Zusammenfassung
Die Besonderheit des literarischen Werkes Jean Pauls erklärt sich aus der außergewöhnlich dominanten und reich ausgestalteten Persönlichkeit der Erzählfigur. Daneben sind es gerade die Vorreden, die sein Schreiben charakterisieren und die einen wichtigen Bestandteil aller Romane bilden. Die Vorliebe Jean Pauls für diese — bei ihm zur ‚Kleingattung‘ anwachsende — Form läßt sich an verschiedenen Punkten nachzeichnen. Auffallend ist zuerst die Häufigkeit ihres Vorkommens. So bilden die Vorreden den Auftakt zu fast allen Schriften, daneben sind sie auch innerhalb einzelner Romane als Kapiteleingänge keine Seltenheit165, schließlich kommt es auch vor, daß sie am Schluß nachgereicht werden.166 Bemerkenswert ist weiterhin ihre phantasievolle Gestaltung.167 Hierzu gehören sowohl die zahlreichen und unterschiedlichen Benennungen, die vielfältigen „Einkleidungen“, wie auch Jean Pauls Vorhaben, einmal ein Buch mit gesammelten Vorreden herauszugeben. Überhaupt scheint der sich an die ‚Vorreden-Kür‘ anschließende Romantext lästige Pflicht zu sein: „Es hat mich oft verdrüßlich gemacht, daß ich jeder Vorrede, die ich schreibe, ein Buch anhängen muß als Allonge eines Wechselbriefes, als Beilage sub litt. A–Z“.168 Schließlich — hierauf richtet sich mein Interesse — sind sie jenseits ihrer (oft unterstellten) Skurrilität von nicht zu unterschätzender informatorischer Bedeutung und bieten reichhaltiges und anschauliches Material zur Erforschung schriftstellerischer Produktion am Ausgang des 18. Jahrhunderts.
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Literatur
Siehe z.B. das 1. “Bändchen” der Grönländischen Prozesse: GP, W II, 1, 471ff oder die Vorrede zum Titan innerhalb des Pestitzer Realblattes: “Ich schreibe sie zuletzt, damit man sie nicht zuerst lese.” T,W I, 3, 899.
Zur Vielfalt Jean Paulscher Vorreden siehe zahlreiche Beispiele bei E. Berend, Freundschaftliche Unterhaltung mit dem Leser, 1956, S. 16f.
H.-J. Ansorge konstatiert in seiner Dissertation von 1969 über Art und Funktion der Vorrede im Roman die „Andersartigkeit“ (S. 166) und das „Kunterbunt“ (S. 167) Jean Paulscher Vorreden, seine Analyse füllt diese Begriffe jedoch nicht mit Inhalt. Zwischen den Untersuchungen von Ehrenzeller und Kommerell hin und her lavierend, ordnet der Verfasser, der nur die Vorworte zu ersten Auflagen untersucht, die Vorreden Jean Pauls dem auktorialen Erzählstil zu. Dies hat für Ansorge zur Konsequenz, daß in den ‚Vor-Werken‘ vornehmlich der fiktive Erzähler, nicht der Realautor spricht. Eine eingehende Analyse der Vorreden Jean Pauls findet darüber hinaus jedoch nicht statt.
Hierzu siehe E. Weber, Die poetologische Selbstreflexion im deutschen Roman des 18. Jahrhunderts, 1974, dessen Erster Teil (S. 19–85) von der Romanreflexion zwischen 1700 und 1760 handelt und sich dabei auf die Vorredenpraxis konzentriert, Jean Paul jedoch - schon wegen des Untersuchungszeitraumes - keine Erwähnung findet.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 158–182.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 6. - Über Kommerells beständige und überall wiederkehrende Anstrengung, Literatur nach eigens aufgestellten Schemata zu kategorisieren, siehe ausführlich H. Schlaffer, Die Methode von Max Kommerells ‘Jean Paul“, 1979, S. 22f.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 159.
Kommerell spricht an anderer Stelle von dem “Unbeweisbaren seiner [Jean Pauls, A.E.] Natur und seines Formens”; M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 159.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 159.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 160.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 161.
W. Benjamin, Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft, (= GS III), (1931) 1972, S. 286. - B. v. Wieses Rezension zu Kommerells Jean Paul verdeutlicht die Tendenz des Verfassers, wenn er einen ‘durchempfundenen und durchgefühlten’ Jean Paul als Ergebnis der Arbeit lobend erwähnt; B. v. Wiese in: Dichtung und Volkstum 35, 1934, S. 281.
H. Schlaffer, Die Methode von Max Kommerells ‘Jean Paul“, 1979, S. 37.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 168.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 160.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 163.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 182.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede,1955, Kap. II, S. 19ff.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede,1955, S. 35ff.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede,1955, S. 133.
Siehe z.B. Goethe: “Ich habe die Schriften meiner ersten Jahre ohne Vorwort in die Welt gesandt, ohne auch nur im mindesten anzudeuten, wie es damit gemeint sei; dies geschah im Glauben an die Nation, daß sie früher oder später das Vorgelegte benutzen werde.”
J.W.v. Goethe, Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans, (= Werke 2), (1816) 1982, S. 126. - Demgegenüber steht jedoch Goethes Selbstanzeige Zur Farbenlehre in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände (6. Juni 1810): Dem Schriftsteller scheint es danach unentbehrlich, “entweder in einer Vorrede oder in einer Recapitulation von seiner Arbeit, besonders wenn sie einigermaßen weitläufig ist, Rechenschaft zu geben.” Zit. nach R. Wittmann, Die frühen Buchhändlerzeitschriften, 1972, S. 1901.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede, 1955, S. 170. - Hierzu siehe auch die Arbeit von H. Rief-stahl, der in einer kurzen, aber überaus materialreichen Studie die Geschichte der Vorreden bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein verfolgt. Jean Paul ist dabei schon wegen der zeitlichen Begrenzung nicht Untersuchungsgegenstand; insgesamt bietet die Arbeit hauptsächlich eine Fülle von Beispielzitaten, die jedoch spärlich und nur in Ansätzen ausgewertet werden. H.R., Dichter und Publikum, 1934; im obigen Zusammenhang vor allem S. 58ff. - Ausführlich zu Riefstahl: H.-J. Ansorge, Art und Funktion der Vorrede, 1969, S. 3f, 11ff.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede, 1955, S. 115.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede, 1955, S. 107.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede, 1955, S. 200.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede, 1955, S. 200.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede, 1955, S. 200.
R. Scholz, Welt und Form, 1973, S. 189–198.
So E. Berend, Freundschaftliche Unterhaltung mit dem Leser, 1956, S. 17.
R. Scholz, Welt und Form, 1973, S. 197.
R. Scholz, Welt und Form, 1973, S. 196.
R. Scholz, Welt und Form, 1973, S. 197.
Das Erscheinungsjahr der Arbeit (1973) sowie der eklatante Bruch zwischen der Einleitung und der restlichen Arbeit bestätigen diesen Eindruck.
E. Berend, Freundschaftliche Unterhaltung mit dem Leser, 1956 habe ich wegen seiner allzu knappen (zweiseitigen) Darstellung nicht gesondert besprochen.
Zu verweisen ist an dieser Stelle insbesondere auf R. Wittmanns ausführlichen Exkurs über Subskriptionsanzeigen, wobei der Verfasser die ökonomische Notwendigkeit von Vor-Reden, gleich welcher Art sie sind, betont. Dabei gebt Wittmann von einer “nahen Verwandschaft” von Vorrede und jenen Anzeigen aus, die vor allem die Funktion besitzen, bereits im Vorfeld des (Roman-)Textes (in der Ankündigung innerhalb einer Literaturzeitschrift) den Kontakt zum Publikum zu suchen und sich hierbei um deren Gunst bemühen. Das Subskriptionswesen sieht Wittmann demnach entscheidend im Kontext der durch den kommerzialisierten literarischen Markt entstehenden und schnell anwachsenden Entfremdung von Autor und Publikum. Die Anzeigen sind als zumeist hilflose Unternehmungen zu lesen, die ‘Gesichtslosigkeit’ des Marktes zu überwinden. Weder in ökonomischer Hinsicht noch im Verhältnis der Autoren zu den Leserinnen zeitigten diese Institutionen jedoch einen dauerhaften Erfolg und verschwanden schließlich aus dem literarischen Leben. R. Wittmann, Die frühen Buchhändlerzeitschriften, 1972, darin: Kap. 3.3.2.ff: Subskriptionswesen und literarisches Leben am Ende des 18. Jahrhunderts, S. 1900–1931.
G. Genette, Paratexte, (1987) 1992, S. 173. - Genette geht diesem Umstand lediglich phänomenologisch und nicht analytisch nach. Er bemüht sich dabei um eine detailierte Begriffsfindung, um so eine genaue und differenzierte Charakteristik von Art und Struktur (Typologie) der Vorrede zu erstellen.
Neue allgemeine deutsche Bibliothek (1794); zit. nach Sammlung, III, hgg. von K. Wölfel, 1983, S. 13.
Indem der Verfasser sich in der Vorrede durch seinen Namenszug den Leserinnen vorstellt, demonstriert er auch seine Urheberschaft sowie sein Eigentumsrecht am Text. Das ist seit dem Zeitpunkt von erheblicher Bedeutung, als literarische Produkte unter die bürgerliche Eigentumsordnung subsumiert wurden. Streitigkeiten zwischen Literaten und Verlegern, zwischen Verlegern untereinander oder die heftig be-und umkämpfte Nachdruckpraxis stehen als beredte Beispiele für die sich ständig verkomplizierende Problematik geistigen Eigentums. Insofern ist es für den Autor von größter Dringlichkeit, seine juristischen Ansprüche am Text über seine Person, und vor allem über seinen Namen, zu fixieren. Ausführlich hierzu H. Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft, 1981.
W. Köpke, Erfolglosigkeit, 1977, S. 253, Anm. 11.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede, 1955, S. 185.
R. Barthes stellt dem Typus des Schreibers jenen des Schriftstellers gegenüber und befragt beide nach ihrer jeweiligen Funktion. Für den Schriftsteller kommt er dabei auf die ‘Paradoxie’ zu sprechen, daß dieser wesentlich eine “tautologische Tätigkeit” ausübt, da ihm das Material - die Sprache, das Wort - zum Hauptzweck wird. Die Frage nach Existenz, Bedingung, Beschaffenheit etc. von “Welt” kann vom Schriftsteller immer nur gestellt werden über einen Umweg, über die vermittelte (und von Barthes immer wieder gestellte) Frage: “Wie schreiben”. - So ist der Schriftsteller “jener, der seine eigene Rede bearbeitet. Die Tätigkeit des Schriftstellers bringt zwei Arten von Normen mit sich: technische Normen (der Komposition, der Gattung, der Schreibweise) und handwerkliche (der Mühe, der Geduld, der Korrektheit, der Perfektion).” R.B., Schriftsteller und Schreiber, (1964) 1969, S. 46.
Bezogen auf den Realautor schreibt L. Fertig: “[…] man sollte […] nicht übersehen, welche Energie die Anreicherung verschiedener Werke in den zweiten Auflagen kostet, welche Kräfte durch das Hineinversetzen in frühere Arbeitsvorgänge verbraucht werden, Kräfte, die investiert werden müssen, um die Werke, nicht zuletzt um des Honorars willen, verbessert und vermehrt vorlegen zu können; […]”. L.F., Jean Paul und das moderne Berufsschriftstellertum, 1989, S. 113.
W.G. Heckmann, Die beiden Fassungen von Jean Pauls “Unsichtbarer Loge”, 1920, (Zitat S. 3).
“Dabei soll gezeigt werden, daß Jean Pauls sachlicher Ausgangspunkt von der romantisch-komischen Kunst ihn zu der intensiven theoretischen Beschäftigung mit der Sprache als dem Material oder der Basis der Dichtkunst gezwungen und ihm zugleich Argumente gegen das klassische Stil-oder Kunstideal geliefert hat.” G. Wilkending, Jean Pauls Sprachauffassung in ihrem Verhältnis zu seiner Ästhetik, 1968, S. XI.
M. Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten oder Sternbild, 1986.
M. Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten oder Sternbild, 1986, S. 9.
“Es sollte vermieden werden, bei Jean Paul einen Primat sei es der Theorie vor der poetischen Phantasie oder sei es umgekehrt zu unterstellen; es ist überdies davon auszugehen, daß sich Inkongruenzen zwischen einzelnen theoretischen Erwägungen und bestimmten poetischen Verfahrensweisen ergeben können.” M. Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten oder Sternbild, 1986, S. 10.
M. Schmitz-Emans, Schnupftuchsknoten oder Sternbild, 1986, Kap. 3, S. 159ff.
Hierzu siehe die Arbeit von J. Gessinger, Sprache und Bürgertum, 1980 mit dem zitierten Untertitel: Zur Sozialgeschichte sprachlicher Verkehrsnormen im Deutschland des 18. Jahrhundert.
So schätzt J.G. Heinzmann besonders Bücher, “wie das Adelungische Wörterbuch der deutschen Sprache, die auf den Geschmak, Fortschritt und die Thätigkeit der Nation den größten Einfluß äussern könnten, und auch wirklich äußern […].” J.G.H., Appell an meine Nation,1795, S. 199.
Damit sind die wesentlichen Ursachen für die Sprachentwicklung im 18. Jahrhundert genannt. Über eine Untersuchung dieser “Stimuli” gelingt es Natalija N. Semenjuk, die historische Grundlage für Sprachveränderungen im 17., 18. und 19. Jahrhundert darzustellen. N.N.S., Soziokulturelle Voraussetzungen des Neuhochdeutschen, 1985. - Siehe hierzu auch, systemtheoretisch argumentierend, den stichwortartigen Exkurs 2: Literatursprachen bei S. Schmidt, Selbstorganisation, 1989, S. 377–380.
Art und Umfang der Verdeutschung zahlreicher Fremdwörter sammelt - nahezu kommentarlos - E. Behagel, Verdeutschungen bei Jean Paul, 1927.
F.G. Klopstock, Die deutsche Gelehrtenrepublik, (1774) 1975, S. 24.
Sinngemäß nach Th. Metscher, Die Kunst als Schmuck und Spiegel der Welt, 1987, S. 158.
T.W. Goethe (zugeschrieben), Der Autor, mit Verweis auf den zweifelhaften Ursprung abgedruckt in J.W.G., Gedichte 1756–1799, 1987, S. 1263.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 171.
M. Kommerell, Jean Paul, (1933) 1957, S. 171: “Das Wichtigtun dieses Ich, das seine Nichtigkeit weiß, berauscht sich daran, uns in Vorreden den Unsinn seines Wie und seines Daß aufzudrängen - […].”
Zum realgeschichtlichen Hintergrund: Der Vorredner erwähnt hier die ‘Realschulbuchhandlung’ des Verlegers Georg Andreas Reimer in Berlin, mit dem Jean Paul über die Ausgabe und Honorierung der 2. Auflage des Siebenkäs in Briefwechsel stand. Die Bedingungen Jean Pauls für eine Neuveröffentlichung siehe in dem Brief an Reimer vom 7.2.1817, SW III, 7, 100f.
SK, W I, 2, 13; Hervorhebung von mir, A.E. - In ähnlichem Wortlaut siehe auch die Vorrede zur 2. Auflage der Unsichtbaren Loge, worin der Vorredner von seinem mit “weisen Runzeln und mit Druck-und Dintenschwärze zugleich durchfurchten Alt-Exemplars” spricht; UL,W I, 1, 20. - Und Fibel “sah sich schon halb gedruckt”, obwohl er nur “mit Dinte schrieb”, welche Gutenberg jedoch “anfangs (nach Schröckh) gebrauchte statt der Druckerschwärze.” LF, W I, 6, 430.
G. Flaubert à Ernest Feydeau, 11 janvier 1859 (zit. nach G. Flaubert 1974, S. 656). - “Ich habe mit Freude gesehen, daß die Druckerkunst anfängt, Dir in die Nase zu stinken. Sie ist, meiner Meinung nach, eine der dreckigsten Erfindungen der Menschheit. […] Ein Buch ist etwas wesentlich Organisches, es ist Teil unseres Selbst. Wir haben uns ein paar Eingeweide aus dem Bauch gerissen, die wir den Bürgern darbieten. Man kann die Tropfen unseres Herzbluts in den Buchstaben unserer Handschrift sehen. Doch wenn es erst einmal gedruckt ist, gute Nacht! Es gehört allen! Die Menge trampelt über unseren Körper!” (zit. nach G. Flaubert 1964, S. 416).
M. McLuhan, Die magischen Kanäle, (1964) 1970, S. 17.
A. Assmann, Exkarnation, 1993, S. 133ff.
J.G. Herder, Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente, (= Werke I), (1768) 1985, S. 403.
Siehe hierzu G. Mattenklott, Der übersinnliche Leib, 1982, S. 146.
W. Kittler, Literatur, Edition und Reprographie,1991, S. 208.
W. Kittler, Literatur, Edition und Reprographie,1991, S. 217.
M. McLuhan, Die magischen Kanäle, (1964) 1970, S. 160.
Siehe hierzu nochmals G. Mattenklott, Der übersinnliche Leib, 1982, S. 135f: Die Lesenden können “in der Handschrift - wie vergleichbar in der Lineatur eines Fingerabdrucks - eine Gestalt ahnen […], in der Leben und Geist, der Ausdruck und die Form in einer Struktur zusammengespannt sind […]”.
Siehe hierzu M.-L. Gansberg, Welt-Verlaclu4ng, 1974, die in expliziter Anlehnung an Bloch das Vor-Träumen als Möglichkeit eines besseren - utopischen - Lebens interpretiert, einem Leben in einer Welt ohne ‘Versagen und Widerspruch’. Die “Antizipation der Zukunft” ist eine “glücklichere Form der Fantasietätigkeit” und dient als Korrektiv der bestehenden Ordnung; ebd., S. 358–361.
Der Eingang der Vorrede (“Noch hab’ ich […I” Hervorhebung von mir, A.E.) einerseits und der Charakter des Entwurfs, dessen Vorläufigkeit, andererseits, verheißen eine Weiterentwicklung: Die Leserin blickt nach dieser Vorreden-Lektüre erwartungsvoll ‘nach vorne’, dem Hauptwerk und dessen Geschichte entgegen. Die Vorrede erfüllt somit auch eine dramatische Funktion im Spannungsaufbau des Gesamtwerks Hesperus.
Diese Art von Schreib-Spiel erinnert auch an Lessings Methode, der “in seiner Laune die allerfremdesten Ideen zu paaren [wußte], um zu sehen, was für Geburten sie erzeugen würden. Durch dieses ohne Plan hin und her Würfeln der Ideen entstanden zuweilen ganz sonderbare Betrachtungen, von denen er nachher guten Gebrauch zu machen wußte.” - M. Mendelssohn, An die Freunde Lessings, (1786) 1974, S. 205.
Diese Arbeitsmethode ist für Jean Pauls gesamtes Schaffen typisch: In seinen “Exzerpte[n] aus Exzerpten” vereinigt er quer durch alle Wissens-und Wissenschaftsgebiete die verschiedensten und “unähnlichsten” Dinge miteinander, die wiederum die Arbeitsgrundlage seiner weiteren Romanproduktionen bildet und in ihnen einfließen. - Dazu W. Rehm, Notenleben,(1959) 1964, S. 38: “In diesem universalen, von totaler Bezüglichkeit durchwirkten Spielraum vermag der Dichter über die atomisierten Dinge wie ein Selbstherrscher zu regieren, vermag mit ihnen nach seiner sich selbst genießenden, höchst künstlichen Phantasie zu schalten und zu walten.”
Als letztes Beispiel siehe noch Schiller in einem Brief an Körner, 1.12.1788; zit. nach Schillers Werke, NA, 25. Bd., 1979, S. 149: “Es scheint nicht gut und dem Schöpfungswerke der Seele nachtheilig zu seyn, wenn der Verstand die zuströmenden Ideen, gleichsam an den Thoren schon zu scharf mustert. Eine Idee kann, isolirt betrachtet, sehr unbeträchtlich und sehr abenteuerlich sein, aber vielleicht wird sie durch eine, die nach ihr kommt, wichtig; […] Bei einem schöpferischen Kopfe hingegen, däucht mir, hat der Verstand seine Wache von den Thoren zurückgezogen, die Ideen stürzen pêle-mêle herein, und alsdann erst übersieht und mustert er den großen Haufen.”
Mit welcher Emphase diese Freiheit des Geistes empfunden wurde - davon zeugt auch ein kleines Beispiel aus einem Roman von Fouqué, der wenige Jahre nach dem Hesperus erschien: “[…] die Herrlichkeit solcher Augenblicke […], wo der Geist nur sich selber kenne, […], wo seine Ergüsse zu rücksichtslosen, Alles hinreißenden Strömen würden, und die conventionelle Klugheit zusammenschrumpfe oder verstäube vor der gewaltigen Erscheinung.” Fr. Baron de la Motte Fouqué, Die wunderbaren Begebenheiten des Grafen Alethes von Lindenstein, (1817) 1984, S. 63. - Gerade dieses Moment ungezügelten, befreiten Phantasieflusses, so wie er von “Jean Paul Fr. Richter” in der 2. Vorrede des Hesperus als ein Vorteil des Entwurfs propagiert wird, spielt eine entscheidende Rolle in der Jean Paul-Rezeption durch die Romantiker. Sie sahen ihn mit seinem Schreiben als einen Vorläufer des phantastischen, chaotischen “Überhaupt”-Romans.
Der Entwurf innerhalb der 2. Vorrede des Hesperus ist kein Einzelfall. Im ganzen Werk finden sich bruchstückhafte Elemente, in und mit denen sich der Autor versucht, das heißt: eben seinen Kopf ausschüttelt. So auch - z.B. im Hesperus - zu Beginn des 32. Hundposttages (H, W I, 1, 1006ff). Die Spitz-Post ist noch nicht angekommen und in der Zwischenzeit entwirft der Erzähler mehrer Kapitelanfänge, die er dem Publikum vorlegt und sie schließlich in die Hundpost-Historie mit einflicht.
“Was […] unter der Mühsal des »Durchkomponierens«, in der Pflicht zur Vollständigkeit verlorengehen muß, hier kann es in aller Unmittelbarkeit wahrgenommen werden: die Intimität der Werkstatt und die Lebenswärme der schreibenden Hand, das plötzliche Glück des Einfalls, […].” Was H. E. Holthusen hier formuliert, könnte eine Interpretation der bislang besprochenen Vorrede abgeben. Sie steht allerdings in einem völlig anderen Zusammenhang: der essayistischen Darstellung von Kommerells Literaturanalyse. H.E.H., Max Kommerell und die deutsche Klassik, 1958, S. 141.
Das unterscheidet den Vorredner auch von Wieland, der sich darüber beklagt, daß ihm der “Genius der Vergänglichkeit […] keine Zeit lassen wird”, seine Entwürfe auszuführen: “Sie sehen, lieber Vieweg, ich bin wie alle alte Leute: in meinem Garten pflanze ich Bäume, deren Früchte ich nie sehen werde […].” C.M. Wieland an F. Vieweg, 30. Dez. 1800; zit. nach C.M. Wielands Briefwechsel, 1984, S. 676.
Dazu Ehrenzeller ganz anschaulich: Jean Paul kann sich in der Vorrede als Erzähler präsentieren, den “noch kein Held […] belauscht und den […] noch keine Biographen-pflichten drücken”; H. Ehrenzeller, Romanvorrede, 1955, S. 182.
C.M. Wieland in der Vorrede zu S.C.A. Lütkemüllers Aimar und Lucine (1802); zit. nach C.M. Wielands Briefwechsel, 1984, S. 697.
H. Ehrenzeller, Romanvorrede, 1955, S. 139.
M. Foucault, Was ist ein Autor?, (1969) 1988, S. 17ff. - Nach Foucault ist ‘Autor’ eine Konstruktion innerhalb eines bestimmten, gesellschaftlich-institutionellen Diskursnetzes, wobei sich die “Funktion Autor” an verschiedenen Merkmalen ablesen läßt. Dergestalt können “»literarische« Diskurse […] nur […] rezipiert werden, wenn sie mit der Funktion Autor versehen sind: jeden Poesie-oder Fiktionstext befragt man danach, woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen oder nach welchem Entwurf.” (S. 19) Und letztlich ist das, “was man an einem Individuum als Autor bezeichnet (oder das, was aus einem Individuum einen Autor macht) nur die mehr bis minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen läßt, der Annäherung, die man vornimmt, der Merkmale, die man für erheblich hält, der Kontinuitäten, die man zuläßt, oder der Ausschlüsse, die man macht.” (S. 20). - Zudem siehe ders., Die Ordnung des Diskurses, (1972) 1992, S. 21f.
E. Brandes, Betrachtungen über das weibliche Geschlecht und dessen Ausbildung in dem geselligen Leben, 1802, zit. nach Fr. Kittler,Aufschreibesysteme,1987, S. 118.
Fr. Kittler,Aufschreibesysteme, 1987, S. 118.
Fr. Kittler,Aufschreibesysteme, 1987, S. 118.
Indiesem Zusammenhang siehe J. Assmann, Schrift,Tod und Identität, 1983, der am Beispiel ägyptischer Grabinschriften eine “Analogie zwischen Grab und schriftlichem Kunstwerk” (S. 67) herstellt.
H. Vinçon, Jean Paul, 1978, S. 18. - Dennoch darf nicht übersehen werden, daß auch die ‘Veredelungs-Phase’, das Schreiben in Reinschrift, eben die Pflicht und die Disziplin, die der Markt einklagt ebenfalls lustbesetzt sind, lediglich in anderer Ausprägung.
Hierbei ist noch auf Freuds Passage über die “Witzeslust als Vorlust” zu verweisen: In seinen Überlegungen zum tendenziösen Witz kommt er zu dem Schluß, daß die Funktion dieses Witztypus’ vor allem darauf beruht, “innere Hemmungen aufzuheben”. Diese “Aufhebung von Unterdrückungen und Verdrängungen” sei jedoch wiederum Quelle für weitere Lustentwicklung - dem Witz komme dabei als Katalysator lediglich der Charakter von ‘Vorlust’ zu (S. Freud, Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, (1905) StA IV, 1970, S. 1291). Übertragen auf die Vorrede heißt das: Der Verfasser bereitet sich auf marktförmiges Schreiben vor, auch wenn es im nachhinein, ’werkposthum’, geschieht und im Hinblick auf weiteres Schreiben, auf Schreiben überhaupt, bezogen werden muß.
O. Negt, A. Kluge, Geschichte und Eigensinn, (1981) 1987, S. 105.
R. Backmann, Die Gestaltung des Apparates in den kritischen Ausgaben deutscher Dichter, 1924, S. 638.
Zum Verhältnis Jean Pauls zum klassischen ‘Werkbegriff siehe B. Lindner, Autonomisierung der Literatur als Kunst, 1975, S. 95ff.
In diesem Kontext wird auch die Position des jungen Goethe verständlich, der seinen Werther sagen läßt: “Ich habe […] gelernt, wie ein Autor durch eine zweite, veränderte Ausgabe seiner Geschichte, und wenn sie poetisch noch so besser geworden wäre, notwendig seinem Buche schaden muß. Der erste Eindruck findet uns willig, und der Mensch ist gemacht, daß man ihn das Abenteuerlichste überreden kann; das haftet aber auch gleich so fest, und wehe dem, der es wieder auskratzen und austilgen will!” J.W.v. Goethe, Die Leiden des jungen Werther, (1774) 1982, S. 51. - Dazu siehe die ausführliche Interpretation von W. Kittler, Literatur, Edition und Reprographie, 1991, S. 213ff.
Goethe an Zelter, 4. August 1803; zit. nach Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, 1991, S. 43.
U. Rose, Poesie als Praxis, 1990, S. 130.
O. Negt, A. Kluge, Geschichte und Eigensinn, (1981) 1987, S. 506.
Das Gegenteil kennt Jean Paul aus eigener Erfahrung und vermutet sie auch bei seinem Publikum: “- Der Leser sei aufrichtig: hat er nicht sogar jetzo […] vergessen, daß er hier Buchstaben vor sich hat und sein Ich dazu?” SK, W I, 2, 137.
G. Flaubert à E. Zola, 1. decembre 1871 (zit. nach G. Flaubert 1975, S. 67). - “Ich tadele nur das Vorwort. Meiner Meinung nach verdirbt es Ihr Werk […]. Sie verraten darin Ihr Geheimnis, was allzu arglos ist, und Sie sprechen darin Ihre Meinung aus, etwas, wozu nach meiner (persönlichen) Poetik ein Romancier nicht das Recht hat.” (zit. nach G. Flaubert 1964, S.601).
Zum Vorhang als Kollektivsymbol, dessen Geheimnis - “die Diskursproduktion” - von Jean Paul “krude ausgesprochen” wird, siehe J. Link, Der Vorhang des Schreibens, 1994, S. 17f.
Zur Bedeutungsvielfalt des Wortes (Loggia, “Factorei”, Marktbude, “verschlossenes Zimmer, in welchem Bewerber um einem Kunstpreis ihre Skizzen ausführen”, usw.) siehe die entsprechenden Lexikonartikel bei Pierer (1840–46) und Sachs-Villatte (1877–81), jeweils abgedruckt in der Pauler-Ausgabe der Unsichtbaren Loge, 1976–1981, S.3.
“Organisationsstruktur und Geheimnischarakter der Freimaurerei sind eng verbunden. […] ihre wesentlichen interpersonellen und institutionellen Strukturen [sind, A.E.] durch das Geheimnis bestimmt”. M. Voges, Aufklärung und Geheimnis, 1987, S. 78.
ohl über die kleinen Geheimnisse und das Geheimnis der Freimaurer berichtet aus der Innensicht des Logenmitglieds: Das Geheimnis des Freimaurers, Von einem Bruder Meister, 1927.
Lessing geht gar soweit zu behaupten, die bürgerliche Gesellschaft sei ein “Sprößling der Freimäurerei”. Zumindest seien sie beide “ihrem Wesen” nach gleichaltrig und “konnten nicht anders als miteinander entstehen - […]” G.E. Lessing, Ernst und Falk, (1780) 1956, S. 581.
Zur “gesellschaftlichen Formation” der Geheimbünde, siehe ausführlich Koselleck, Kritik und Krise, 1976, S. 49ff, der in den Kapiteln 2.II-IV am Beispiel der Freimauerei die entscheidende Bedeutung des “arcanums” für die bürgerliche Aufklärung (“Aufklärung und Geheimnis treten von Anbeginn auf als ein geschichtliches Zwillingspaar”, S. 49) darstellt. - Eine ausführliche Darstellung und vor allem weitreichende Kritik an Kosellecks Arbeit und methodischem Vorgehen siehe bei M. Voges, Aufklärung und Geheimnis, 1987, S. 12–18.
E. Lennhoff, O. Posner, Internationales Freimaurerlexikon, o.J., Sp. 1021. - Über die besonderen und unterschiedlichen Ausformungen des Meistergrades, besonders innerhalb der Schottenloge, siehe ebd., Sp. 629, 1021, 1401ff.
Das Geheimnis des Freimaurers, Von einem Bruder Meister, 1927, S. 77 und folgende.
Zur Geschichte der ‘dienenden Brüder’ und zu ihrer Stellung innerhalb der Logen siehe E. Lennhoff, O. Posner, Internationales Freimaurerlexikon, o.J., Sp. 369.
H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, I, 1987, S. 323.
Eine solche Hierarchisierung müßte eigentlich der schrankenlosen Gleichstellung - wie sie postuliert wurde - entgegengestanden haben. Wesentlich aber war die Stellung der Mitglieder untereinander, die sich als Menschen begegneten. War dies gewährleistet, konnte auch die hierarchische Struktur dem Gleichheitspostulat nichts anhaben.
Th.W. Adorno, Standort des Erzählers, (1954) 1978, S. 109.
Siehe G. Genette, Paratexte, (1987) 1992, S. 238–251.
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Erb, A. (1996). Die Vorreden Jean Pauls. In: Schreib-Arbeit. Deutscher Universitätsverlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01629-8_3
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