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Geschlechterpolarität und Theorie der Weiblichkeit in „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Tönnies

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Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“

Zusammenfassung

Das 19. Jahrhundert in Westeuropa, Enstehungszeit und Entstehungsraum der „Soziologie“ als einer besonderen Wissenschaft, ist eine Phase des unabgeschlossenen tiefgehenden gesellschaftlichen Umbruchs. In solchen Zeiten ändern sich nicht nur die überkommenen gesellschaftlichen Strukturen, Institutionen und Verhältnisse, sondern in einem komplizierten Vorauseilen, Begleiten oder Zuspätkommen auch die gesellschaftlichen und individuellen Deutungsmuster. Eine geschichtliche Analyse der Entstehung der Soziologie, die sich selbst als soziologische versteht, wird, bei aller Verschiedenheit der Methoden, die zur Verfügung stehen, von der Reflexion dieser Umbruchsituation noch in den abstraktesten Geistesprodukten ausgehen.

„Die Männer sind klüger“ (Ferdinand Tönnies, 1920b, S 119? — das möchte ich für mich nicht in Anspruch nehmen.1

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Literatur

  1. Ich zitiere Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Grundbegriffe der reinen Soziologie, nach der 3. durchgesehenen Auflage, Berlin (1920), übrigens einem schönen Exemplar mit Anstreichungen und dem Ex Libris von Andreas Predöhl.

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  2. Wieviele Interpretationen zu diesem Begriffspaar mögen in der Geschichtsschreibung der Soziologie vorgelegt worden sein, wieviel öfter noch mögen „Gemeinschaft-Gesellschaft“ ungelesen als Gegensatz verwendet worden sein, ohne daß ein Wort über diesen Umstand gefallen ist? Statt vieler als Beispiel der (zurecht) bekannte Schwiegersohn von F. Tönnies, bei dem die Unterscheidung zwischen Wesenwille und Kürwille, zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft „nicht auf dem Kriterium der Rationalität (das bei Weber entscheidend ist), sondern darin, daß im Kürwillen der Handelnde Zweck und Mittel trennt, während bei wesenwilligen Verhalten ... diese Trennung nicht stattfindet,“ beruht (Rudolf Heberle, 1967, S. 83). Jeder, der das Buch von Tönnies kennt, wie sicher R. Heberle, fällt damit zugleich ein Urteil über die verschiedene Begabung von Frauen (Wesenwille) und Männern (Kürwille).

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  3. Es ist wichtig, um die Kritik an F. Tönnies richtig zu verstehen und in ihrer ganzen Schärfe zu begreifen, sich methodisch klar zu machen, daß er sich mit seinem Bezug auf die „natürliche“ Stellung der Geschlechter auch nicht annähernd auf einen Zustand bezog, wie er historisch-gesellschaftlich etwa im frühen 19. Jahrhundert oder jemals früher bestanden hat, sondern auf eine in der Reaktion auf die bürgerlich-aufklärerische, also vertragstheoretische Interpretation im 19. Jahrhundert enstandene „organische Familienideologie der Restaurationszeit, welche von der Familie als einer primär moralischen, natürlichen Einheit sprach ...“ (Ute Frevert, 1986, S.65).

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  4. In einem Zusatz von 1911 pointiert F. Tönnies selbst den Zusammenhang des Ersten und Zweiten Buchs: „Die Assoziation der Ideen ist analog der Assoziation der Menschen. Die Gedankenverbindungen, die den Wesenwillen darstellen, entsprechen der Gemeinschaft, diejenigen, welche Kürwillen bedeuten, entsprechen der Gesellschaft“ (Ferdinand Tönnies, 1920b, S 101). Hinsichtlich der in der TönniesLiteratur anzutreffenden These, die Reihenfolge der Kapitel bei Tönnies sei willkürlich, ließe sich meines Erachtens zeigen, daß sie auf einem wissenschaftstheoretischen Mißverständnis, wenn nicht Vorurteil beruht. Ontologisch, nicht transzendental-kritisch stimmt nämlich die Reihenfolge Gemeinschaft (Wesenwille) — Gesellschaft (Kürwille), die von Tönnies historisch-genetisch als Evolution begründet wird. Seine teilweise kantianisierende Sprache, vor allem in der Willenstheorie, sollte aber über dieses in einer biologistisch-materialistischen Ontologie begründete Fundament nicht hinwegtäuschen. Die „Normalbegriffe“ (1920b, S. 109) sind eben keine neukantianischen „Idealtypen“, sondern Hervorbringungen, Ausdifferenzierungen der ‚Natur‘, ‚des Lebens‘ (1920b, S. 10), „Wesenwille“ hat auch genetisch-evolutionär eine zeitliche Priorität vor „Kürwille“, sowie „Gemeinschaft“ vor „Gesellschaft“, und „Kürwillen“ stellt eine Ausdifferenzierung auf späterer und höherer Stufe dar, indem „Kürwille aber vom Wesenwillen zuerst sich losmachen, sodann ihn aufzulösen, zu vernichten oder zu beherrschen strebt.“ (1920b, S.109) Der ontologisch-genetische Charakter der Argumentation tritt an vielen Stellen offen zutage. Im übrigen wird Tönnies auch ganz unbefangen so rezipiert, z.B. von W. Sombart (Werner Sombart, 1902, Bd. 2, S. 142), nämlich im Sinne von einer genetischen Ausdifferenzierung und dann — kritisch bewerteten — Überlagerung der „Gesellschaft“ (Stadt) aus bzw. über die „Gemeinschaft“ (Dorf); oder von A. Vierkandt, der — zwar F. Tönnies ansonsten reichlich mißverstehend — richtig feststellt: „Iàtsächlich ist die Form der Gemeinschaft die ursprüngliche schlechtweg und die Formen der Gesellschaft lassen sich nur als nachträgliche Auflockerungen dieser Verbindungsform verstehen.“ (Alfred Vierkandt, 1923, S. 179 ähnlich auch S. 261). In der Sekundärliteratur spricht C. Bickel richtig von F. Tönnies’ „ontogenetischer und phylogenetischer Evolutionstheorie der Formen des Denkens, Handelns und Fühlens, zu der seine Willenstheorie sich verdichtet“ (Cornelius Bickel, 1985, S. 107), von letzterer aber zugleich als einer „Metatheorie“ (1985, S. 106) — wie geht das zusammen?

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  5. „ ‚Gemeinschaft und Gesellschaft‘, das Grundbuch der deutschen Soziologie aus dem Jahre 1887, war ja nicht zuletzt aus dem Geiste Nietzsches entstanden .. “ (Wilhelm Hennis, 1987, S. 174). In seinem erfrischend polemischen und den Betrieb der Weberei‘ kräftig kritisierenden und korrigierenden Buch schießt Hennis meines Erachtens bei Tönnies über’s Ziel hinaus (besonders S. 35), weil Weber und Tönnies zwar einige Gemeinsamkeiten, nicht aber in dem entscheidenden Punkt gemeinsame Vorurteile haben, weil kein sexistisches Vorurteil die Idealtypen Webers, wohl aber die sogenannten „Normalbegriffe“ (Ferdinand Tönnies, 1920b, S.109) prägt.

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  6. Dort hätte er z.B. sehen können, daß die ursprüngliche Arbeitsteilung, das Verhältnis von Innen (Haus) und Außen (Welt) zwar ähnlich unterstellt wird, aber auf dem Hintergrund der zeitgenössischen Forschung (Bachhofen, Morgan) daraus eben nicht die „vollkommene Macht“ des Mannes, die „Würde seiner Autorität“ geschlußfolgert wird, sondern explizit: „Die Zeilung der Arbeit ist rein naturwüchsig... Der Mann führt den Krieg, geht jagen und fischen, beschafft den Rohstoff der Nahrung und die dazu nötigen Werkzeuge. Die Frau besorgt das Haus und die Zubereitung der Nahrung und Kleidung, kocht, webt, näht. Jedes von beiden ist Herr (!) auf seinem Gebiet“ (Friedrich Engels, 1972, S. 155, hervorgehoben von M.G.). Man sieht, auch Engels hat natürlich seine Vorurteile, aber dennoch und gerade deswegen bleibt der Unterschied bemerkenswert. Es macht übrigens für das vorzutragende Argument nichts, wenn die Biographen sagen sollten, F. Tönnies kannte Bachhofen, Morgan, Engels, Bebel etc. nicht — er hätte sie kennen können und müssen.

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  7. Was A. Bebel über die „Philister“ schreibt, die die geschichtlich im 19. Jahrhundert aktuelle Stellung der Frau in Haushalt und Familie als ihren „Naturberuf“ (August Bebel, 1891, S 2) ausgeben, trifft methodisch und politisch-inhaltlich voll auf F. Tönnies zu. Während A. Bebel, in durchaus nicht unumstrittener Subsumption, die „Frauenfrage“ immerhin als eine der „wichtigsten“ der „sozialen Fragen“ überhaupt bezeichnet, kommt sie in F. Tönnies Darstellung der „sozialen Frage“ nur in der Schlußbetrachtung beiläufig — ohne allen Bezug auf die inzwischen ausfihrliche Literatur — vor, typisch für F. Tönnies: er sorgt sich vor allem um „sittliche Übel und Gefahren“ (Ferdinand Tönnies, 1913, S. 141), die Frauenarbeit außer Haus mit sich bringe, sieht auch bei der Verbindung von Wohnungsfrage und Frauenfrage, wo er nochmals auf die letztere zu sprechen kommt, vor allem „ihre sittlichen Momente“ (1913, S. 152) und verspricht sich am Beispiel der englischen Frauenbewegung „eigene freie Schritte im Sinne der Wahrheit und Sittlichkeit“ (1913, S. 153). Den Frauen kommt bei ihrer Emanzipation also die Rolle zu, „Sittlichkeit“ ins öffentliche Leben (der Männer?!) zu bringen, deren „Herrschaft“ dadurch offenbar sittlich geadelt, aber nicht gebrochen werden soll.

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  8. Dort hätte er lesen können, daß „der maßgebende Gesichtspunkt bei der Frauenarbeitsfrage... nicht das Recht der Frauen, sondern der Vorteil der Männer“ (Hedwig Dohm, 1874, S. 29) ist, und: „Aber es wird ein Tag kommen, wo die Frau, der Nadel und des Kochlöffels überdrüssig, diese Geschlechtssymbole von sich wirft, müde der abgedroschenen Phrasen, mit denen sie bisher betrogen worden, dem Despoten ‚Mann‘ den Gehorsam kündigen und Gehorsam fordern wird von denen, die ihr unterthan im Geiste“ (1874, S. 29). Das hätte ihm sicherlich einen gehörigen Schrecken eingejagt — vielleicht ist es deshalb so, daß er es las und schnell verdrängte, um weiter von „hoher Sittlichkeit des Weibes“ und „absoluter Macht und Würde der Autorität“ des eigenen Geschlechts zu reden.

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  9. Ich glaube, daß dieses starke Verb gerechtfertigt ist, denn es handelt sich nicht um Analogien, wie in der Fußnote 4 angedeutet, insofern zielt auch Georg Lukács (1962, S. 518) daneben: „So werden bei ihm nicht nur Familie und Kontrakt (abstraktes Recht) einander entgegengehalten, sondern auch die Gegensätze von Weib und Mann, Jugend und Alter, vom Volk und Gebildeten spiegeln den Gegensatz von Gemeinschaft und Gesellschaft“. In Wirklichkeit ‚spiegeln‘ sich bei Tönnies aber alle Verhältnisse im Gegensatz von Weiblichkeit‘ und ‚Männlichkeit

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Lars Clausen Carsten Schlüter

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© 1991 Leske + Budrich, Opladen

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Greven, M.T. (1991). Geschlechterpolarität und Theorie der Weiblichkeit in „Gemeinschaft und Gesellschaft“ von Tönnies. In: Clausen, L., Schlüter, C. (eds) Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01367-9_16

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  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-01367-9_16

  • Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden

  • Print ISBN: 978-3-663-01368-6

  • Online ISBN: 978-3-663-01367-9

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