an eine biedermeierliche Stadtkultur erinnern — in seinem Blick auf die Tiergartenpassanten noch einmal das Muster, das Hoffmann in seiner Erzählung „Des Vetters Eckfenster“ (1822) entworfen hat, aufleben: wie in Hoffmanns bekanntem Text (vgl. S. 289) erfolgt auch hier die Wiedergabe der Passanten in einer dialogischen Situation, wo ein im Wahrnehmen Geübter (Jakubukowski) die Wahrnehmungen eines Partners (Magda Herbig) führt und ihn auf humoristische Weise auf das buntscheckige Verhalten der Passanten aufmerksam macht (35).
Die Rotationsmaschine wurde 1872 eingeführt und war zusammen mit anderen technologischen Neuerungen (Erfindung der Setzmaschine 1884 ) eine der Gründe der Entfaltung einer Massenpresse (vgl. R. A. Berman: Literarische Öffentlichkeit. S. 75 ).
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Forderer, C. (1992). Fritz Mauthner: Quartett. Aus der Chronique scandaleuse des Berliner Westens. In: Die Großstadt im Roman. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01639-7_5
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