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Kritizismus und Naturalismus

Die Überwindung des klassischen Rationalitätsmodells und das Überbrückungsproblem

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Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie

Zusammenfassung

Eines der wichtigsten Probleme des philosophischen und des wissenschaftlichen Denkens kommt in den folgenden Formulierungen zum Ausdruck: Wie lassen sich unsere Auffassungen begründen? Wie läßt sich nachweisen, daß sie gültig sind? Wie kann man Gewißheit darüber erlangen, ob oder daß sie wahr sind? Hinter derartigen Fragen verbirgt sich die Suche nach einem archimedischen Punkt der Erkenntnis, nach einem sicheren Fundament, von dem aus sich alle wahren Auffassungen als wahr und unter Umständen auch alle falschen als falsch erweisen lassen, so daß man hinsichtlich des Wahrheitswertes aller möglichen Überzeugungen Gewißheit erreichen kann, ohne dabei einer Täuschung anheimzufallen. Schon das aristotelische Wissenschaftsideal und die damit verbundene Definition des Wissens waren offenbar so geartet, daß man darin die Suche nach einem solchen archimedischen Punkt unschwer erkennen kann, nach einem Punkt, in dem Wahrheit, Wissen und unmittelbare Gewißheit zusammenfallen und der daher als sichere Grundlage für die Ableitung alles übrigen Wissens dienen kann.1) Schon bei Aristoteles findet man die Begründungsidee, die Forderung nach einem Rekurs auf wahre und sichere Gründe, auf unbeweisbare aber einsichtige erste Prinzipien, die die Entwicklung der Erkenntnislehre in den folgenden zwei Jahrtausenden bestimmt hat. Schon bei ihm taucht die Vorstellung auf, daß nur auf diese Weise — durch Rekurs auf eine solche sichere Grundlage — der infinite Regreß vermieden werden könne, der mit der Idee einer beweisenden Wissenschaft nicht zu vereinbaren wäre, — ein Ausweg offenbar aus Schwierigkeiten, die sich in der früheren Kontroverse zu dieser Problematik gezeigt hatten. Mit diesem Wissenschaftsideal war ein Rationalitätsmodell geschaffen, das — verkörpert vor allem im axiomatischen System des Euklid — bis tief in die Neuzeit herrschend geblieben ist. Das Prinzip der zureichenden Begründung, das in diesem Modell zum Ausdruck kommt, kann man wohl als ein allgemeines Postulat der klassischen Methodologie des rationalen Denkens auffassen, ein Postulat, das sich auf Problemlösungsverhalten in allen Bereichen übertragen zu lassen scheint.

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Anmerkungen

  1. Vgl. dazu z. B. die Untersuchungen Kurt von Fritz’ in: Die APXAI in der griechischen Mathematik, Archiv für Begriffsgeschichte, Band I, 1955, in denen dieser Zug der aristotelischen Wissenschaftsauffassung deutlich zum Ausdruck kommt, vor allem, a. a. o., S. 21, wo die aristotelische Definition des Wissens charakterisiert wird: „.. man weiß etwas, wenn man den Grund erkennt, warum es so ist, und damit die Gewißheit hat, daß es nicht anders sein kann. Eine Art, etwas auf diese Weise zu wissen, ist durch einen Beweis ...“ und dann zu den Eigenschaften der Prämissen, von denen dabei ausgegangen werden muß: ,,.. sie müssen wahr .., erste ..., unvermittelt ..., einsichtiger ... als das aus ihnen Geschlossene, früher ..., und das aus ihnen Geschlossene begründend . . sein”, vgl. auch die Erläuterungen dazu auf den folgenden Seiten dieser Arbeit.

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  2. Vgl. dazu mein Buch: Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 13 ff. Bei Hugo Dingier — vgl. seine: Philosophie der Logik und Arithmetik, München 1931, S. 21 ff. — findet sich die Beschreibung einer Situation, die ihrer Struktur nach diesem Trilemma entspricht. Nur hat Dingier sie nicht als Trilemma identifiziert, weil er mit der fragwürdigen Idee der Selbstbegründung operieren zu können glaubte.

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  3. Vgl. dazu den Aufsatz von Wolfgang Stegmüller, Gedanken über eine mögliche rationale Rekonstruktion von Kants Metaphysik der Erfahrung, Teil I, Ratio, 9/1, 1967, Seite 20, Anm. 10, Teil II, Ratio, 10/1, 1968, S. 1., S. 25, S. 28, wo sogar die These aufgestellt wird, „daß das Ziel der aristotelischen Wissenschaftstheorie, wenn überhaupt, so prinzipiell nur mittels einer Theorie (oder besser: Metatheorie) von kantischer Prägung realisierbar ist“.

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  4. Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Vorrede zur zweiten Auflage, Meiner-Ausgabe, Hamburg 1956, S. 31.

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  5. Schon in seinem ersten, bisher leider unveröffentlichten philosophischen Werk: Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, bringt Popper eine Kritik und Revision der Kantschen Lösung und daran anschließend eine Kritik des Positivismus. Inzwischen hat er seine Ideen in einer Weise weiterentwickelt, die es erlauben, von einem neuen rationalen Kritizismus zu sprechen, in dem die Idee der Kritik radikalisiert und vom Rechtfertigungsdenken völlig gelöst wird; vgl. dazu u. a. seinen Aufsatzband: Conjectures and Refutations: The Growth of Scientific Knowledge, London 1963.

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  6. Daß Kant in seinem Unternehmen zwischen Begründung und Erklärung scharf unterschieden und nur auf erstere Wert gelegt habe, ist wohl keineswegs ausgemacht. Vermutlich wollte er beides miteinander verbinden.

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  7. Mancher wird diese Bezeichnung als eine contradictio in adjecto ansehen, weil man heute mit der Idee der Metaphysik die Vorstellung zu verbinden pflegt, daß es sich um prinzipiell nicht prüfbare Aussagen handelt. Aber wenn einerseits im Zusammenhang mit solchen Aussagen die Idee der Gewißheit fallen gelassen wird, andererseits indirekte Prüfungsmöglichkeiten in Betracht gezogen werden, dann kann man durchaus der Auffassung sein, daß auch metaphysische Aussagen als Hypothesen zu behandeln sind, wenn man ihre Dogmatisierung vermeiden will.

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  8. Die kritische Verwendung einer transzendentalen Argumentation gegen jede Theorie, „aus der die Unmöglichkeit der Erkenntnis oder des Lernens aus der Erfahrung folgt“, wie Popper sie vorschlägt — vgl. seine: Logik der Forschung, 3. Auflage, Tübingen 1969, S. 319, Anm. 3 —, scheint mir damit durchaus vereinbar zu sein.

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  9. Und in dieser Beziehung dürfte sich gezeigt haben — vor allem in der vorliegenden biologischen und psychologischen Forschung —, daß bestimmte Züge der Kantschen Lösung des Erkenntnisproblems einiges für sich haben: zum Beispiel die Betonung der geistigen Aktivität und der konstruktiven und apriorischen Elemente in der Erkenntnis, auch wenn sie mit einer Übertreibung verbunden ist, die dem Gewißheitspostulat der klassischen Erkenntnislehre zu verdanken ist: nämlich mit der Verschmelzung von Apriorität, Wahrheit und Notwendigkeit im Begriff des des synthetischen Urteils a priori.

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  10. Diesen Umstand hat sich zum Beispiel Hugo Dingier, der in diesem Punkte durchaus klar gesehen haben dürfte, bis zu einem gewissen Grade zunutze gemacht, indem er in seinem Begründungsversuch auf den Willen zur Sicherung aller Erkenntnis zurückgeht und daraus bestimmte Entscheidungen ableitet, die das Fundament der Erkenntnis herstellen sollen, vgl. dazu mein in Anm. 2 genanntes Buch, S. 3off. Auch seine Philosophie kann als eine weiterführende Deutung Kants aufgefaßt werden, allerdings eine Deutung, die sich bewußt im Rahmen des aristotelischen Programms hält, aber dabei, um den Rückgang auf Evidenz zu vermeiden, einen epistemologischen Dezisionismus als Lösung offeriert.

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  11. Ähnliche Abgrenzungen können fur den Bereich der Moral getroffen werden, indem man etwa Ethik und Moralpsychologie oder Moralsoziologie unterscheidet, entsprechend für die Kunst Ästhetik und empirische Kunstwissenschaft usw.

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  12. Zur Kritik dieser Vorstellung vgl. Karl Popper, The Nature of Philosophical Problems and their Roots in Science, in: Conjectures and Refutations, a. a. O.; sowie Joseph Agassi, The Nature of Scientific Problems and their Roots in Metaphysics, in: The Critical Approach to Science and Philosophy, ed. by Mario Bunge, Glencoe/London 1964.

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  13. Für die analytische Meta-Ethik und die mit ihr verbundene Neutralitätsthese habe ich das in meinem Aufsatz: Ethik und Meta-Ethik. Das Dilemma der analytischen Moralphilosophie, Archiv für Philosophie, Band 11, 1961, zu zeigen versucht; vgl. auch Hans Lenk, Der “ordinary language approach” und die Neutralitätsthese der Meta-Ethik, in: Das Problem der Sprache, München 1967.

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  14. vgl. meinen in Anm. 13) genannten Aufsatz, wo die Konsequenzen der Neutralitätsthese erörtert werden.

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  15. Vor allem Viktor Kraft hat ja in seiner Erkenntnislehre, Wien 1960, die kritisch-normierende Funktion des Erkenntnisbegriffs betont; vgl. a. a. O., S. 24: „Die Erkenntnislehre soll die Grundlage für eine Kritik des tatsächlichen Erkenntnisbetriebes geben, nicht ihn, wie er ist, erkennen“ und S. 25: „Die Erkenntnislehre sucht einen Erkenntnisbegriff und Erkenntnisverfahren, die als Norm zu dienen haben, an denen die Ansprüche, Erkenntnis zu sein, gemessen und entschieden werden können.” Zur Kritik des analytischen Programms vgl. Kraft, a. a. O., S. 13ff.

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  16. Dazu und zum Folgenden vgl. das III. Kapitel meines o. a. Buches.

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  17. Das ist nun in der Tat der Fall, vor allem hinsichtlich der Prägung der Wahrnehmung durch bestimmte Faktoren, wie z. B. theoretische Annahmen, vgl. dazu Alfred Bohnen, Zur Kritik des modernen Empirismus, Ratio 1969, und die darin angegebene Literatur.

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  18. Es sollen Maßstäbe vermittelt werden, Anforderungen, die an „echte“ Erkenntnisse, an gültige Aussagen, Ableitungen, Auffassungen zu stellen sind, Kriterien für ihre Beurteilung geliefert werden.

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  19. )Übringens möchte ich auch die Logik von einer solchen Kritikmöglichkeit — etwa auf der Grundlage von Ergebnissen der linguistischen Forschung — nicht ausnehmen. Es ist durchaus denkbar, daß sich auf Grund solcher Resultate einmal nachweisen läßt, daß in der Logik teilweise von Annahmen ausgegangen wird — es kann sich dabei durchaus um Hintergrundannahmen handeln, die erst auf der Basis solcher linguistischer Forschungen explizit gemacht werden —, die inadäquat sind und daher revidiert werden müssen, wobei sich Konsequenzen für den Aufbau der Logik ergeben können. Eine solche Situation mag heute vielen als unplausibel erscheinen, vor allem, weil die Logik — zusammen mit der Mathematik — als der eigentliche Bereich absoluter Gewißheit aufgefaßt zu werden pflegt. Aber hier gilt ebenso wie in anderen Bereichen die These, daß Gewißheit durch Dogmatisierung stets erreichbar, aber deshalb nicht unbedingt erstrebenswert ist. Im übrigen gilt natürlich das oben erwähnte Münchhausen-Trilemma für den Versuch einer Logik-Begründung ebenso wie für andere Begründungsversuche, ganz abgesehen davon, daß sich hier noch besondere Schwierigkeiten einzustellen scheinen, die damit zusammenhängen, daß die Logik für Begründungen aller Art vorausgesetzt zu werden pflegt. Auch für diesen Bereich muß an die Stelle der Begründungsforderung das Prinzip der kritischen Prüfung treten, wie sich aus meinem o. a. Buch — S. 15 und S. 29 ff. — ergibt.

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  20. Wenn man die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit „transzendental" nennen will, dann können offenbar transzendentale Fragen unter Umständen mit realwissenschaftlichen Mitteln beantwortet werden.

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  21. Im III. Kapitel meines o. a. Buches habe ich zu zeigen versucht, daß das Wertfreiheitsprinzip keineswegs eine Immunisierung des Bereichs der Wertungen und Normierungen gegen wissenschaftliche tnd überhaupt sachorientierte Kritik involviert. Im V. Kapitel ist eine analoge Argumentation hinsichtlich der üblichen Dichotomie von Glaube und Wissen enthalten. Ähnlich läßt sich für die Beziehungen etwa von Wissenschaft und Metaphysik, von Ökonomie, Soziologie und Psychologie, von Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft oder etwa von Philologie, Linguistik und Psychologie argumentieren. Überzogene Autonomiethesen gibt es fast in allen Bereichen von Wissenschaft und Philosophie.

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  22. Zur Kritik dieses Phänomens vgl. das VI. Kapitel meines o. a. Buches sowie meinen Beitrag: Hermeneutik und Realwissenschaft, in: Sozial-Theorie und soziale Praxis, Meisenheim 1971.

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  23. vgl. dazu Wilhelm Dilthey,Die Entstehung der Hermeneutik (1900), in: Dilthey,Gesammelte Schriften, V. Band, 4. Auflage, Stuttgart/Göttingen 1964, S. 317ff.

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  24. Daß zwischen dem Verstehen einer Aussage, dem Verstehen einer Handlung, dem Verstehen eines Gesichtsausdrucks und schließlich dem Verstehen eines historischen Zusammenhangs erhebliche Unterschiede bestehen, die die Anwendung des gleichen Ausdrucks in diesen Fällen äußerst fragwürdig machen, ist meines Erachtens kaum zu bestreiten.

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  25. Einerseits knüpft ja diese Deutung an die positivistische Vorstellung der Gegebenheit des sinnlich Erfaßbaren an, und andererseits scheint hier der Ausweg versperrt zu sein, das Verstehen in die Heuristik zu verweisen.

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  26. vgl. dazu etwa: Richard L. Gregory, Auge und Gehirn. Zur Psychophysiologie des Sehens. München 1966; M. D. Vernon, The Psychology of Perception (1962), Pelican Books, A 530, sowie den in Anm. 17) genannten Aufsatz von Alfred Bohnen.

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  27. vgl. dazu Charles Sanders Peirce, Einige Konsequenzen aus vier Unvermögen (1868), in: Peirce, Schriften I, herausgegeben von Karl-Otto Apel, Frankfurt 1967, S. 215ff.

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  28. vgl. dazu Paul Leyhausen, Biologie von Ausdruck und Eindruck (1967), in: Konrad Lorenz/ Paul Leyhausen,Antriebe tierischen und menschlichen Verhaltens, München 1968, S. 297ff.

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  29. vgl. dazu die in Anm. 21 genannten Arbeiten sowie meinen Aufsatz: Theorie, Verstehen und Geschichte, Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie, Band I, 1970.

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  30. vgl. dazu Ernst Topitsch, Sozialphilosophie zwischen Ideologie und Wissenschaft, 2. Auflage, Neuwied/Berlin 1966, passim.

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  31. vgl. dazu etwa: Milton Rokeach et al., The Open and the Closed Mind. Investigations into the Nature of Belief Systems and Personality Systems, New York 1960; sowie Muzafer Sherif and Carl I. Hovland, Social Judgment, Assimilation and Contrast Effects in Communication and Attitude Change, New Haven/London 1961.

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  32. Das wird hier deshalb betont, weil bestimmte Vertreter anderer Richtungen das explizit zu be‑ streiten pflegen.

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Albert, H. (1971). Kritizismus und Naturalismus. In: Lenk, H. (eds) Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie. Vieweg+Teubner Verlag, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-663-00199-7_4

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