Zusammenfassung
Der in den letzten Jahren aus den Vereinigten Staaten rückimportierte Begriff der „Zivilreligion“ soll Mindestelemente eines religiösen oder quasireligiösen Glaubens bezeichnen, für den man bei allen Mitgliedern der Gesellschaft Konsens unterstellen kann.1 Hierzu gehört die Anerkennung dessen, was man in der deutschen politischen Diskussion gegenwärtig „Grundwerte“ nennt, also die Anerkennung der in der Verfassung kodifizierten Wertideen. Diese Grundwerte sollen nicht nur, wie es in der Verfassung heißt, den Staat, sondern auch die Bürger untereinander binden. Einbezogen wird aber auch ein nicht so stark formalisierter Überzeugungsbereich — etwa Vorstellungen über Gerechtigkeit, fairness, Durchsetzungswürdigkeit des Rechts, Gleichheit des Zugangs aller zu allen Funktionen (einschließlich etwa: Nichtdiskriminierung von Rassen beim Besuch von Gaststätten, öffentlichen Veranstaltungen oder sonst allgemein zugänglichen Plätzen) und heute vielleicht sogar: Anspruch auf Lebensqualität. Im gleichen Zusammenhang könnte man denken an Wertvorstellungen, die individuelle Selbstverantwortung schützen, aber auch zur Pflicht machen und durch ein zunehmend zerreißfestes Netz sozialer Sicherheiten gegen ein nicht individuell verantwortetes Schicksal abschirmen. Freiheit und Betreutwerden sind beides Komponenten dieser — so wird behauptet: Zivilreligion.
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Anmerkungen
Vgl. für nähere CharakterisierungenTalcott Parsons,Religion in a Modern Pluralistic Society, „Review of Religious Research“ 7 (1966), S. 125–146; Robert N. Bellah,Civil Religion in America, in Beyond Belief: Essays on Religion in a Post-Traditional World, New York 1970, S. 168–189; William A. Cole/Phillip E. Hammond,Religious Pluralism, Legal Development, and Societal Complexity: Rudimentary Forms of Civil Religion, „Journal for the Scientific Study of Religion” 13 (1974), S. 177–189; ferner der Sache nach auch Will Her-berg,Religion in a Secularized Society, „Review of Religious Research“ 3 (1962), S. 145158. Als Beispiele für empirische Forschungen siehe etwa: Michael C. Thomas/Charles C. Filippen,American Civil Religion: An Empirical Study, „Social Forces” 51 (1972), S. 225; Ronald C. Wimberley et al.,The Civil Religious Dimension: Is it There?, „Social Forces“ 54 (1976), S. 890–900.
Zitiert nach Herbert Dieckmann,Le Philosophe. Textes et Interprétation, Saint Louis 1948, S. 46.
Vgl. Herbert Spencer,Principles of Sociology, 3. Aufl. Bd. I, London-Edinburgh 1885, S. 459ff. (§ 228) und passim; Georg Simmel,Ober sociale Differenzierung, Leipzig 1890; Emile Durkheim,De la division du travail social, Paris 1893; Cecil C. North,Social Differentiation, Chapel Hill 1926; Talcott Parsons,Introduction to Part Two, in: Talcott Parsons/Edward Shils/Kaspar D. Naegele/Jesse R. Pitts (Hrsg.), Theories of Society, Glencoe Ill. 1961 Bd.I, S. 239–264.
Hierzu näher Niklas Luhmann,Differentiation of Society, „Canadian Journal of Sociology“ 2 (1977), 29–53.
Unter diesem Gesichtspunkt schreibt Franz Borkenau,Der Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild: Studien zur Geschichte der Philosophie der Manufakturperiode, Paris, 1934. Borkenau benutzt als Bezugsbegriff den ebenso problematischen wie umstrittenen Begriff der „gentry“.
Im 18. Jahrhundert war allerdings Atheismus noch ein politisches Problem und ein Stoppsignal, an dem diese Entwicklung abgebremst wurde. Auch Rousseau zieht hier noch Verbannung bzw. Todesstrafe in Betracht. Und entsprechend war ein Gottesbegriff — Etre suprême oder Ähnliches — wesentliches Moment aller Vorstellungen über Zivilreligion.
Hierzu lesenswert Jan J. Loubser,Calvinism, Equality, and Inclusion: The Case of Africaner Calvinism, in: S.N. Eisenstadt (Hrsg.), The Protestant Ethic and Modernization: A Comparative View, New York 1968, S. 367–383, der das Beharren auf Rassenungleichheit in Südafrika auf das calvinistische Erbe, nämlich auf diese letzte Verweigerung voller Inklusion zurückführt, die sich verhärtete, gerade weil sie schon angesichts des kommenden Anspruchs der Zivilreligion auf volle, vorbehaltlose Inklusion formuliert werden mußte.
Siehe als Überblick David Westgate,The Augustinian Concept of Amour propre and Pascal’s „Pensées“, Nottingham French Studies 10 (1971), S. 10–20.
Vgl. als typisches Beispiel mit nur noch knapper religiöser Randinszenierung Jacques Esprit,La Fausseté des Vertus Humaines, Paris, 2 Bde, 1677–78.
So Jacques Abbadie,L’art de se connoïtre soi-mesme, ou la Recherche des sources de la morale, Rotterdam 1692. Pascal hatte dagegen noch jede Rechnung im Hinblick auf eigene Unsterblichkeit, so widernatürlich und „monströs“ ihr Unterbleiben sei, für einen Ausdruck sündiger Selbstliebe gehalten. Vgl. Pensées Nr. 335, in CEuvres, éd. de la Pléiade, Paris 1950, S. 911 ff.
Siehe Beispiele bei Robert Mauzi,L’idée du bonheur dans la littérature et la pensée françaises au XVIIIème siècle, Paris 1960, insb. S. 180ff.
Siehe Pierre Cuppê,Le ciel ouvert à tous les hommes, ou traité théologique, 1768 (als Manuskript seit Anfang des Jahrhunderts zirkulierend); Dom Nicolas Louis,Le ciel ouvert à tout l’univers, 1782.
Vgl. dazu Michel de Certeau,Du système religieux à l’éthique des Lumières (17e-18e s.): La formalité des pratiques, in „Ricerche di storia sociale e religiosa“, 1, 2 (1972), S. 31–94.
Mauzi a.a.O. S. 208 formuliert diese Situation wie folgt: „Tandis que Philosophes et mondains proclament que la conquête du bonheur naturel ne peut plus tolérer l’entrave du christianisme, l’Eglise répond que la morale chrétienne ne peut pas souffrir davantage l’esprit du monde, où tout est à l’opposé de ses principes. La réplique est ainsi parfaite, et la rupture absolue“.
Samuel Pufendorf,De officio hominis et civis iuxta legem naturalem libri duo, lib I cap. 4, IX, zit. nach der Ausgabe Cambridge 1735, S. 100.
Buch IV Kap. VIII, OEuvres complètes (éd. de la Pléiade) Bd. III, Paris 1964, S. 460ff.
Aber auch durchaus zeitgenössischen Argumenten, deren Tradition kaum noch bewußt ist. Siehe dazu Pierre Maurice Masson,La religion de Jean-Jacques Rousseau, Paris 1916, Bd. II, S. 195ff.
Das sind damals übliche Argumente, die der Religion Esoterik bescheinigen, um sie auf sich selbst zurückzuwerfen und Distanz zu gewinnen. So z.B. Mirabeau im Discours sur les fêtes publiques, civiles et militaires (in: Travail sur l’éducation publique, ed. P.J.G. Cabanis, Paris 1791, S. 93), der mit diesem Argument rein nationale Feste ohne religiösen Charakter empfiehlt. Andererseits ist diese Argumentation auch für die Gegenwart nicht ganz unrealistisch. Das wird jeder bestätigen, der die Versuche beobachtet, christliche Lehrsätze ausführlicher und genauer in Programme politischer Parteien hineinzuformulieren.
Die Liste lautet: „L’existence de la Divinité puissante, intelligente, bienfaisante, prévoyante et pourvoyante, la vie à venir, le bonheur des justs, le châtiment des méchants, la sainteté du Contrat social et des Lois“ und außer dem negativ: intolérance.
In diesem Sinne interpretiert Karl Dietrich Erdmann,Das Verhältnis von Staat und Religion nach der Sozialphilosophie Rousseaus (Der Begriff der religion civile), Berlin 1935, die These der religion civile als ein (sich wieder auflösendes) Moment einer Begriffsdialektik, der in der französischen Revolution die Realdialektik folge. Diese Interpretation besagt, daß das Phänomen der Zivilreligion weder im Begrifflichen noch in der Realität Stabilität gewinnen kann.
Der Begriff Mythos ist hier formal, nicht abwertend gebraucht. Er bezeichnet einen (erzähl-baren) Prozeß, der einen Wandel von Zuständen bewirkt und so die Überwindung einer Differenz erklärt — etwa die Entstehung der Welt oder die Entstehung von Sünde und Leid oder eben den viel zitierten „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“.
Das gilt auch und besonders für Kant: Gerade wenn man jede vom Subjekt nicht verantwortete externe Bestimmung der Synthesis ablehnt und damit auch jede Einwirkung religiöser Mächte ausschließt (bzw. auf die Irrelevanz des Dings an sich zurückdrängt), wird die Vernunft selbst zur Religion, was nur mehr heißen kann: zur Zivilreligion.
Die eigentümliche Figur einer Theorie, die dazu gezwungen ist, sich selbst als einer ihrer Gegenstände zu erscheinen, bedürfte näherer Ausarbeitung. Hier kann nur darauf hingewiesen werden, daß psychologische, soziologische und vielleicht sogar biologische Theorien diesem Typus zuzurechnen sind. Die daraus folgenden Komplikationen der Selbstreferenz bleiben in aller Regel jedoch unbeachtet.
Vgl. Talcott Parsons,Durkheim’s Contribution to the Theory of Integration of Social Systems, in: Kurt H. Wolff (Hrsg.), Emile Durkheim 1858–1917, Columbus Ohio 1960, S. 118–153; ders.,Some Considerations on the Theory of Social Change, „Rural Sociology“ 26 (1961), S. 219–239; ders.,Comparative Studies and Evolutionary Change, in: Ivan Val-lier (Hrsg.) Comparative Methods in Sociology: Essays on Trends and Applications, Berkeley 1971, S. 97–139 (126ff.) - hier unter Einbeziehung von adaptive upgrading und inclusion als weitere Variable und mit expliziter Charakterisierung von „Säkularisierung” als Wertegeneralisierung.
Andere Bemühungen um eine Verfeinerung dieses Schemas Differenzierung/Generalisierung beziehen weitere Variable ein (siehe vorstehende Anm.) oder lenken die Aufmerksamkeit auf unterschiedliche Brechungen der generalisierten Symbole durch regionale Traditionen — so der Begriff des „codes“ bei S.N. Eisenstadt,Tradition, Change, and Modernity, New York 1973, insb. S. 133ff., 311ff.
Zur Rückführung von Säkularisierung auf Differenzierung vgl. auch Niklas Luhmann,Funktion der Religion, Frankfurt 1977, S. 255ff.
So liest man in zeitgenössischen pädagogischen Schriften: „Die Menschheit bildet sich selbst in ihrer besten Entwicklung zur Gottähnlichkeit, das heißt, die göttliche Idee stellt sich
selbst in dem Menschen dar“ (Friedrich H.C. Schwarz,Lehrbuch der Pädagogik und Didaktik, Heidelberg—Frankfurt 1805, S. 56) und gleichzeitig: „Die heilige Schrift muß übrigens dabei in ihrer Würde als historische Urkunde der von Gott geleiteten sittlichen Erleuchtung des Menschengeschlechts erhalten werden” (Heinrich Stephani,System der öffentlichen Erziehung, Berlin 1805, S. 397). „Übrigens“ — das klingt so wie: „Fast vergaß ich es zu erwähnen”. Immerhin wird der Zusammenhang registriert.
Les formes élémentaires de la vie religieuse: Le système totémique en Australie, Paris 1912.
Henri Desroches,Sociologies religieuses, Paris 1968, S. 58, kann deshalb formulieren: „La religion est saisie essentiellement comme une fonction de la société opérant sur elle-même“.
Georg Simmel,Die Religion, Frankfurt 1912. Man kann dies Buch sehr leicht in eine systemtheoretische Sprache übersetzen, wenn man es als Kommentar zu den Vorzügen der Ausdifferenzierung unter dem Gesichtspunkt eines funktionalen Primats liest.
Vgl. etwa Thomas Luckmann, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963; ders., Religion in der modernen Gesellschaft, in: Jakobus Wössner (Hrsg.), Religion im Umbruch: Soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft, Stuttgart 1972, S. 3–15.
Voll durchsichtig wird diese Disposition weniger in den speziell der Religion gewidmeten Aufsätzen als in formaleren Aufrissen der Gesamttheorie. Siehe vor allem das Einführungskapitel in: Talcott Parsons/Gerald M. Platt,The American University, Cambridge Mass. 1973, und hier die Disposition über civil religion als L-Subsystem des L-Subsystems des sozialen Systems (S. 20, 22). Zivilreligion gilt danach als dasjenige Subsubsystem des sozialen Systems, das konstitutive Symbolisierung des gesamten Handlungssystems in spezifisch soziale (also: kommunikationsfähige) Realität überführt.
Thomas Luckmann würde sagen: mit Bezug auf „das, was den Menschen zum Menschen macht“ (a.a.O. 1972, S. 5).
Dies wird, ich merke das nur an, nicht selten in kritischer Absicht durchschaut. Man sagt dann: die Theorie sei „konservativ“, bejahe die Gesellschaft und sei deshalb genötigt, sich in Fragen der Religion mit Zivilreligion abzufinden, denn diese Gesellschaft brauche Religion zur Domestikation der unteren Klassen, habe aber nichts besseres zu bieten. Das ist leicht gesagt, aber nicht auf dem Niveau der Problemlage formuliert. Denn wenn es eine Beziehung von Gesellschaft und Religion gibt, kann keine Gesellschaftstheorie die Frage offen lassen, was in einer anderen Gesellschaft an ihre Stelle tritt — es sei denn, man postuliere wie die Puritaner einfach eine neue künftige Ordnung als Ordnung des Heils, in der die Differenz von Gesellschaft und Religion aufgehoben ist.
Siehe auf dieser Linie Trutz Rendtorff,Gesellschaft ohne Religion? Theologische Aspekte einer sozialtheoretischen Kontroverse (Luhmann/Habermas),München 1975.
Diese Schwierigkeiten sind viel diskutiert worden. Ihr Hauptproblem steckt in der Frage, ob Sozialität schon ein Aspekt des Menschseins oder erst ein Aspekt des Bürgerseins ist. Aus dieser Fragestellung führt die Soziologie dann hinaus mit der These, daß Sozialität Bedingung der Konstitution sowohl des Menschseins als auch des Bürgerseins ist.
Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtfindung: Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis, Frankfurt 1970. Vgl. auch Hans Martin Pawlowski, Wert, Erkenntnis und Entscheidung, Festschrift für Konrad Duden, München 1977, S. 359–378.
In diesem Sinne ist denn auch der innerhalb der CDU erarbeitete Entwurf eines Grundsatzprogramms aus Anlaß einer öffentlichen Diskussion in Berlin kritisiert worden (Sept. 1977).
Zum traditionellen Kontext lesenswert: Kenneth E. Kirk,The Vision of God: The Christian Doctrine of the Summum Bonum, 2. Aufl. London 1932. Vgl. auch Talcott Parsons,Belief, Unbelief, and Disbelief, in: Rocco Caporale/Antonio Grumelli (Hrsg.), The Culture of Unbelief, Berkeley 1971, S. 207–245 (219ff.).
Vgl. namentlich Will Herberg, Protestant, Catholic, Jew: An Essay in American Religious Sociology, Garden City NY 1956; ferner auch die auf die USA bezogenen Analysen von Bryan R. Wilson, Religion in Secular Society: A Sociological Comment, London 1966.
Entsprechend könnte man für die Ebene personaler Systeme formulieren, daß die natürliche Selbstgewißheit und Freude am eigenen Wohlverhalten erst durch den Bezug auf Religion die Erfahrung macht, nicht auf Irrtum oder bloßer Einbildung zu beruhen.
Das heißt, soziologisch gesprochen, Inklusion aller Teilnehmer des Gesellschaftssystems. Vgl. Talcott Parsons a.a.O. (1971); ders.,Religion in Postindustrial America. The Problem of Secularization, „Social Research“ 41 (1974). S. 193–225; Niklas Luhmann,Funktion der Religion, a.a.O. 1977, S. 233 ff.
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Luhmann, N. (1981). Grundwerte als Zivilreligion. In: Soziologische Aufklärung 3. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01340-2_17
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