Zusammenfassung
Ich beginne die Strukturanalyse des okkulten Kontextes mit der Untersuchung wesentlicher konstruktiver Bedingungen. Wie also kommt „okkulter Sinn“ zustande? Auf dieselbe Weise, auf die auch jede andere Deutung von Ereignissen, Wahrnehmungen, Gegenständen und Sachverhalten hergestellt wird: Durch eine Verknüpfungsleistung des erkennenden Subjekts, durch ein Aufeinander-Beziehen von Kategorien der Erfahrung auf sinnliche und emotionale Wahrnehmungsvorgänge. Das Spezifikum des okkulten Kontextes ist die axiomatische Grundüberzeugung, daß es neben oder jenseits der unmittelbar oder mittelbar sinnlich wahrnehmbaren Welt nicht-materielle Seinsformen und Realitätsebenen gibt, die durch spezifische Übungen, Manipulationen oder Techniken zugänglich werden. „Okkulter Sinn“ entsteht mithin durch die Verknüpfung von Wahrnehmungsvorgängen mit Erfahrungen, die auf der Grundlage dieser axiomatischen Überzeugung gemacht wurden.
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Literatur
Wilber nennt die Kommunikation Ober Nicht-kommunikables „mandalisch“ und spricht sogar über “mandalische Wissenschaften: sie sind der Versuch des Verstandes, die Daten der Transzendentalia zu ordnen oder zu kategorisieren - so inadäquat dies auch sein mag (...) (hierzu gehören verstandesmäßige Kartographien der transmentalen Bereiche, rationale ‘Plausibilitätsdiskussionen’ bezüglich des reinen Geistes, an Sprache gebundene Erörterungen der Gottheit und so fort; dabei muß stets fraglos klar sein, daß dieser Modus relativ inadäquat ist und nicht ohne paradoxe Formulierungen auskommt)“ (1988a, S.88). Trotz der hier konstatierten Inadäqanz der Sprache zur Darstellung transpersonaler Erfahrungen spricht Wilber auch von „gnostischen Wissenschaften“. Der Wissenschaftsstatus spiritueller Erkenntnismöglichkeiten resultiert letztlich aus ihrer Erfahrbarkeit, die wiederum an bestimmte Bedingungen gebunden ist. Damit ähnelt dieser Begründungszusammenhang jener Struktur, die in dieser Arbeit an verschiedenen Stellen zur Begründung soziologischer Forschung im konstruktivistischen Kontext verwendet wird. Wilber allerdings argumentiert ontologisch, nicht konstruktivistisch: Es gibt eine Beobachterposition „außen“, die „richtig“ oder „falsch“ erkennen kann: “Denn spirituelle Erkenntnis ist selbst nicht symbolisch; sie verlangt die direkte, unvermittelte, transsymbolische Intuition des Geistes und Identität mit ihm. Wie ich andernorts darzustellen bestrebt war, ist diese Erkenntnis wie alle anderen Formen gültigen kognitiven Wissens experimentell, wiederholbar und öffentlich verifizierbar, weil es wie alle anderen gültigen Erkenntnisformen aus drei Strängen besteht: 1. Vorschrift. Immer in der Form: „Wenn du dies wissen willst, tu das.“ 2. Auffassung. Eine objektive Auffassung-Erleuchtung des von der Vorschrift angegebenen ’Gegenstandsbereichs’. 3. Gemeinschaftliche Bestätigung. Eine Überprüfung der Ergebnisse mit anderen, die den Vorschrifts-und den Erleuchtungsstrang adäquat bewältigt haben.(...) Der dritte Strang ist eine gewissenhafte Bestätigung sowohl durch einen Zen-Meister als auch durch die Gemeinschaft der Mitmeditierenden. Dies ist kein bloß automatischer Schlag auf die Schulter und keine Gesellschaft, in der eine Hand die andere wäscht; es ist eine wirkungsvolle Probe und bedeutet eine potentielle harte Abfuhr und Nichtverifikation jeder in Strang Nummer 2 gewonnenen Auffassung“ (1988b, S.177ff; Hervorhebungen im Original). Auch Wilber kann somit keinen Weg aus dem Zirkel rekursiver Evidenzproduktion verweisen: Die Authentizität außeralltäglicher, transpersonaler Erfahrungen kann nur im Rückgriff auf alltägliche Evidenzquellen geprüft werden. Daß dieses Verfahren möglicherweise große Evidenz/Plausibilität produziert, unterstreicht geradezu, daß Wilber mit seinem Vorschlag den sozial konstituierten okkulten Kontext nicht transzendiert. Die Luhmannsche Differenz von System und Umwelt hat hier heuristische Vorteile: Die okkulte Wirklichkeit kann nur zur Umwelt des Systems gehören, was das System erkennen kann, sind nur Konstruktionen/Modelle der okkulten Wirklichkeit. Alle Erkenntnis erweitert nur die Grenzen des Systems, ohne sie zu transzendieren.
In welchem Kontext auch immer die Erfahrungen mit psychedelischen Drogen interpretiert werden: An einer Veränderung der Erfahrungsmodi selbst besteht kein Zweifel. Das Argument, es handele sich nur um eine vorübergehende biochemische Fehlfunktion des Gehirns schließt erkenntnistheoretisch die Möglichkeit anderer („außeralltäglicher“) Erkenntnisformen nicht aus. Kontexttheoretisch ist interessant, daß auch bei der Wirkung psychedelischer Drogen immer wieder berichtet wird, daß individuelle und kulturspezifische Voraussetzungen offenbar wesentlich sind für Art und Inhalt der Erfahrungen. Anders gesagt: die Erfahrungen scheinen auch in diesen Modi von den Kontexten und Axiomen des erfahrenden Subjekts abzuhängen. Diese Tatsache impliziert dann auch die Chance, den Kontext zu beinflussen bzw. zu „steuern“. Auf dieser Grundlage war es beispielsweise Stanislav Grof möglich, in einem therapeutischen Setting Einfluß auf die Kontextualisierungen der drogeninduzierten Erfahrungen/Erkenntnisse seiner Klienten zu machen (zu den umfangreichen klinischen Erfahrungen mit der LSD-Therapie vgl. z.B. Grof 1985; andere Beschreibungen und Typisierungen psychedelischer Erfahrungen z.B. Taeger 1988, McKenna 1989. Zur „Gegenseite“, die Trancezustände bzw. allgemein religiöse Erfahrungen als „Psychopathologie“ konstruiert und biologische Begleitvorgänge [„Endorphinausschtittung“] als kausal interpretiert vgl. z.B. Prince/I’scheng-Laroche 1985. Die „Gegenseite“ operiert natürlich mit der axiomatischen Überzeugung, daß es eine größere Realität nicht gibt. Sie ist daher zum Zwecke einer konsistenten Konstruktion gezwungen, alle „Phänomene“ durch Verknüpfungen mit Bedingungen der „kleineren“ Realität zu „erklären“).
Ideengeschichtlich erweist sich der Reinkarnationsgedanke natürlich nicht als „östliches Monopol“, sondern ist in einer „Geschichte der Esoterik“ auch in „westlichen“ Traditionen feststellbar, so bereits bei dem orphischen Mysterienkult und bei den Pythagorgern (vgl. Wichmann 1990, 5.44). Da aber im New Age „östliche“ spirituelle Texte sowie theosophisch beinflußte Texte rezipiert werden und nicht esoterische Texte griechischer Philosophen, sind Reinkarnationserfahrungen im New-Age-Kontext häufig „östlich“ orientiert (aber eben fast immer in einer „westlichen“ Adaption).
Übrigens besteht nicht nur eine potentielle und empirisch oft genug realisierte Wahrheitskonkurrenz zwischen Sinnherstellern, die auf der Grundlage des okkulten Axioms operieren. Die Konkurrenzsituati- on besteht latent auch zwischen jenen, die sich positiv auf das Axiom beziehen und jenen, die das in negativer Weise tun. Letzteres bedeutet, Sinn zu produzieren auf der Grundlage der axiomatischen Oberzeugung, daß es eine größere Realität nicht gibt. Mit dieser Gewißheit kann man das „falsche Bewußtsein“ der anderen erkennen und setzt sich ein für die „Aufklärung“ über die „wahren“ (z.B. materialistischen) Grundlagen der Existenz. Man „sieht“ dann sehr deutlich die „Verdummungs-, Vernebelungsund Ausbeutungsstrategien“ „hinter“ den okkulten Sinnproduktionen. Ein schönes Beispiel dafür bieten die „Freidenker“ (vgl. z.B. Jaskulski 1988, Schultz 1988 ).
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© 1993 Leske + Budrich, Opladen
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Stenger, H. (1993). Die “Konstruktionsmaschinerie” bei der Arbeit: Die Herstellung “okkulten” Sinns. In: Die soziale Konstruktion okkulter Wirklichkeit. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-01296-2_6
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DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-663-01296-2_6
Publisher Name: VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden
Print ISBN: 978-3-663-01297-9
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