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Der biographisch-subjektorientierte Ansatz: Das Reale bedenken — das Mögliche suchen

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Part of the book series: Schriften zur politischen Didaktik ((POLDID,volume 26))

Zusammenfassung

Der Sozialkundeunterricht soll, wie Veranstaltungen der politischen Bildung insgesamt, das Interesse Jugendlicher und Erwachsener für gesellschaftspolitische Fragen und Probleme wecken und ihre demokratischen Kompetenzen fördern, so daß eine aufmerksame Öffentlichkeit entstehen kann, die politische Vorgänge kritisch und konstruktiv begleitet und sich undemokratischer Herrschaft widersetzt. Insofern geht es im Unterricht gleichermaßen um die Vermittlung politikrelevanten Wissens wie um die Unterstützung persönlicher Fähigkeiten, nämlich solcher, die die selbständige kritische Reflexion politischer Vorgänge ermöglichen, unreflektiertes Sich-Arrangieren mit unbefriedigenden und widersprüchlichen Verhältnissen aber verhindern sollen.

Ein garstig Lied! Pfui!

Ein politisch Lied!

I W. v Goethe

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Literatur

  1. Th. Schulze (1985: 42 ff) unterscheidet verschiedene Arten des Lernens: Dabei grenzt er insbesondere das curriculare vom lebensgeschichtlichen Lernen ab. Während er curriculares Lernen als eines kennzeichnet, das Zusammengehöriges systematisch aufbaut, Unterschiedliches dagegen auseinanderhält, wird demgegenüber lebensgeschichtliches Lernen dadurch gekennzeichnet, daß Verschiedenartiges immer wieder neu zusammengefügt wird; während sich curriculares Lernen in Fächern vollzieht, findet lebensgeschichtliches Lernen in Lebenswelten statt; ist curriculares Lernen auf Erfolge hin ausgerichtet, geschieht lebensgeschichtliches Lernen häufig gerade aufgrund von Mißerfolgen. Schulze stellt klar, daß er curriculares Lernen nicht gleichsetzt mit dem Lernen in der Schule, wenngleich Schule primär curriculares Lernen organisiere. Trotz eines Übergewichtes von curricularem Lernen in der Schule findet dort — auch aufgrund entsprechender didaktischer Überlegungen — auch lebensgeschichtliches Lernen statt (vgl. ebd.: 57).

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  2. Um hier einem möglichen Mißverständnis vorzubeugen, möchte ich klarstellen, daß es mir nicht darum geht, dem Lernen von Wissensbeständen die Berechtigung und jegliche Relevanz abzusprechen. Mir geht es darum, zusätzliche und ergänzende Wege auszumachen und zu beschreiben, die nach meiner Überzeugung eher als stofforientiertes Lernen geeignet sind, angesichts heutiger Bedingungen der Identitätsbildung (vgl. 2) und der Distanz von Mädchen zu den etablierten Politikformen (vgl. 3) die Persönlichkeitsbildung zu unterstützen und politisches Interesse zu wecken. Dabei unterstelle ich, daß Wissen zwar den Grundstoff von Bildung darstellt (Max Scheler), daß das Wissen aber individuell in eine lebendige Kraft umgesetzt werden muß, um als Bildung wirksam werden zu können. Darüber allerdings, was ‚Bildung‘ oder ‚Lernen‘ sein kann und soll, gibt es unterschiedliche Vorstellungen. Im alltäglichen Verständnis wird unter einem ‚gebildeten‘ Menschen jemand verstanden, der z.B. erfolgreich die höhere Schule absolviert, vielleicht ein Studium abgeschlossen, sich also viel Wissen angeeignet hat. Diese Vorstellung von Bildung halte ich für verkürzt, kann doch Wissen der Person äußerlich bleiben, wenn Wissen und Handeln keine Einheit bilden (zur Begründung eines formalen Bildungsbegriffes vgl. Menze 1983; zur Kritik des ‚traditionellen‘ Bildungsbegriffs vgl. Peukert 1988; zur Bildung als Fähigkeit, sich mit den Schlüsselproblemen der gegenwärtigen Gesellschaft auseinanderzusetzen vgl. Klafki 1991 a). Das, was ich hier unter (politischer) ‚Bildung‘ und (politischem),Lernen‘ verstehe, möchte ich auf der Folie des Konzeptes des,persönlich bedeutsamen Lernens‘ mit Bildern umschreiben, wie es in der erziehungswissenschaftlichenLiteratur verschiedentlich geschieht: „Nicht das ist bildend, was einem Individuum irgendwie zustößt (und von außen registriert werden könnte); bildend ist, was dieses Individuum zu einem Bestandteil seiner selbst macht, indem es darüber nachdenkt, mit sich und anderen darüber spricht, sich des Widerfahrenen innewird und sich daran erinnert, was es in sich hineinverwandelt, zu seinem Eigenen macht, integriert: wie man sieht, haben wir eine ganze Reihe von Metaphern für diesen so schwer definierbaren Vorgang der Bildung“ (Henningsen 1981: 93). Auch Scarbath betont die Beteiligung des ganzen Menschen am Bildungsprozeß: Nur im jeweiligen Heranwachsenden oder im Erwachsenen selbst vollzieht sich der Bildungsprozeß, dieser kann zwar durch Erziehungsbemühungen erleichtert oder behindert werden, ist aber „wesentlich Werk des jungen Menschen... selbst, in seiner Lage und seinen sozialen Beziehungen, in seinen Hoffnungen und Ängsten“ (Scarbath 1992: 84). Steffensky formuliert hinsichtlich des Lernens eine ähnliche Vorstellung: „Lernen heißt, neu und tiefer beheimatet zu werden in dem, was man schon kennt und was man schon erobert hat. Lernen heißt aber auch, wegzugehen von den Wegen, die man schon immer gegangen ist; neue zu finden, auch wenn sie ängstigen. Man muß es lernen, sich in den Selbstwiederholungen zu unterbrechen, in denen wir nichts anderes mehr kennen als uns selbst. Man muß in Häuser gehen, in denen man noch nicht gewohnt hat, auch wenn man sich nicht völlig heimisch in ihnen fühlt“ (Steffensky 1989: 47).

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  3. Skepsis gegenüber organisierten Lernschritten äußert z.B. Oskar Negt. Er vertritt die Auffassung, daß Lernen sich in Sprüngen, auf Um- und Abwegen, mal rasch, mal langsam oder gar nicht vollzieht. Gerade die schulgebundene Art des Lernens ist nach Negt durch ein hohes Maß an Unselbständigkeit gekennzeichnet, so daß aufgrund der Motivationsprobleme der Schülerinnen und Schüler die Lehrerinnen und Lehrer oft das Gefühl nicht loswerden, trotz ‚guten Unterrichts‘ nichts oder sehr wenig erreicht zu haben (vgl. Negt 1982: 127). Zu ‚Schlüsselerlebnissen‘ in Lernprozessen vgl. 5.2.3.

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  4. Wolfgang Schulz faßt die von mir intendierte Unterrichts- und Kommunikationsform in den Begriff des ‚respektvollen Dialogs‘ (vgl. Schulz 1989): im Interesse einer Unterrichtssituation und Lernkultur, in der um das Bessere gestritten wird, Standpunkte formuliert und tradierte ‚Wahrheiten‘ auf ihre Existenzberechtigung hin befragt werden können, ohne Andersdenkende z.B. persönlich herabzusetzen. Mit ähnlicher Intention fordert Schulz-Hageleit, „sich der Erlebniswelt der Schüler mit Respekt und äußerster Behutsamkeit zu nähern“ (Schulz-Hageleit 1987: 15).

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  5. Auszug aus der Tonbandaufnahme „Der Kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry in der Übersetzung von G. und J. Leitgeb, gesprochen von Will Quadflieg.

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  6. In der Politik gibt es Parallelen zu dem oberflächlichen Abhaken von Themen im Unterricht. Das kurzfristige Denken von einer Wahl bis zur nächsten hat z.B. Jens Reich bewogen, im Jahre 1990 nicht für den Bundestag zu kandidieren: „Was mich besonders gestört hat, sind die kurzen Zeittakte, in denen politisches Denken stattfindet“ (Reich 1994: 98); er beklagt den Mangel an einer konzeptiven politischen Kraft, die in die Zukunft denkt.

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  7. Hegel mißt insbesondere der aktiven Auseinandersetzung im Lernprozeß hohe Bedeutung bei und konstatiert, daß passives Lernen in der Wirkung nicht viel besser sei, als Sätze auf Wasser zu schreiben. Wörtlich schreibt Hegel: „Schränkte das Lernen sich auf bloßes Empfangen ein, so wäre die Wirkung nicht viel besser, als wenn wir Sätze auf das Wasser schrieben“ (Hegel, Werke, Gesamt-Ausgabe, Bd. XVI: 154). Andreas-Salomé betont, wie wichtig es ist, daß das Lernen nicht oberflächlich bleibt, sondern den Menschen auch gefühlsmäßig ergreift: „Was nicht in unser Gefühl eintritt, das beschäftigt unser Denken nicht lange“ (Andreas-Salomé 1979: 26). Bloch faßt die Aspekte der Aktivität und des Interesses so zusammen: „Was beim Lernen sich passiv verhält und nur mit dem Kopfe nickt, wird bald einschlafen. Was aber bei der Sache sich befindet, indem es mit der Sache geht, auf ihren unausgetretenen Wegen, wird mündig, kann endlich Freund und Feind unterscheiden, weiß, wo das Rechte sich anbahnt. Trott am Gängelband ist bequem...“ (Bloch 1949: 5). Reich bewogen, im Jahre 1990 nicht für den Bundestag zu kandidieren: „Was mich besonders gestört hat, sind die kurzen Zeittakte, in denen politisches Denken stattfindet“ (Reich 1994: 98); er beklagt den Mangel an einer konzeptiven politischen Kraft, die in die Zukunft denkt.

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  8. Teilweise wird der Prqjektanspruch Dewey’s, der mit der Einübung demokratischen Verhaltens auch politische Ambitionen verfolgte, heute auf rein methodische Gesichtspunkteverengt, indem die Schülerinnen und Schüler ‚Unterrichtsprojekte‘ wählen können, die mit Schule und Lernen möglichst wenig zu tun haben und einfach ‚nur Spaß machen‘ sollen, eben indem sie mit ‚Lernen‘ im herkömmlichen Sinn kaum Berührungspunkte aufweisen (vgl. kritisch Bastian/Gudjons 1990). Grenzen des projekt- und handlungsorientierten Unterrichts sind besonders für die Unterrichtsfacher eng gezogen, die — wie Sozialkunde — nur ein geringes Stundenkontingent haben.

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  9. Wie wichtig es für ein Kind ist, in der Schule mit Respekt behandelt und ernst genommen zu werden, wird manchmal erst nach einem Schulwechsel klar. Der Journalist Tilman Jens erinnert sich daran, wie er bereits nach dem Aufnahmegespräch mit dem Schulleiter an der Odenwaldschule aufgeblüht ist und Hoffnung schöpfte, daß Schule auch schön sein könnte. Seine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht, wurde er doch respektiert: „Wir hatten es gut. Verdammt gut sogar. Und wir wurden für voll genommen. Nie vorher — leider auch niemals danach — habe ich ein solches Quantum an Mitbestimmung erlebt. Man stelle sich vor: In jeder Konferenz waren wir Schüler stimmberechtigt vertreten. Manchmal mit einem Drittel, manchmal auch mit knapp der Hälfte der Stimmen. Und ein paar Lehrer, die stramm auf unserem Kurs segelten, fanden sich immer. Jeden Montag von 14 bis 16 Uhr tagte das Schülerparlament... Jawohl, noch einmal: Wir waren wichtig. Und wir durften, sollten uns wichtig nehmen“ (Tilman Jens in: Süddeutsche Zeitung vom 25.3.1993).

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  10. Auf den Erfolg schließe ich deshalb, weil gegenwärtig, vor allem in Süddeutschland, vor allem die Montessorischulen großen Zulauf haben und eine Reihe von Neugründungen verzeichnen (private Informationen).

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  11. Diese Orientierung impliziert keine unkritische Zustimmung zum Staatsschulwesen, sondern folgt dem Ziel, innerhalb der Staatsschule Reformen zu etablieren. Solche Bestrebungen haben verschiedene Vorläufer: So wollte etwa der französische Volksschullehrer Célestin Freinet mithilfe des Einsatzes einer Druckerei Schülerinnen und Schüler zum Verfassen eigener, freier Texte anregen mit dem Ziel, durch diesen Arbeits- und Organisationszusammenhang selbstorganisierte Arbeitsformen zu ermöglichen. Darüber, ob und inwiefern heute „Schreibwerkstätten“ mithilfe moderner Textverarbeitung in der Schule selbstorganisierte Arbeitsformen hervorbringen, ist mir nichts bekannt. Beklagt wird allerdings — gerade hinsichtlich der Entwicklung demokratischen Engagements —, daß die Zensur von Schülerzeitungen fortbesteht. So fielen die von den Schülern gesammelten, ausländerfeindlichen Zitate von Politikern der Zensur des Schulleiters eines Gymnasiums zum Opfer (vgl. Czisch 1994: 169).

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  12. In der Soziologie wird die kulturelle von der strukturellen Integration unterschieden, wobei die strukturelle Integration das Erreichen bestimmter Positionen im gesellschaftlichen Wertesystem meint, während die kulturelle Integration auf das Hineinwachsen in die gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten abhebt: Mit dem Hineinwachsen in die Gesellschaft erlangen im Normalfall die zentralen gesellschaftlichen Werte und Normen im Bewußtsein der Menschen ihre Gültigkeit, sie machen die soziale Identität aus, den unhinterfragten ‚Gemeinsamkeitsglauben‘ (Max Weber) bzw. das gesellschaftliche Selbstverständnis oder die „mehr oder weniger diffusen, stets unproblematischen Hintergrundüberzeugungen“ (Habermas 1981, Bd. I: 107). — Analog zur Kritik struktur-deterministischer Annahmen in der Soziologie wurden und werden solche Ansätze in der Pädagogik seit Pestalozzi vertreten. Nach Pestalozzi ist der Mensch nicht allein Ergebnis der Grundkräfte von Natur und Gesellschaft, sondern auch Werk seiner selbst; er ist nicht allein Ergebnis von Voraussetzungsstrukturen, sondern auch von konstruktiven Eigenleistungen. Solche konstruktiven Eigenleistungen können, so wiederum Baacke (1985) und Loch (1979), durch den katalysatorischen Effekt von Biographien unterstützt werden, indem sie Erahntes, Vor-Bewußtes artikulieren und so neue Lernchancen erschließen.

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  13. Simmel vertrat eine ‚Lebensphilosophie‘, die an die Philosophie des ‚guten Lebens‘ der Antike (bes. Aristoteles) anknüpfte, und die auch in der heutigen Didaktik als oberstes Lehr-Lernziel z.B. bei Hilligen (vgl. Hilligen 1985) zu finden ist. Die Position der Lebensphilosophie (Simmel, Nietzsche) betont den historischen und sozialen Charakter des Lebenszusammenhanges und wendet sich gegen eine Philosophie des ‚objektiven Geistes‘, wie ihn Hegel für den Deutschen Idealismus konstatiert hat. Mit ihrer Betonung der ‚subjektiven Momente‘ bietet sie Ansatzpunkte für eine Hermeneutik (etwa von Dilthey), die beansprucht, im verstehenden Nachvollzug des von den Menschen gelebten Lebens die Geistes- und Sozialwissenschaften methodologisch neu zu begründen. Die Phänomenologie Husserls mit ihrer Forderung, die Lebenswelt des Menschen, ihre konkreten, lebenspraktischen Erfahrungen in den Blick zu nehmen, zielt gleichermaßen gegen einen bloßen, wissenschaftlichen Objektivismus. Alfred Schütz entwickelte das Konzept der Alltagswelt; die moderne, subjektorientierte Soziologie widmet sich dem Studium des Alltags und der gesellschaftlich konstruierten Lebenswelten (so auch Berger/Luckmann 1972).Eduard Sprangers Begriff der Lebensformen (bzw. der Lebenskreise) ist auf die Erfahrung soziokultureller Nahverhältnisse bezogen (vgl. Berger/Luckmann 1972; Habermas 1981).

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  14. Um solche Horizonte ausleuchten zu können, genügt es von den Erhebungsverfahren her nicht, per standardisiertem Fragebogen vorzugehen, sondern in einen Kommunikationsprozeß einzutreten, der den Zusammenhang zwischen der kulturellen Atmosphäre, in der der Befragte lebt, und seinen Denk- und Handlungsmustern mit einfängt.

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  15. Die Hinwendung zum Subjekt geschieht, so scheint mir, nicht zufällig, machte doch die verwaltete Welt immer mehr Menschen zu Betrofffenen von sozialer Ausgrenzung, von Diskriminierung und Hilfsmaßnahmen. Wenn hier von ‚Betroffenen‘ und ‚Betroffenheit‘ die Rede ist, so ist damit nicht die emotionale Beteiligung gemeint, die insbesondere in den 70er Jahren für politische Bildungsprozesse angestrebt wurde. Als ‚Betroffene‘ bezeichne ich Personen, die z.B. infolge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse von verstärkter Steuerung ‚betroffen‘ sind, z.B. durch Politisierung, Verrechtlichung und Verwissenschaftlichung sozialer Räume (vgl. Brand u.a. 1983: 24). Die subjektorientierte Forschung will die Sicht von Betroffenen aufnehmen und ihr Geltung verschaffen.

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  16. In einer solchen Perspektive erscheint etwa der Arbeitsmarkt nicht mehr nur als kollektiver Anpassungsmechanismus von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage, sondern auch als eigenständige Kraft, die die Individuen aus Gründen ihrer Existenzsicherung zur Mobilität zwingen will, der diese sich aber auch verweigern oder mit der sie in Verhandlungen treten können (in welchen Situationen, um welchen Preis, mit welchen Chancen?), d.h. das Verhältnis des Apparats zum Individuum formiert sich ständig neu.

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  17. Das Interesse am Subjekt ist häufig gepaart mit dem Interesse an gesellschaflicher Praxis und ihrer Veränderung: So wendet sich etwa die Handlungs- oder Aktionsforschung gegen Methoden, die lediglich Aussagen über Menschen anstreben, anstatt sich dem Anspruch zu stellen, direkt für Menschen und insbesondere für Angehörige benachteiligter Gruppen tätig zu werden. Und nicht nur das: Die Forschung sollte nicht nur für, sondern mit den Betroffenenderen Situation erforschen und verändern. Die praktisch-politische Solidarität der Forscherin bzw. des Forschers gilt den Betroffenen bzw. sollte dies tun. Sie/er hilft ihnen bei der Wahrnehmung und Artikulation ihrer Interessen und stellt ihnen seine/ihre fachlichen und/oder praktisch-politischen Fähigkeiten zur Verfügung. Für praxisorientierte Forschung ist also nicht nur der Gegenstand als solcher relevant, sondern auch die Frage, für wen Aussagen und Berichte über den Forschungsgegenstand wichtig und gültig sind, welche Veränderungen damit erreicht werden können usw.

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  18. Verschiedene Forschungsansätze, z.B. die Biographie- und Lebenslaufforschung, die Frauenforschung usw. stützen ihre gesellschaftlichen Analysen explizit auf die Untersuchung individueller Lebenslagen und konkreter Handlungsorientierungen von Personen. Sie sind dabei bemüht, deren Interdependenz auch methodisch genauer zu fassen, immer aber geht es ihnen darum, die Subjektivität in ihrer Vermittlung mit objektiven Gegebenheiten zu untersuchen.

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  19. Die dem Alltagsbewußtsein innewohnenden selbstverständlichen Werte und Normen gilt es, in politischen Bildungsprozessen immer wieder bewußt zu machen, damit deutlich wird, daß vieles ‚auch anders‘ sein könnte, bzw. um sich des Sinnes und Nutzens bestimmter Normen und Institutionen zu vergewissern. Dem Alltagsverständnis fehlt aber der ‚archimedische Punkt‘ zur Beobachtung der eigenen gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit (Berger/Luckmann 1972); erst die Konfrontation mit fremden Gesellschaften und der damit möglicherweise einhergehende ‚Kulturschock‘ verschaffen manchmal die entsprechende Distanz für einen ‚anderen‘ Blick auf zuvor Selbstverständliches. Um derartige selbstverständliche Überzeugungen faßbar zu machen und dadurch beeinflußte Prozesse etwa der Fremd- und Eigentypisierung, der Gruppenbildung und -abgrenzung reflektieren zu können, ist die Konfrontation mit authentischem Material, das unterschiedliche Selbstverständnisse transportiert, hilfreich.

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  20. In sozialwissenschaftlichenKonzeptionen, die mehrebenen-analytisch orientiert sind, finden sich Ähnlichkeiten zum subjektorientierten Ansatz. So geht Melzer (1987) in seinem Sozialisationsansatz davon aus, daß sich das Individuum im Kontext der alltäglichen Lebenswelt implizit, aber auch intentional entwickelt (vgl. ebenso Hurrelmann 1993). Dieses Geflecht von Einflußfaktoren auf unterschiedlichen Ebenen (gesellschaftliche und institutionelle Vorgaben auf der Makro- und Mesoebene und individuelle Komponenten, Einflüsse und Handlungsressourcen auf der Mikroebene) konkretisiert sich in dem Ensemble der Lebenswelt, das institutionelle und personale Komponenten vereinigt.

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  21. Institutionen, die sich von Amts wegen mit Lebensgeschichten befassen, sind vor allem Sozialbehörden, Gerichte, Kinderheime, Kirchen (Beichte). Im Fernsehen wird mittlerweile in Talk-Shows die lebensgeschichtliche Entwicklung Einzelner häufiger thematisiert; teilweise steht dabei das Leben Prominenter aus Politik und Kultur im Mittelpunkt, aber auch ‚Durchschnittsmenschen‘ melden sich — oft mit intimen Bekenntnissen — zu Wort.

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  22. Ende des 18. Jhds. widmeten sich v.a. die Literaturwissenschaften der Analyse von Briefen, Tagebüchern und Autobiographien. Dabei handelte es sich v.a. um Abenteuer- und Reisebiographien von Bürgern und Handwerkern sowie um Künstler- und Gelehrtenbiographien. Carl Philipp Moritz schrieb 1785 den ‚ersten psychologischen‘ Roman „Anton Reiser“.

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  23. Die Lebensgeschichte des Wladek W., von ihm, einem ‚einfachen‘ Menschen, selbst verfaßt, bildet einen Kern der Arbeit und einen Bruch mit der soziologischen Tradition, durch eine Gesellschaftstheorie Aussagen über soziale Zuammenhänge abzuleiten.

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  24. In Polen gründete Znaniecki 1920 das Institut für Soziologie an der Universität Poznan und führte die in Chicago begonnenen biographischen Forschungsarbeiten weiter, z.B. durch mehrere öffentliche Ausschreibungen zum biographischen Wettbewerb: So entstanden Studien über Arbeitslose, junge Landarbeiter, Arbeiter während der NaziOkkupation, Kommunisten, KZ-Häftlinge, Alkoholiker usw. Zwischen 1924 und 1978 sind fast 170 teils mehrbändige Sammlungen polnischer Memoiren erschienen. Die autobiographischen Wettbewerbe regten auch außerhalb der Soziologie entsprechende Abhandlungen an: Seit 1945 sind in Polen fast 300.000 Autobiographien verfaßt worden (vgl. Kohli 1981: 286; Fuchs 1984; Fischer-Rosenthal 1990: 16). In der Bundesrepublik ist ebenfalls dazu aufgerufen worden, Lebenserinnerungen zur Verfügung zu stellen, z.B. durch das Fernsehen in Baden-Württemberg (es gingen 2.800 Texte ein) sowie durch den Schriftsteller Walter Kempowski (3.000 Einsendungen) (vgl. Schulze 1991). Erst in jüngster Zeit kommt es im Bereich der Biographieforschung zu deutsch-polnischen Kooperationen.

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  25. Nicht unwesentlich dürfte zum Erfolg des biographischen Ansatzes auch die Verbreitung des Tonbandgerätes beigetragen haben (vgl. Fuchs 1984).

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  26. Die Einführung biographischen Materials im Umterricht stützt sich auf die Gewißheit, daß Schülern der Umgang mit Lebenserzählungen im wesentlichen bereits vertraut ist, so daß sie an vorhandene Fähigkeiten anknüpfen können.

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  27. Die Biographieforschung bezieht sich im wesentlichen auf Texte oder auf mündliche Berichte von Lebensdarstellungen. Zwar umfaßt der Begriff ‚Biographie‘ auch das Leben selbst, für die Forschung ist aber gerade die Beschreibung dieses individuellen Lebens von Interesse. Die griechischen Wörter ‚bios‘ (Leben) und ‚graphein‘ (Schreiben) halten die Aspekte der Lebenswirklichkeit einerseits und seine Beschreibung andererseits auseinander (vgl. Schulze 1991: 136 f).

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  28. Memoiren sind Beschreibungen politischer Begebenheiten und sozialer Verhältnisse aus der Perspektive desjenigen, der daran teilgenommen hat, z.B. die Gattung der ‚Hofmemoiren‘, die ‚Enthüllungen‘ oder ‚kuriose Details‘ versprechen (vgl. Nora 1990: 89), oder auch ‚Staatsmemoiren‘, die möglicherweise Staatsgeheimnisse lüften. Memoiren geben dabei nicht oder nur am Rande Einblick in das Innenleben des Verfassers, dokumentieren nicht seine psychischen Krisen und Entwicklungen, sondern konzentrieren sich im wesentlichen auf die Dokumentation der zeitgeschichtlichen Ereignisse, ‚angereichert‘ um Geheimnisse, die den ‚wahren Lauf der Dinge‘ enthüllen.

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  29. Weitere biographische Materialien sind Testamente, Stammbücher, Haushaltsbücher, Fotoalben, Familienchroniken, Schulhefte.

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  30. Das Interesse der Soziologie an biographischen Dokumenten unterscheidet sich von dem der Geschichtsforschung an einer historischen Quelle. Während diese die getreu beschriebene Wirklichkeit darbieten soll, interessiert am biographischen Dokument gerade der persönliche Blick auf die soziale Umgebung, dieser soll Material liefern zur Ergründung des Sozialbewußtseins. Andere Bereiche der Biographieforschung befassen sich insbesondere mit Berufsbiographien oder demographischen Untersuchungen, die mit dem Kohortenprinzip arbeiten. Dieser Zweig der Biographieforschung stellt sich also Fragen nach der gesellschaftlichen Formierung von Lebenswegen. Andere Untersuchungen konzentrieren sich auf die Erforschung der Genese von Erfahrungsgestalten und Sinnstrukturen, weitere wiederum dienen der Begründung grundlagentheoretischer Konzepte in den Sozialwissenschaften (vgl. Bude 1984: 8 f).

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  31. Bei der Auswertung solcher Dokumente gewinnen ‚interpretative Verfahren‘ als Verfahren zur Theoriebildung und -überprüfung an Bedeutung, weil die empirischen Materialien ihre theoretischen Implikationen nicht unmittelbar aufweisen bzw. nicht in sich selbst haben, sondern erst methodisch ermittelt werden müssen. Da dieser Aspekt für den Zusammenhang dieser Arbeit nicht relevant ist, soll er hier nicht vertieft werden.

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  32. Strukturelle Benachteiligungen sind z.B. vielfach lebensphasenspezifisch, d.h. sie wirken sich auf und in bestimmte(n) Lebensphasen besonders aus. Der Widerspruch zwischen der Aufstiegsideologie und der Aufstiegsmöglichkeit spitzt sich etwa in den mittleren Lebensjahren besonders zu, wenn das Individuum erkennt, daß sich seine Ambitionen u.U. nicht umsetzen lassen.

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  33. Der Schriftsteller Uwe Johnson zeigt in „Das 3. Buch über Achim“ drei verschiedene Versionen, wie er den Lebenslauf des Radsportlers Achim ganz unterschiedlich darstellen kann, daß und wie ein und dasselbe Leben so unterschiedlich betrachtet und gewichtet werden kann, daß ganz verschiedene Biographien entstehen: Die des skrupellosen, ehrgeizigen Siegertyps, die des aufopferungsbereiten Dieners der Nation und schließlich die des Verteidigers von Individualität im Profilager. Dabei ist es nicht etwa erforderlich, die Fakten im Leben des Achim zu verändern, sondern es variiert nur der Blickwinkel, unter dem Lebensereignisse und -stationen betrachtet werden.

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  34. Inzwischen sind qualitative Forschungsmethoden in den Sozialwissenschaften weitgehend etabliert. Noch Ende der 70er Jahre dagegen galten sie als unseriös. Gerade auch die Frauenforschung bedient sich überwiegend qualitativer Methoden, was die Forscherinnen „in sehr dubiosem und subversivem Licht erscheinen ließ: eine Untersuchung ohne abschließende Zahlen ist nicht nur unseriös, sondern beinahe unanständig. Sie verweigert dem Leser, der Öffentlichkeit die Möglichkeit, eine nunmehr als abgeschlossen betrachtbare Problematik in ihren Wissensbestand einordnen zu können: 5, 10, 15 Prozent österreichischer Männer schlagen x Komma y mal pro Woche/Monat/Jahr ihre Frauen, und die Gesellschaft benötigt zwölf Sozialarbeiter und ein weiteres Forschungsprojekt, um dieses Problem zu bewältigen“ (Benard/Schlaffer 1978: 46 f). Benard/Schlaffer kritisieren dagegen — mit Verweis auf Michel Foucault: Überwachen und Strafen — die Datenerhebung per Fragebogen und Interview als eine Methode, die an Inquisition und Strafvollzug erinnert: Der Forscher, legitimiert durch die Autorität der Wissenschaft, verlangt seinen Untersuchungsgegenständen ein Geständnis über ihre Meinungen, Erfahrungen, Vorurteile und Verhaltensweisen ab. Gerade gesellschaftliche Machtverhältnisse müßten aber auf der ‚trivialen‘ Ebene alltäglicher Situationen erfaßt werden und nicht erst auf der Ebene der Institutionalisierung in gesellschaftlichen Makrostrukturen (vgl. ebd.: 50).

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  35. Über Bekehrungen ist viel geschrieben worden, so über die Bekehrung des Saulus vor Damaskus, über Augustin und Martin Luther, um nur einige zu nennen. Sie gründen sich auf Schlüsselerlebnisse und bewirken eine Umkehr von gewohnten Orientierungen. Noch Kant hat sich unter der ‚Gründung des Charakters‘ einen einmaligen Akt der Bekehrung vorgestellt. Da solche Bekehrungsgeschichten die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit heraufbeschwören, werden Debatten darüber herausgefordert (vgl. Henningsen 1981: 41 ff). Die sprachliche Vergewisserung hat für den Schreibenden selbst strukturierende Bedeutung, eine „integrative, stabilisierende Identität-stiftende Funktion“ (Henningsen 1981: 66), und sie kann im Lesenden eine ähnliche Bewegung erzeugen, die Anstöße gibt für Prozesse der Selbstvergewisserung.

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  36. Die Schwierigkeiten und Variationen bei der Interpretation biographischen Materials stehen aktuell in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Im Rahmen dieser Arbeit sind diese Fragen von geringerer Bedeutung, da es hier im wesentlichen um Interpretationsleistungen der Jugendlichen geht (vgl. 5.3.1).

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  37. Um einen lebendigen und ansprechenden Unterricht zu gestalten, der es ermöglicht, mit den eigenen Ansprüchen und den beruflichen Erfahrungen ‚im Lot‘ zu bleiben, setzen sich manche über bestehende Vorschriften hinweg, verweigern sich einem routinisierten ‚Dienst nach Vorschrift‘, z.B. durch Lehrer-Schüler-Planungsgruppen (vgl. Kuhlmann 1975), durch die Einrichtung ‚offener Lesestunden‘ (vgl. Klink 1974), die Einrichtung von Arbeitsgruppen (vgl. Ermer 1975) oder die Beratung einer gemeinsam aufgestellten Klassenordnung (vgl. Wünsche 1973).

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  38. Ein Zweig erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung bemüht sich darum, aus biographischem Material Aufschluß über alterstypische Lern- und Entwicklungsschritte zu erhalten. Die Bedeutung des Lebensalters für Erziehungsprozesse ist seit langem unbestritten: Comenius empfahl im 17. Jahrhundert, für die verschiedenen Lebensalter mit ihren je unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben eigenständige Schultypen einzurichten. Rousseau sieht eine wesentliche Aufgabe des Erziehers darin, die altersgemäßen Bedürfnisse des Zöglings zu befriedigen und die vorhandenen Kräfte nicht zu überfordern. Ebenso orientieren Pestalozzi, Schleiermacher, Fröbel und Herbart ihre pädagogischen Konzeptionen an den spezifischen Lernaufgaben der Lebensalter. Charlotte Bühler hat in den zwanziger Jahren eine Dokumentationsund Forschungstradition zum Jugendtagebuch begründet. Ihr ging es darum, aus den Tagebüchern bestimmte typische (gesetzmäßige) Entwicklungslinien herauszulesen, um aus ihnen psychologische Modelle oder Gesetze ableiten zu können. Siegfried Bernfeld hat dieses Vorgehen kritisiert; er wertet Tagebücher als Zeugnisse der Interdependenz von Personwerdung und kultureller Teilhabe. Bis in die 80er Jahre hinein war das wissenschaftliche Interesse am Tagebuch nahezu erloschen. In der Shell-Jugendstudie ’85 (vgl. A. Fischer u.a. 1985) ordnet Jürgen Zinnecker das Tagebuchschreiben Jugendlicher — neben Malen, Briefe- und Gedichte schreiben, Musizieren usw. — typischen adoleszenten Verarbeitungsformen zu (vgl. zusammenfassend Winterhager-Schmid 1992: 12 f). Dilthey gibt dem Aspekt altersspezifischer Entwicklungsaufgaben eine neue Wendung, die an die Fragestellung dieser Arbeit nahe heranführt. In seiner Bildungskonzeption stellt der Lebenslauf nicht nur den Horizont für den Bildungsprozeß des Zöglings dar, sondern er dient auch als Folie der Selbstreflexion; das Individuum sieht sich in der Notwendigkeit, die Fremdartigkeit der Welt durch stete Rückbesinnung auf sich selbst zu kompensieren. In seiner Autobiographie vermittelt der Autor die gesellschaftlichen Beziehungen, in die er verwoben ist, mit dem eigenen Denken und Handeln (vgl. Dilthey 1973: 204). Die Reflexion des eigenen Lebens im gesellschaftlichen Zusammenhang fördert nach Dilthey nicht nur die Entwicklung eines eigenen Selbstverständnisses, sondern auch das Verstehen fremder Lebensläufe und damit das historische Verstehen überhaupt, indem die Bedeutung der Vergangenheit im Lebenslauf des anderen erfaßt werden kann (ebd.: 233). Die autobiographische Reflexion hat danach nicht nur entscheidende Auswirkung auf die Bildung eines eigenen Selbstverständnisses, sondern auch für das Vermögen, die Bedeutung gesellschaftlicher Ereignisse oder Probleme für das Leben anderer wahrzunehmen.

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  39. Henningsen (1981) ermittelt in biographischen Aufzeichnungen die bildende Wirkung von Krisenerfahrungen im Jugendalter; er fordert von der Pädagogik einen bewußteren Umgang mit der Krisenproblematik.

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  40. Bei Jacob Grimm scheint seine Liebe zur Sprache dadurch ausgelöst worden zu sein, daß er — im Unterschied zu seinen Schulkameraden — vom Lehrer mit dem verletzenden ‚er‘ angesprochen wurde, die anderen dagegen mit,sie‘. Henningsen folgert daraus, daß erlittenes Unrecht das besondere Interesse für eine Sache wecken kann; er kommt zu dem Schluß: ‚Unglück bildet‘ (vgl. Henningsen 1981: 89 ff).

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  41. In den 50er Jahren waren es noch der Kinder- und Schulfunk, der Kinder in einer Art ansprach, daß ihnen vor Spannung und Begeisterung nicht selten „eine Gänsehaut über den Rücken lief...: Schulfunk war unsere liebste Bildungsspeise, bot uns das, was wir eigentlich von der Schule erwarteten: Bilder und Geschichten aus allen Zeiten, Orientierung im Gemeinwesen ringsum. Schulfunk öffnete uns die Augen für die Natur, die Eltern hatten dafür keine Zeit. Schulfunk machte uns mit der großen Literatur bekannt. Im Schulfunk begegneten wir der Kultur des Landes, in dem wir aufwuchsen. Und das war so eindrucksvoll und bereichernd, daß ich noch heute jedesmal zusammenzucke, wenn jemand eine Sendung mit dem Vergleich, das sei ‚wie Schulfunk‘, herabsetzen möchte“ (Ute Andresen in Frankfurter Rundschau v. 31.10. 1991). Aufgrund des Überangebots an medienvermittelten Erlebnissen können solche ‚unter die Haut‘ gehenden Lernerfahrungen m.E. heute eher durch Ruhe und Besinnung ausgelöst werden.

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  42. Eine große Rolle spielt in biographischen Dokumenten die Qual, die Schule verursachen kann, wenn das Lernen gar keinen Zusammenhang mit dem sonstigen Leben hat bzw. nicht zu haben scheint. Sylvia Plath klagt ihr Leid in einem Brief nach Hause: „Die Crux des Ganzen ist mein Physikkurs. Ich habe praktisch erwogen, Selbstmord zu machen, um da rauszukommen... Ich versuche, die trockenen toten Formeln zu lernen... Wenn ich das Buch aufschlage und mir vorstelle, daß ich für den Rest des Jahres jede Woche zehn Stunden einfach vergeude, dann fühle ich mich richtig krank. Außerdem leidet mein ganzes übriges Leben darunter... Und das Allerschlimmste ist, daß ich nicht einmal verstehen will, was ich da lerne. Ich sehe überhaupt keinen Zusammenhang zwischen diesem Kurs und meinem Leben“ (Plath 1975:102). In einem Interwiev über die Leseerfahrungen äußert ein Befragter zu seiner Grundschulzeit in den 60er Jahren: „Was wir so in der Schule gelesen haben, das war sterbenslangweilig... So diese Lesebuch- und Schulbuchsachen, da kann ich wirklich sagen, daß es eine völlig fiktive Welt war... weggetreten von meiner Lebenspraxis und von dem, was ich so erlebt habe. Da war z.B. immer so von Tieren die Rede, die ich nie gesehen hatte. Also bei uns gab es Spatzen und Schwarzdrosseln. Also diese ganze Welt war mir irgendwie verschlossen. Auch der Bauer und so... wir hatten zwar Verwandte, die hatten einen Bauernhof, aber das war immer alles ganz anders als im Lesebuch“ (Herr A., Student, in: Krompholz 1984, Anhang 5).

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  43. Wieder scheint es kein Zufall zu sein, daß in den Schlüsselerlebnissen für politische Orientierungen der Vater und nicht die Mutter die entscheidende Figur ist, sind es doch die Väter, die mit Politik in Verbindung gebracht werden, während die Mütter für das Unpolitische stehen. So befragen Jugendliche und junge Erwachsene wohl die Väter und Großväter zu ihren Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, nicht aber die Mütter und Großmütter, weil Frauen als weitgehend unbeteiligt gelten (vgl. kritisch Rommelspacher 1994), damit aber — unreflektiert — auf die Objektposition festgeschrieben werden. — Auch heutige Politikerinnen verweisen auf den Vater als identitätsstiftendes Vorbild (vgl. Meyer 1994: 390). In ihm sind gesellschaftliche Autorität und Wertigkeit personifiziert, er fungiert als Orientierungshelfer und ‚Anspruchssender‘, besonders im Jugendalter, wenn sich das Mädchen von der Mutter abzugrenzen versucht (vgl. ebd.: 398, mit Verweis auf Eckart).

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  44. Den Begriff des ‚persönlich bedeutsamen Lernens‘ übernehme ich von Jörg Bürmann, der ihn für die Charakterisierung gestaltpädagogischen Lernens verwendet, und ihn seinerseits in Anlehnung an G.W. Allports Begriff des ‚biographical learning‘ entwickelt hat (vgl. Bürmann 1992: 38). Persönlich bedeutsames Lernen meint, daß der oder die Lernende nicht nur an der Peripherie, sondern im Kern seiner/ihrer Persönlichkeit beteiligt ist. Wenngleich ich inhaltlich mit Th. Schulze’s Beschreibung des,lebensgeschichtlichen Lernens‘ übereinstimme, möchte ich die von ihm vorgeschlagene Bezeichnung nicht übernehmen, weil dieses — gerade im Zusammenhang mit dem biographischen Ansatz — als ein Lernen verstanden werden könnte, das seine Bedeutung allein durch den lebensgeschichtlichen Erfahrungszusammenhang erhält, wobei theoretische Reflexionen aber nicht vonnöten wären. Der Begriff des persönlich bedeutsamen Lernens nimmt hingegen wichtige Elemente des biographisch-subjektorientierten Ansatzes auf, nämlich ein eigenes Interesse und inneres Beteiligtsein zu entwickeln und aufgrund dessen sich näher — eben auch theoretisch — mit der Sache zu befassen, da die Bedeutung des Lerngegenstandes für das eigene Leben evident wurde.

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  45. Auf den Erfolg biographischer Schriften verweist bisher vor allem die rege Nachfrage nach dieser Literaturgattung; vergleichende Untersuchungen aber etwa aus dem Deutsch-, Geschichts- oder Sozialkundeunterricht, die die Ergebnisse eines biographisch orientierten Unterrichts denen einer systematischen Stoffvermittlung gegenüberstellen, liegen m. W. bisher nicht vor.

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  46. ‚Erfahrung‘ bedeutet die erworbene Fähigkeit, sich zu orientieren, ohne hierzu theoretisches Wissen heranzuziehen. Unter ‚Erfahrung‘ verstehe ich mehr als etwa unter ‚Empfindung‘. Erfahrungen enthalten bereits eine Verarbeitung von Realität; sie wird zwar von einzelnen Menschen gemacht, ist aber nicht nur individuell, sondern auch von kollektiven Verhaltensmustern durchsetzt. Insofern steckt in dem Begriff der Erfahrung auch ein allgemeines Element, das die rein subjektive Empfindung überschreitet (vgl. Negt 1975).

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  47. Gegen den Erfahrungsansatz wurde, insbesondere bezogen auf die gewerkschaftliche Jugendbildungsarbeit, eingewendet, daß politische Bildung ein planmäßiger, zweckgerichteter Prozeß sein müsse. Die von den TeilnehmerInnen geäußerten Erfahrungen und Probleme träfen oft nicht den Kern der Probleme, durch die Seminarsituation seien auch Verzerrungen nicht ausgeschlossen (Trautwein 1976). Die Lehrgänge müßten in Gremien beschlossen werden, Inhalte und Abläufe müßten festgelegt sein (vgl. kritisch Conert 1978). Lernen bestehe schließlich in der Aneignung fremden Wissens, man lerne unter gewerkschaftlicher Regie, weil man dieser Organisation zutraue, mit der Wirklichkeit theoretisch und praktisch fertig zu werden. Empirische Studien ergaben allerdings, daß als Ergebnis der lernzielorientierten Vermittlung von Informationen eine Depravierung des politischen Bewußtseins zum folgenlosen Wissen erfolgte. Ein politischer Lernprozeß fand nicht statt, solange die Kommunikations- und Arbeitsformen den Intentionen der Bildungsveranstaltung (Mitbestimmung, Demokratisierung aller gesellschaftlichenBereiche) widersprachen (vgl. Heinz 1978).

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  48. Anfänglich sah der Erfahrungsansatz vor, daß der ‚Teamer‘ anhand der Erfahrungen der Teilnehmer seine kapitalismuskritische Theorie illustriert und sich die dafür passenden Erfahrungssegmente aussucht, andere dagegen unberücksichtigt läßt. Einerseits wurde der Anspruch erhoben, nun mit dem neuen Ansatz den ‚ganzen Menschen‘ mit all seinen Träumen, Hoffnungen und auch ‚verqueren‘ Vorstellungen zur Geltung kommen zu lassen, andererseits sollte der Erwachsenenbildner um der Erfüllung der Lehrziele willen die Erfahrungen der Teilnehmer hierarchisieren. Dabei ging es darum, die Erfahrungen zu trennen in ‚kollektive‘ = brauchbare und in ‚individuelle‘ = unbrauchbare Erfahrungen. Inzwischen sind diese Ambitionen kritisiert und revidiert worden.

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  49. Wenn das Buch ‚Auf meinen Spuren‘ (Gudjons u.a. 1986) auch Anregungen für die schulische Arbeit gibt, so zielt doch der Schwerpunkt der praktischen Beispiele auf die außerschulische Bildungsarbeit.

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  50. Ihre Vorstellung geht dahin, daß es bei der Auswertung der Gruppenarbeit auf eine möglichst kompetente Interpretation durch die Teamer ankommt: Je konkreter und präziser die Herstellung des Zusammenhangs zwischen früheren Erlebnissen und den gegenwärtigen Verhaltensmustern gelingt, desto geringer ist der Widerstand der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die daraus resultierenden Erkenntnisse anzunehmen (vgl. Behrendt/Grösch o.J.). Da es in dem hier vorzustellenden biographisch-subjektorientierten Ansatz nicht darum geht, Zusammenhänge zwischen eigenen (frühkindlichen) Lebenserfahrungen und gegenwärtigen Orientierungen herzustellen, sondern ein thematisch engerer und (zunächst) auf die Erfahrungen Dritter bezogener Zugriff erfolgen soll, sind problematische Coming-out-Erfahrungen nicht zu befürchten; eine Abgrenzung zu derlei Arbeitsweisen erübrigt sich.

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  51. Generell ist gegenwärtig in der Erwachsenenbildung einerseits ein starker Trend zu berufsqualifizierenden Veranstaltungen erkennbar (Computerkurse u.ä.), andererseits zu Kursen, die dem psychosozialen Bereich zuzuordnen sind (Selbstbehauptungs- und Kommunikationstraining, Konfliktregelung in Partnerschaften, Umgang mit Ängsten und Aggressionen); solche Maßnahmen verweisen auf den Wunsch und die Notwendigkeit der Teilnehmenden, im Zuge gesellschaftlicher Individualisierungsprozesse sich der ‚persönlichen Eigentümlichkeit‘ zu vergewissern als Grundlage füir berufliche und private Flexibilität und den kompetenten Umgang mit Emotionen. Ob diese Kurse im Bereich der Erwachsenenbildung mit einer Tendenz zur Entpolitisierung einhergehen, oder im Gegenteil durch verbesserte Möglichkeiten der Selbstvergewisserung und Identitätsbalance verbesserte Voraussetzungen für politische Partizipation schaffen, kann hier nicht beurteilt werden, m. W. existieren darüber auch keine Untersuchungen.

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  52. Den ausbeutenden Blick auf die Nachbardisziplinen kommentiert Behrmann ironisch: „Man nehme eine in der politischen Bildung und deren Didaktik noch nicht berücksichtigte sozialwissenschaftliche Theorie, referiere sie und zeige, was von vornherein klar ist: daß sie bislang noch nicht oder zu wenig gewürdigt wurde, daß also wichtige Perspektiven sozialwissenschaftlicher Forschung in der politischen Bildung fehlen. Ebenso kann mit zahlreichen Ergebnissen empirischer Untersuchungen oder mit der Wissenschaftstheorie und der Methodologie verfahren werden“ (Behrmann 1978a: 116). Die Gefahr, sich derart ‚billig‘ zu profilieren, halte ich für gering, muß sich doch der Sinn und Nutzen des Unterfangens in der wissenschaftlichen Diskussion und der praktischen Anwendung bewähren.

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  53. Wenn Lehrerinnen und Lehrer ihre eigenen (Kindheits-)Erfahrungen in den Unterricht einbringen, um so mit den Jugendlichen besser in ein Gespräch zu kommen, kann diese Preisgabe gelegentlich gegen sie genutzt werden, so daß belastende Situationen entstehen können. Trotz problematischer eigener Erfahrungen plädieren Payne/Spender für einen solchen Ansatz, da er auch eigene menschliche Schwächen thematisiere und so eine Vertiefung der Beziehung gerade zu den Mädchen ermögliche (vgl. Payne/Spender 1988: 165 ff).

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  54. Die Verwendung biographischer Materialien und das Erzählen von Geschichten hat im Geschichtsunterricht bereits eine längere Tradition, auf die der Sozialkundeunterricht ansatzweise zurückgreifen kann. Bereits seit Mitte der 70er Jahre publizieren v.a. Annette Kuhn und Bodo von Borries biographische Materialien und authentische Geschichten zu historischen Themen und Epochen (vgl. Kuhn 1977; v. Borries/Kuhn 1986; Bergmann/v. Borries/Schneider 1985), in denen zum Thema ‚industrielle Revolution‘ etwa englische Arbeiterinnen ihre Arbeit im Kohlebergwerk und Arbeiter die Produktionsbedingungen in einer Fabrik schildern. Das Erzählen von Geschichten hat sich bewährt, denn „Geschichten beinhalten das, was für vergangene Generationen bedeutsam war und für die gegenwärtige Generation bedeutsam sein kann. Anders gesagt: Geschichten stellen Erfahrungen auf Dauer, sie ermöglichen uns zu lernen, indem sie Kontinuität stiften, d.h. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einen wert- und handlungsbezogenen Zusammenhang bringen“ (Hering 1985: 158).

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  55. In der DDR war ein fester Bestandteil der politischen Bildung die Begegnung mit Zeitzeugen. An diese Praxis könnte m.E. angeknüpft werden, um die im Westen übliche ‚Expertenbefragung‘ durch eine Perspektive ‚von unten‘ zu ergänzen. — Wenn ich im Folgenden von biographischen Unterrichtsmaterialien spreche, dann sollen persönliche Begegnungen immer ‚mitgedacht‘ sein.

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  56. Über den intensiven Einfluß von Literatur auf die eigene Lebensperspektive berichtet eine Frau im Rahmen eines Interviews, das zur Frage der Wirkung von Literatur auf das Selbstkonzept geführt wird. Die interviewte Frau berichtet, daß sie im Falle persönlicher Probleme aus Büchern bestimmter Autoren Orientierung und Denkanstöße sucht. „Und da suche ich nach Erfahrungen, die andere Leute schon mal gemacht haben und nach Wissen... Und ich setz mich mit allem, was ich dann da so erlebe und was ich so für Gewohnheiten hab‘ und was ich so denke unter dem Eindruck dieser Autoren auseinander, gewissermaßen,ne Rekapitulation unter verschiedenen Vorzeichen. Dann wird so ein bißchen eingebracht und so ein bißchen rausgeworfen, das ist gewissermaßen so ein Durcharbeiten“ (Frau B., Hausfrau, in: Krompholz 1984: 143). •

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  57. Um die Schülerinnen und Schüler, speziell auch die der Hauptschule, zu erreichen, ist es sinnvoll, Texte zu präsentieren, die sich der Alltagssprache bedienen, um so z.B. Abneigungen gegen das Lesen nach und nach abzubauen.

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  58. Der historische Roman war — nicht nur — seinerzeit in Deutschland durch anspruchslose ‚Erbauungsliteratur‘ diskreditiert worden; in dieser wurde und wird meist in bunten Farben eine Verbindung von Politik und Liebe beschrieben, vermischt mit allerlei Abenteuern, Intrigen und pathetischen Gefühlen. Lion Feuchtwanger und Joseph Roth, Heinrich Mann und Ricarda Huch versuchten demgegenüber, die historische Wahrheit aufzuspüren, indem sie sich bewußt subjektiv auf die Zeit und ihre typischen Strukturen einließen und aus ihr heraus kommentierten (vgl. Pischel 1984: 83).

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  59. Zum Konzept der verstehenden Perspektive in der phänomenologischen bzw. hermeneutisch verstehenden Tradition vgl. die Beiträge im Sammelband Alheit/Hoerning 1989. Bei der Rekonstruktion der Biographie können idealtypisch zwei Forschungsfragen unterschieden werden, die auch im Unterricht eine Rolle spielen können: Einmal ist der Gegenstand die sinnhafte Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Erfahrungen und die Frage, welche Bedeutung etwa gesellschaftlich wirksame ‚kulturelle Selbstverständlichkeiten‘ haben, die die Lebensbeschreibung überformen, bzw. wieweit das Individuum Verhaltenserwartungen nach eigenen Vorstellungen bearbeitet und umgeformt hat; in einer zweiten Perspektive geht es um die Frage nach den Möglichkeiten und Bedingungen von Lebensentwürfen; die Aufmerksamkeit ist hier auf die Gestaltbarkeit der Zukunft gerichtet; daraus folgt die Frage nach den Möglichkeiten von Lebenskonstruktion oder, als Gegenthese, nach der Determination von Lebensläufen durch gesellschaftliche Faktoren. Andere Verfahren, z.B. computergestützte Inhaltsanalysen, habe ich für den Sozialkundeunterricht der Sekundarstufe I nicht im Blick, sie könnten bei der Auswertung selbst erhobener Interviews, etwa in der Sekundarstufe II, zur Bereicherung beitragen. Die Methode der Exemplifikation zur Illustration bereits gewonnener Hypothesen halte ich ebenfalls für marginal, da es in der politischen Bildung hauptsächlich darum geht, mithilfe biographischen Materials zur selbständigen Hypothesenbildung zu gelangen. In mehr deduktiven Verfahren werden die biographisch erhobenen Daten zunächst grob kategorisiert und ‚kodiert‘, erst dann interpretiert (Fuchs 1984).

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  60. Wenn heute in pädagogischen Zusammenhängen von ‚Verstehen‘ die Rede ist, dann geht es meist um Chancen und Probleme, die damit verbunden sind, daß oder ob Lehrende sich den Jugendlichen ‚verstehend‘ zuwenden. Da es hier zunächst ‚nur‘ darum geht, daß sich die Schülerinnen und Schüler dem Text ‚verstehend‘ nähern, d.h. daß sie zuhören, sich einlassen auf Fremdes, mitunter Befremdliches, dann diesen Text befragen, mit ‚objektiven‘ Daten vergleichen, soll von Gefahren des Kolonisierens hier nicht die Rede sein (vgl. die Beiträge in Müller/Otto 1986).

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  61. Diese Haltung bei der Annäherung an einen Text, das sich dabei entwickelnde Beziehungsgeflecht, bezeichnet Schulz-Hageleit als ‚authentisches Gespräch‘; Georg Reichel (1992) plädiert dafür, diese verständigungsorientierte Kommunikationsform auch im Sozialkundeunterricht zu praktizieren. Zentrale Momente des authentischen Gesprächs kommen in dieser Phase der Gruppenarbeit zum Tragen: Die nicht intellektuelle Annäherung, die Wahrnehmung der eigenen Beteiligung, das Gewahrwerden der Bedeutung, die das Thema für mich persönlich hat, verbunden mit dem Wunsch, sich ggf. darüber auszutauschen.

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  62. Daß biographisches Material Wirklichkeit nicht zuverlässig darstellt, sondern Auskunft gibt über subjektive Verarbeitungsmechanismen von Wirklichkeit, ist bereits betont worden (vgl. 5.2.2). Im Unterricht sollte es daher von besonderem Interesse sein, typische Problembearbeitungsformen herauszufinden (um sie im eigenen Leben möglicherweise auch zu erkennen), z.B. unangenehme Erinnerungen zu übergehen, erfreuliche dagegen besonders hervorzukehren.

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  63. Für den Deutschunterricht wird die Forderung, das kritische Lesen zu üben, gelegentlich heftig kritisiert, sofern es zu früh und zu häufig praktiziert wird. Die kritische Reflexion von Texten könne so den Lesespaß vertreiben und zum ‚Abklappern kritischer Fragen degenerieren‘.

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  64. Auch die Versuche, die Herrschaft des Menschen über den Menschen mittels staatlicher Machtkonzentration abzuschaffen, schlugen bekanntlich fehl.

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  65. Eine ganze Batterie von Nachfrage-Hilfen, wie sie den Zusammenhang von gesellschaftlichen Problemlagen und politischen Konflikten klären können — und die zu stellen mir auch sehr sinnvoll erscheint —, entwickelt Janssen, 1986. Ein Problem sehe ich darin, wenn solche Fragen an die Schülerinnen und Schüler herangetragen werden, sie selbst aber kaum Gelegenheit bekommen, ähnliche Fragen — wenn auch nicht in derart elaborierter Weise — selbst zu stellen. Selbst Fragen stellen zu lernen, sehe ich als eine wesentliche Aufgabe der politischen Bildung an; will man hier zunächst die Gefahr eines ‚Zeitverlustes‘ befürchten, eben weil die Schülerinnen und Schüler nicht zu fragen gelernt haben, so sehe ich in diesem anfänglichen Zeitverlust langfristig einen Zeitgewinn.

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  66. Für mehrdimensionales oder ganzheitliches politisches Lernen empfiehlt Paul Ackermann (1993) gestaltpädagogische Ansätze und das System der Themenzentrierten Interaktion (TZI); konkrete Umsetzungsmöglichkeiten sieht er in Erkundungen (Parlamentsbesuch u.ä.) und der Arbeit an bildhaften Darstellungen (Fotografie, Fotomontage usw.). Die Arbeit mit biographischem Unterrichtsmaterial sehe ich als Ergänzung zu solchen Vorschlägen, die, wie Erkundungsfahrten, im Schulalltag wohl eher selten stattfinden. — Eine andere methodische Möglichkeit, persönlich bedeutsame Lernprozesse anzustoßen, ist die ‚gelenkte Phantasie‘. Die Schülerinnen und Schüler sitzen in einem Kreis und werden aufgefordert, sich ganz auf sich zu konzentrieren, möglicherweise dazu die Augen zu schließen, und sich an bestimmte Ereignisse und deren Wirkung auf sie zu entsinnen, den Gefühlen und Erinnerungen damit nachzuspüren und diese schriftlich zu fixieren (vgl. ausführlich Bürmann 1992: 104 f).

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  67. Emergenz bedeutet im biographietheoretischen Kontext, daß die subjektiven Entscheidungen durch gesellschaftliche Vorgaben nicht vollständig programmiert werden, sondern Momente von Freiheit enthalten; Kontingenz bedeutet die Erfahrung des Zufälligen, alles könnte auch ‚ganz anders‘ sein. Die Entwicklung moderner Gesellschaften zeichnet sich durch eine Kontingenzsteigerung aus (vgl. 2).

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  68. Da die biographische Aussage sprachlich vermittelt ist, das empirische Faktum (z.B. eine Statistik) dagegen ‚stumm‘ ist und erst in Sprache gekleidet werden muß, um es auf seinen Wahrheitsgehalt hin befragen zu können, dürfte das biographische Material gerade für die Erziehungswissenschaft, aber auch für die politische Bildung aussagekräftiger und dem empirischen Fakt überlegen sein (vgl. mit Blick auf die Erziehungswissenschaft Henningsen 1981: 24).

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  69. Die Stellungnahmen Dritter motivieren die Schülerinnen und Schüler dazu, sich ihrer eigenen Erfahrungen mit Politik bewußt zu werden, diese möglicherweise im Gespräch zu äußern, insbesondere wenn sie konträr zu dem liegen, die in der Begegnung vertreten oder mit dem biographischen Material präsentiert werden. Insofern kann es im Unterricht aus didaktischen Gründen angebracht sein, durch biographisches Material gerade solche Stellungnahmen und Bewertungen zu präsentieren, die unter den Jugendlichen nicht vertreten werden.

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  70. Wenn geäußerte Erfahrungen den Kern eines Konfliktes treffen, bezeichne ich sie als typisch oder als exemplarisch (vgl. Becker-Schmidt/Knapp 1987: 80). 71 Der Zugang zur Politik über lebensweltliche Erfahrungen ist in der fachdidaktischen Diskussion umstritten. So befürchtet Grammes (1993: 10) problematische Analogbildungen: Der Staat werde als vergrößerte Familie angesehen; das lebensweltliche Wissen werde — simplifizierend — in einer linearen Progression auf Institutionen übertragen. — Nach Gagel soll die ‚Hinwendung zur Lebenswelt‘ in neueren didaktischen Ansätzen häufig mit der (naiven) Suspendierung des Zweifels verbunden sein, daß die Welt auch anders sein könnte, als sie gerade erscheint. Diese Einschätzungen teile ich nicht, geschieht doch die ‚Hinwendung zur Lebenswelt‘ gerade mit dem Anspruch, vermeintlich Selbstverständliches sich vor Augen zu führen und darin gewahr zu werden, daß die Lebensverhältnisse prinzipiell auch anders sein können. Empirische Untersuchungen zeigen zudem, daß politische Bildungsprozesse, die auf die tägliche Lebenspraxis der Subjekte Bezug nehmen, auf besonderes Interesse der Schülerinnen und Schüler stoßen; daß der Staat etwa als ‚vergrößerte Familie‘ erscheinen soll, wurde zwar in Konzeptionen der 50er Jahre angestrebt, ob aber ein lebens- oder alltagsweltliches Konzept diese Assoziationen tatsächlich hervorruft, erscheint mir weder naheliegend noch durch empirische Erhebungen fundiert.

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  71. C. Wright Mills hat darauf hingewiesen, daß jede bewußte Handlung auf die Fähigkeit angewiesen ist, sich deren Konsequenzen zu verdeutlichen; dieses Vorstellungsvermögen nennt er ‚soziologische Phantasie‘. Darunter versteht er das Vermögen, eine Sache unter verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, z.B. unter politischen, sozialen, ökonomischen, rechtlichen usw., sowie Zusammenhänge zwischen individueller Lebensgeschichte, unmittelbaren Interessen und historisch-politischen Ereignissen zu erkennen (vgl. Mills 1963).

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  72. Theorien legitimieren sich aus dem Anspruch, zur Erklärung der gesellschaftlichen Wirklichkeit und politischer Konstellationen beizutragen und zwischen unterschiedlichen Phänomenen einen Zusammenhang zu stiften. Aber auch Theorien haben einen vorläufigen Charakter; ob also der biographischen Schilderung oder der Theorie größerer Erklärungswert beigemessen wird, hängt von der eigenen Beurteilung ab. Unterschiedliche Erklärungsansätze haben auf jeden Fall den Vorzug, Vorurteile zu reflektieren: ein Anliegen der politischen Bildungsarbeit.

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  73. Kritisch wendet wiederum Gagel ein, die Beachtung von Schülerinterressen verkehre sich in eine ‚Anleitung zur Selbstbespiegelung‘ und münde in die Enge von ‚Heimat‘, wenn nicht nach fachdidaktischen Kriterien unterrichtet werde (vgl. Gagel 1985: 404); diese allein gewährleisteten, die Grenzen der alltäglichen Erfahrungen zu übersteigen und so den lebensweltlichen Horizont zu erweitern. Gagel befürchtet einen Vorrang des Beziehungs- vor dem Inhaltsaspekt (vgl. ebd.: 407) und damit eine Entpolitisierung des Sozialkundeunterrichts. Nach meiner Wahrnehmung konstruiert er hier einen unnötigen Gegensatz zwischen persönlichen Interessen und thematischen Gesichtspunkten; dafür, daß sich im Sozialkundeunterricht oder in der Fachdidaktik das „Syndrom der ‚Expansion des Subjektiven‘ “ derart ausbreitet, daß Anlaß zur Sorge bestünde, sehe ich keine Anzeichen. 75 Lernen durch (eigene) Erfahrung und Lernen durch Wissenschaft stehen hier nicht, wie bei Aristoteles, in einer hierarchischen Ordnung, sondern in einem dialektischen Zusammenhang: Da das Lernen aus Erfahrung über wissenschaftliche Orientierung vermittelt ist, kann es über den „Schlendrian“ des praktischen Zirkels hinausführen.

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  74. Daß es sich bei den Erfahrungsberichten insbesondere um solche der Erwachsenengeneration handelt, muß kein Nachteil sein, sind doch prinzipiell unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten darauf denkbar: Aufgrund des Verdachtes, es solle ein Vorbild präsentiert werden, kann zunächst die Skepsis überwiegen; eine Geschichte mit ‚Moral‘ kann spontane Ablehnung hervorrufen usw. Hier vertraue ich auf das Gruppengespräch, das solche spontanen und möglicherweise vorschnellen Reaktionen zum Thema macht und relativiert.

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  75. In der Fachdidaktik herrscht Einigkeit darüber, daß verschiedene politische Sichtweisen und Standpunkte vorzustellen sind. Stellvertretend für viele: „Gesellschaft und Politik darf nicht nur unter einer theoretischen Sicht vermittelt werden, ebenso, wie nicht nur ein politischer Standpunkt vertreten werden darf. In diesem Sinne muß Pluralität sein“ (Nitzschke 1982: 33). Häufig geschieht dies wie in wissenschaftlichen Lehrbüchern hinter verschiedenen Spiegelstrichen, so daß für die Schülerinnen und Schüler der Gehalt der Aussage kaum faßbar wird.

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  76. Norbert Elias hat verschiedene Begriffe zusammengestellt, um ‚Alltag‘ näher zu kennzeichnen: Alltag ist Routine, ist Arbeitstag, ist Privatleben, ist der Ereignisbereich des täglichen Erlebens und Denkens, Alltagsbewußtsein ist der Inbegriff des ideologischen und undurchdachten Erlebens und Denkens (Elias 1978: 26). Der Alltag ist durch die jeweilige Gesellschaftsformation vorgegeben und zugleich ein Bereich, der für subjektive Deutungs- und Handlungsprozesse verfügbar ist. Eine kritische Theorie des Alltagslebens muß diese Gesellschafts- und Lebensweltperspektive in Balance halten: „Es gibt keinen guten Grund für die Vorstellung, daß die Erforschung von Strukturen des gesellschaftlichen Zusammenlebens (die, wenn einseitig betrieben, gewiß ‚objektivistisch‘ genannt werden kann), und die Erforschung des Sinnes, in dem die beteiligten Menschen selbst die verschiedenen Aspekte ihres Zusammenlebens erfahren (die, wenn einseitig betrieben, recht wohl ‚subjektivistisch‘ genannt werden kann), miteinander unverträglich seien“ (Elias 1978: 23).

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  77. Der Begriff der ‚Lebensnähe‘ erscheint insofern sinnvoll, als ‚Nähe‘ ein gewisses Maß an Distanz beinhaltet, also nicht völlig dem ‚Leben‘ ausgeliefert ist. ‚Lebensnähe‘ bedeutet also nicht, Einbezug des Lebens oder des Alltags in seiner ganzen Fülle (was im Unterricht auch gar nicht möglich wäre, weil hier von vornherein eine Distanz zum ‚ganzen Leben‘ besteht). Der Gegenpol zur Lebensnähe ist die Lebensferne. Bezogen auf die Schule können solche Gegenstände als ‚fern‘ bezeichnet werden, die z.B. nicht (mehr) aktuell sind, die als ‚unwesentlich‘ erscheinen, die räumlich weit entfernt liegen. Räumliche und zeitliche Nähe sind für einen ‚lebensnahen‘ Sozialkundeunterricht von besonderer Bedeutung, weil es darum geht, zu aktuellen politischen Konflikten Stellung zu nehmen oder gesellschaftliche Problemsituation wahrzunehmen und sich dazu zu verhalten.

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  78. Die Begriffe ‚Alltagsorientierung‘ und ‚Lebensnähe‘ erweisen sich nur als hilfreich, wenn näher ausgeführt ist, was darunter verstanden werden soll. Einen ‚lebensnahen‘ Unterricht soll z.B. die Freinet-Methode ermöglichen: Celestin Freinet (1896–1966) fordert eine Erziehung „par la vie — pour la vie — par le travail“. Den Schülerinnen und Schülern sollen die — aktuellen — Lehrinhalte ihrer Entwicklung gemäß nahegebracht werden, sie sollen die Möglichkeit haben, selbständig zu arbeiten mithilfe eines Systems individualisierender Arbeitsmittel: Dazu gehören die Arbeitsbücherei, Verbundmedien, Experimentier- und Arbeitskarteien, Lernprogramme und die Schuldruckerei. Die Druckerei ist ein didaktisches Instrument, an dem und mit dem die Schülerinnen und Schüler vielfältig und selbständig arbeiten können. Heute sind die Ziele der Freinet-Methode durch Computer mit geringerem Aufwand zu erzielen. Für die Erstellung einer Schülerzeitung sind solche Hilfsmittel zweifellos sehr nützlich; der biographisch-subjektorientierte Ansatz mag die Voraussetzungen zur persönlichen Handhabung solcher Mittel eindrucksvoll verbessern.

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  79. Mit der ‚Kolonialisierung der Lebenswelt‘ infolge der Technokratisierung von Lebenszusammenhängen (Habermas) büßen alle politischen Erwägungen und Maßnahmen, auch die unterschwelligen, ihre Wirksamkeit im Alltagsleben ein, etwa in der unpolitischen Form des Sachzwanges, umso mehr wenn traditionelle Kompensationsmöglichkeiten (Arbeit und sozialstaatliche Leistungsfähigkeit) abnehmen und kulturelle Traditionen und Werte nicht mehr als identitätsstiftend anerkannt werden. Die neuen sozialen Bewegungen können als Ausdruck der Krise der Politik gedeutet werden, wenden sie sich doch gegen die Entmündigung durch mächtige, undurchschaubare Apparate, um eine politische Kultur von unten, einen neuen gesellschaftlichen Alltag zu schaffen.

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  80. Die Lebenswelt ist die vorhandene, als ‚natürlich‘ erscheinende Umgebung, in der sich der Mensch auf der Grundlage selbstverständlicher Erwartungen und in der Einschätzung, daß jeder normale Mensch die eigenen Grundauffassungen teilt, verhält. Die Lebenswelt ist ‚einfach da‘; daß und inwiefern sie eine geschaffene ist, liegt zunächst im Verborgenen.

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  81. Die Bedeutung von Politik für den Alltag wird punktuell erfahrbar, wenn z.B. nach einem Verkehrsunfall die Folgen einer Verkehrspolitik, die dem Auto und der individuellen Mobilität Vorrang vor Sicherheit gewährt, zur Diskussion steht. Solche Ereignisse machen sowohl deutlich, daß Politik den Alltag gestaltet, als auch daß eigene Initiativen etwas bewirken können. Der lebendige Protest der Bürger wird auf seiten der Politik immer dann als bedrohlich erlebt („sich nicht dem Druck der Straße beugen“), wenn offenkundig wird, daß politisches Handeln erfolgreich sein und die Lebensqualität verbessern kann.

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  82. Der Begriff der ‚Perspektivenübernahme‘ (vgl. Geulen 1982) beinhaltet, den lebensgeschichtlichen Kontext und die subjektive Problemdefinition des oder der anderen von deren Perspektive her nachzuvollziehen, sich also ‚in die Schuhe eines anderen zu stellen‘ (vgl. Scarbath 1992: 54 f, mit Verweis auf Carl Rogers) und so eine andere Sichtweise von Situationen und Menschen zu übernehmen (vgl. Breit 1990: 229).

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  83. Eine Alltagsorientierung wird denen unterstellt, die der theoretischen Explikationen überdrüssig oder von kritischen Auseinandersetzugen abgeschreckt seien und nun das Konkrete suchten: Lebensnähe, die lebendige Wirklichkeit, die die Sehnsucht nach unmittelbarem Erleben zu stillen scheine (vgl. Gagel 1986 b: 290).

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  84. Die Berücksichtigung der Alltags- und Berufsbedingungen schlägt sich heute beispielsweise insofern nieder, als in der Bundesrepublik überwiegend Englisch und in der ehemaligen DDR in erster Linie Russisch als Fremdsprache unterrichtet wurde, während z.B. die norwegische Sprache im Unterricht beider Landesteile keine besondere Rolle spielt(e), da sie für das tägliche Leben als nicht relevant erscheint.

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  85. Die Forderung nach ‚methodischer Bildung‘ (Klafki) bedeutet, daß den Schülerinnen und Schülern Methoden vermittelt werden, mithilfe derer sie sich selbst neue Kenntnisse erarbeiten können. Dabei sind Fragehaltungen, Neugierde und Interesse wichtiger als spezialisiertes Wissen.

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  86. So gilt es z.B., utilitaristische Tendenzen im Bildungswesen zu reflektieren, die alles als lebensfern und wertlos bezeichnen, was nicht eindeutig der Vorbereitung auf die Arbeitswelt dient. Die Industrieschulen des 18. und 19. Jahrhunderts mögen zwar alltagsorientiert ausgerichtet gewesen sein, bargen in sich aber dennoch problematische Entwicklungen zur Ausbeutung von Kinderarbeit. Unter utilitaristischem Blickwinkel bedeutet Lebens- oder Alltagsnähe zuallererst Wirtschaftsnähe. Insofern schließt die Forderung nach ‚Lebensnähe‘ ein, daß die Schule auch andere, gerade nicht-nützliche, später nicht beruflich verwertbare Aspekte mit vermittelt: Die Bildung zu Humanität, Universalität und Totalität (Humboldt), bei der sittliche, soziale und musische Seiten mit angesprochen sind.

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  87. Rechtsextremismus-Forscherbemängeln, daß sich die politische Bildung „weithin in einem Kognitivismus erschöpft, dessen Effekte zweifelhaft, in jedem Fall jedoch kaum handlungsleitend sind“ (Möller 1994: 59).

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  88. Den Gegenpol zu ‚diakritischen‘ Lern- und Denkformen bilden ‚coenästhetische‘, ganzheitlich-mitschwingende Wahrnehmungsformen (wie sie z.B. beim Säugling vorhanden sind). Bereits Spitz hat festgestellt, daß sich der westliche Mensch dafür ent-schieden habe, „die diakritische Wahrnehmung sowohl in bezug auf die Kommunikation mit anderen als auch auf die Kommunikation mit sich selbst in den Vordergund zu stellen“ (Spitz 1967: 153 f). Mit seiner Entscheidung, coenästhetische Wahrnehmungsformen auszuschalten, ist die Schwierigkeit des Menschen programmiert, sich dessen bewußt zu werden, was in ihm vorgeht — dafür werden dann folgerichtig Therapeuten zuständig.

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  89. Auch curriculare Lernprozesse sind auf Gefühle angewiesen. Im Unterschied zu persönlich bedeutsamem Lernen werden sie hier jedoch als Mittel zur Verstärkung eingesetzt, als Anreiz für die Anstrengung und Ausdauer; die Instrumente sind Ehrgeiz, Leistungsstreben, Anpassung an Rollenerwartungen, Mittel zu ihrer Erzeugung vor allem die Benotung und die Aussicht auf Zertifikate für Weiterbildung.

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  90. Kindergarten und Schule, aber auch die Eltern tragen dazu bei, den Kindern Kontrollen über ihren Körper und ihre Gefühlsäußerungen anzuerziehen. Expressive Außerungen wie wütendes Schreien, ängstliches Weinen, ungeduldiges Herumzappeln, spontanes Reden und Lachen usw. müssen kontrolliert und hintangehalten werden, wenn sie nicht in den sozialen Zusammenhang, in dem sich das Kind befindet, passen. Meist haben die Kinder in der Grundschule eine Körperkontrolle erreicht, die es ihnen ermöglicht, nicht durch ‚unangebrachte‘ Gefühlsäußerungen aufzufallen, also Regungen pathischer Leiblichkeit zu kontrollieren, kanalisieren und ggf. zu unterdrücken. Eine innere Grenzziehung zwischen Gefühl und Phantasie einerseits und Rationalität andererseits hat stattgefunden (vgl. ausführlich Rumpf 1981). Dadurch wird das Kind zwar bewahrt etwa vor belastenden und zerstörerischen Aktionen, es gewinnt eine gewisse befreiende Distanz zu sich selbst, aber andererseits besteht die Gefahr, daß das Fühlen abgedrängt wird, und rationale Erkenntnis mit dem eigenen Erleben kaum noch etwas zu tun hat.

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  91. Hilligen plädiert dagegen für einen „Vorrang der Entwicklung kognitiver Qualifikationen im politischen Unterricht“ (Hilligen 1984: 92), um so differenzierte, abgestufte, abwägende und die Konsequenzen einer Entscheidung bedenkende Beurteilungsfähigkeiten sowie eine ‚Erziehung zur Vernünftigkeit‘ zu erreichen. „Eines der wichtigsten Gefühle, das es zu pflegen gilt, ist, daß Gefahr droht, wenn man sich Gefühlen überläßt“ (ebd.: 93). Hilligen fürchtet anscheinend, daß die Entwicklung sozialemotionaler Fähigkeiten auf Kosten kognitiver Anteile geht; er sieht m.E. zu wenig ihren Zusammenhang und ihr Aufeinander-Angewiesensein.

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  92. Der Versuch aus den 50er Jahren, die Politische Erziehung um die Dimension der Affekte zu einer ‚Gefühlsbildung‘ zu erweitern, stellt für die heutige Diskussion eher eine Belastung dar, als seinerzeit damit das Ziel verbunden war, positive Staats- und Gemeinschaftsgefühle zu erzeugen im Zusammenhang mit einer ausgeprägten Wissenschaftsabstinenz. Didaktische Konzeptionen, die eine Gefühlsorientierung vorsahen, waren oft identisch mit einer Entintellektualisierung.

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  93. Die politische Psychologie nennt solche unreflektierten Positionen Vorurteile. Vorurteile müssen, da sie subjektiv von erheblicher Bedeutung für die Fähigkeit der schnellen Orientierung sind, in geeigneter Weise auf ihre Existenzberechtigung hin befragt werden. Eine geeignete Weise, sensibel mit solchen Vorurteilen umzugehen, sehe ich darin, sie stellvertretend an der Person Dritter zu artikulieren. Vorurteile sind durch Gefühle und Affekte, durch Identifikationen (mit-)gesteuert. Im Unterricht gilt es, solche Identifikationen behutsam und möglicherweise indirekt bewußt zu machen, um ein Nachdenken darüber zu ermöglichen und eine Entscheidung für andere (selbstgewählte) Orientierungen zu eröffnen. „Lernunfähig sind wir in allen Lebensbereichen, die nicht deutlich wahrnehmbar und bewußt gegeben sind“ (SchulzHageleit 1989: 42). Daher ist das Zulassen und Wahrnehmen innerer Regungen wie Bereitschaft oder Abwehr Bestandteil ‚wirklicher‘ Lernprozesse.

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  94. Zum Lernen durch Irritationen vgl. Schulze 1985: 50 ff.

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  95. Nicht an den Heldentaten, sondern an den ‚Schwachstellen‘ der Helden ist hingegen der Schriftsteller Georges Simenon interessiert: „Ich besitze eine ganze Bibliothek von Memoiren und Briefwechseln, und das ist kein Zufall. Ich weiß, was ich darin suche, und ich bin nicht stolz darauf. Wenn man die Schwächen und kleinen Feigheiten der großen Männer entdeckt, schämt man sich weniger füür seine eigenen. Und ich muß zugeben, daß es mir nicht unangenehm ist, wenn ich erfahre, daß sie unter einem Gebrechen oder einer Krankheit gelitten haben“ (Simenon 1984: 147).

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  96. Gelegentlich geraten bestimmte Vorfälle in die Schlagzeilen, weil sie auf ein generelles Problem verweisen, ohne daß dieses aber herausgearbeitet wird. Die Schriftstellerin Joan Didion hat in der Reportage ‚Überfall im Central Park‘ den Hintergrund analysiert, der dazu führte, daß die brutale Vergewaltigung einer jungen, schönen, beruflich erfolgreichen weißen Frau durch eine Gruppe farbiger Jugendlicher in New York wochenlang die Presse und die Öffentlichkeit beschäftigte, während vergleichbare Taten — mit anderen Opfer- und Täterkonstellationen — kaum erwähnt werden (Didion 1991). Die Brisanz des Falles in der Öffentlichkeit wurde u.a. damit erklärt, daß die vergewaltigte Joggerin für die New Yorker zu einem Symbol all dessen geworden war, was die Stadt an Vergewaltigung und Mißhandlung erduldete und reproduzierte, wobei die Oberschicht ihren systematischen Ruin der Unterschicht anlastete und die Unterschicht ihren systematischen Ruin durch die Mächtigen widergespiegelt sah. Der Fall bot „eine Legende für die Nöte der Stadt, einen Rahmen, in dem die tatsächlichen gesellschaftlichen und ökonomischen Kräfte, die die Stadt entstellten, personalisiert und letztlich übertüncht werden konnten“ (Didion 1991: 61). Auf solche Zusammenhänge wurde in den Zeitungsberichten nicht verwiesen, und eine Aufgabe des Sozialkundeunterrichts besteht m.E. gerade darin, diese zutage zu fördern.

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© 1996 Leske + Budrich, Opladen

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Hoppe, H. (1996). Der biographisch-subjektorientierte Ansatz: Das Reale bedenken — das Mögliche suchen. In: Subjektorientierte politische Bildung. Schriften zur politischen Didaktik, vol 26. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01420-1_5

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