Perspektiven nationaler Kollektivvertragsbeziehungen im integrierten Europa

Zusammenfassung

Neben der Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates gilt die Herausbildung hochgradig institutionalisierter Kollektivvertragsbeziehungen allgemein als wichtigster Eckpfeiler des nach dem Zweiten Weltkrieg in den Kernstaaten West- und Nordeuropas entstandenen „europäischen Sozialmodells“ (Grahl/Teague 1997). Jenseits aller nationalspezifischen Besonderheiten zeichnen sich die westeuropäischen Kollektivvertragssysteme vor allem durch überbetriebliche Kollektivverträge aus, die zwischen repräsentativen Arbeitgeber- und Gewerkschaftsverbänden im Rahmen (weitgehend) autonomer Kollektivverhandlungen auf sektoraler oder sogar sektorenübergreifender Ebene abgeschlossen werden.¹ Die westeuropäischen Kollektivvertragssysteme haben damit einen spezifischen, durch Flächentarifverträge geprägten Regulierungsmechanismus hervorgebracht, der eine Festlegung von Löhnen und Arbeitsbedingungen unabhängig vom wirtschaftlichen Ergebnis einzelner Unternehmen ermöglicht und auf diese Weise die „Verkaufsbedingungen der Ware Arbeitskraft“ (Müller-Jentsch 1997: 195) den unmittelbaren Wirkungsgesetzen des Marktes entzieht. Implizit übernehmen Flächentarifverträge damit wichtige Regulierungsfunktionen, die in hohem Maße das soziale und ökonomische Profil des westeuropäischen Nachkriegskapitalismus geprägt haben (Traxler 1997a; Flecker/Schulten 1998b). Hierzu zählen aus Arbeitnehmersicht insbesondere die sozialen „Partizipations-, Verteilungsund Solidaritätsfunktionen“. Bis in die Gegenwart hinein läßt sich in den meisten westeuropäischen Ländern eine enge Korrelation zwischen dem Zentralisierungsgrad des Kollektivvertragssystems und dem gesamtgesellschaftlichen Einkommensgefüge nachweisen, wonach mit einer zunehmenden Dezentralisierung der Kollektivvertragsbeziehungen die Niveauunterschiede zwischen den einzelnen Lohngruppen deutlich ansteigen (OECD 1996). Die homogenisierenden Wirkungen von Flächentarifverträgen korrespondieren demnach mit dem traditionellen gewerkschaftlichen Anspruch einer „solidarischen“ Lohn- und Arbeitspolitik.

Für nützliche Hinweise und kritische Kommentare danke ich insbesondere Michael Felder.