Wie funktioniert das Internet? Fragen wir doch Mai, die YouTuberin.

Wenn das Internet auch ein Hexenkessel ist, in dem gefährliche Falschinformationen gebraut werden, dann sind wissenschaftliche Aufklärung und kritisches Denken die Medizin gegen den Wahnsinn. Wir brauchen Wissenschaft auf dem Schlachtfeld – also im Internet.

Wenn ich nach Tipps für Wissenschaftsvermittlung im Netz gefragt werde, merke ich, dass viele die Stärken der Neuen Medien an anderer Stelle sehen als ich. An falscher Stelle, wie ich finde. Noch vor zwei Jahren hätte ich hier etwas anderes geschrieben. Inzwischen wurden aber viele meiner Vorstellungen durch eigene Erfahrungen widerlegt. Deshalb möchte ich das, was ich bisher gelernt habe, hier zusammenfassen.

Drei häufige Missverständnisse über die Neuen Medien

Missverständnis Nr. 1: Jeder kann Social Media!

Falsch.

Heute kann jeder Sender sein. Jeder kann einen Twitter-Account erstellen oder ein YouTube-Video hochladen. Jedes Forschungsinstitut kann eine Facebook-Seite einrichten und regelmäßig etwas posten. Macht man damit schon Social Media? Nein.

Vergessen wir nicht, worum es bei Social Media eigentlich geht: um Interaktion. Alle Plattformen, auf denen man selbstständig Inhalte veröffentlichen kann, sind soziale Netzwerke, auf denen Sender und Publikum miteinander interagieren. Auch mein Steckenpferd YouTube nehmen viele nur als Videothek wahr, obwohl YouTube eigentlich ein soziales Netzwerk mit Videofokus ist. Wer mit Social Media erfolgreich sein möchte, muss ein aktives Mitglied der Community werden. Nicht nur agieren, sondern auch reagieren.

Nun versuchen wir, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den öffentlichen Diskurs einzuspannen, indem wir sie dazu ermutigen, sich doch einfach einen Twitter-Account zu erstellen und spaßeshalber loszulegen. Doch wir denken nicht weiter: Warum sollte es Spaß machen, etwas zu zeigen, wenn es niemand sieht, oder etwas zu sagen, wenn es niemand hört? Pro Sekunde werden rund 6000 Tweets gesendet, pro Minute rund 300 Stunden Videomaterial auf YouTube hochgeladen. Und jeden Tag kommen mehr User hinzu, es wird immer schwieriger, sich in dem Wust sichtbar zu machen. Um Reichweite aufzubauen, braucht es viele konzeptionelle und redaktionelle Überlegungen, viel Zeit und Engagement. Wer glaubt, dass man Social Media „einfach so nebenbei“ machen kann, wird nicht über „spaßeshalber“ hinauskommen.

Missverständnis Nr. 2: Wer online auffallen will, muss laut schreien

Falsch.

Auch wenn man diesen Schluss logischerweise ziehen könnte, nachdem man Missverständnis Nr. 1 gelesen hat. Wer einmal Zeit in den Kommentarspalten zu Themen wie Tierversuchen, Homöopathie oder Gentechnik verbringt, wird den Eindruck gewinnen, dass man mit Sachlichkeit und Vernunft nicht weit kommt. Doch die laute, aufgeheizte Diskussionskultur im Netz interpretiere ich als Verunsicherung und Wunsch nach Klarheit. Ich habe daher beschlossen, meine eigenen Beiträge nicht zu vereinfachen, sondern – im Gegenteil – stärker ins Detail zu gehen. Weg von 3-Minuten-Videos, hin zu 15-minütigen Interpretationen von Graphen und Konfidenzintervallen. Ich beobachte in meinen eigenen Kommentarspalten, dass sich Geschrei in konstruktive Diskussionen verwandelt, wenn man sein Publikum mit mehr Details und differenzierteren Informationen versorgt. Gewissermaßen gibt man durch seinen Beitrag selbst den Ton an.

Nun bemühen wir uns als Wissenschaftsjournalisten, Komplexität zu reduzieren, um Wissenschaft verständlich zu machen. Und obwohl Verständlichkeit natürlich die Basis jeder Vermittlung ist, wissen wir auch, dass Wissenschaft nun einmal komplex und vielschichtig ist. Es gibt selten kurze Antworten. Man hat selten klare Aussagen, sondern eher ein nuanciertes Einerseits-Andererseits – und das geht gegen alle Social-Media-Regeln, die auf zugespitzte Erregung setzen. Wer Klicks generieren und Reichweite aufbauen will, muss sich an gewisse Spielregeln halten: Aufregende Schlagzeilen, emotionale Bilder, kurze Beiträge. Mehr Unterhaltung, mehr Humor oder mehr Emotionen. Überspitzen, provozieren, schockieren.

Vergessen wir mal, dass eine solche Art der Kommunikation nicht zu wissenschaftlichem und kritischem Denken passt. Dann bleibt immer noch folgendes Problem: Selbst wenn wir versuchen würden, mit wissenschaftlichen Inhalten denselben Ton anzuschlagen wie so manches klickstarke Unterhaltungsformat, würden wir niemals damit konkurrieren können. Wir können Wissenschaft noch so unterhaltsam machen – der Unterhaltungsfaktor wird bei Tiervideos oder Realityshows immer höher sein. Die bessere Strategie ist, etwas anzubieten, das andere nicht im Angebot haben. Und während es mit dem Internet von fast allem immer nur mehr gibt, wird eines immer mehr zur Mangelware: verlässliche Informationen.

Deshalb sehe ich gerade für den Wissenschaftsjournalismus in dem Wust des Internets eine große Chance – solange wir uns nicht von dem Geschrei ablenken lassen. Je mehr andere zuspitzen und herumschreien, desto wichtiger ist es für Wissenschaft und Wissenschaftsjournalismus, einen kühlen Kopf zu bewahren und das Gegenprogramm zu fahren.

Missverständnis Nr. 3: Es geht es vor allem um Reichweite

Falsch.

Es ist ein fataler Denkfehler, der guten Wissenschaftsjournalismus, ja generell gute Inhalte gefährdet. Mir scheint es, als würden Klickzahlen Journalisten und Content-Creators so sehr vernebeln, dass sie die eigentlichen Chancen dieses Medienwandels übersehen. Dass manche Zahlen einem den Kopf verdrehen können, ist zunächst nachvollziehbar. Während Printauflagen und Fernsehquoten sinken, generieren manche Influencer Reichweiten von Millionen Klicks pro Beitrag. Hier liegt ja auch eine Stärke der Neuen Medien: Man kann sehr schnell sehr viele Menschen erreichen. Doch wir dürfen niemals vergessen, warum wir viele Menschen erreichen möchten: nämlich wegen der Inhalte. Zu oft beobachte ich leider, dass Klicks, Abonnenten und Algorithmen mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als den eigentlichen Inhalten. Verstehen Sie mich nicht falsch – um Inhalte zu verbreiten, sind mir alle cleveren Mittel zur Distribution lieb. Doch Reichweite muss wegen der Inhalte verfolgt werden, niemals zulasten der Inhalte. Die Inhalte müssen immer an erster Stelle stehen.

Mein YouTube-Kanal maiLab gehört mit rund 460.000 Abonnenten inzwischen zu den größten deutschen Wissenschaftskanälen. Anfangs war der Kanal für viele eine Kuriosität. Was macht eine promovierte Wissenschaftlerin auf YouTube? Seit wir die sechsstellige Abonnentenzahl geknackt haben, werde ich kaum noch gefragt, wie ich auf die witzige Idee komme, YouTube-Videos zu produzieren. Allein die Reichweite scheint mir eine gewisse Seriosität zu verleihen, oder zumindest die Wahl der unseriös anmutenden Plattform YouTube zu rechtfertigen. Hierin steckt ein Denkfehler, den ich schon unter Missverständnis Nr. 1 beschrieben habe: der Fehler, Social Media und Internet-Formate nicht ernst zu nehmen. Doch fast noch gefährlicher ist es, Internet-Formate nur wegen der Reichweite ernst zu nehmen.

Ich würde gerne behaupten, dass maiLab so reichweitenstark geworden ist, seit ich beschloss, in meinen Beiträgen stärker ins Detail zu gehen. Denn so war es tatsächlich, was mich auch in dem Glauben unterstützt, dass Wissenschaftsjournalismus online viel komplexer sein darf. Doch ich weiß, dass ich sich Reichweite und Qualität nicht gegenseitig bedingen. Manchmal schließen sich Reichweite und Qualität sogar kategorisch aus.

Klicks und Abonnenten sind erst mal nichts anderes als die Auflage einer Zeitung oder die Fernsehquote. Doch Reichweite im Netz ist tückischerweise viel sichtbarer und detaillierter nachvollziehbar – und lenkt daher umso mehr ab. Doch auch wenn wir uns mit dem Medienwandel immer mehr ins Netz bewegen, gilt nach wie vor: Wissenschaftsjournalismus darf sich nicht diktieren lassen von Popularität.

(Natürlich muss man sich eine solche Unabhängigkeit leisten können. Es ist auch eine Frage der Ressourcen. Doch das wäre Stoff für ein eigenes Kapitel).

Eine Frage des Vertrauens

Ich beobachte bei den konventionellen Medien viel Verunsicherung. Die Neuen Medien wirken so seicht und schnelllebig – wie soll man da mit wissenschaftlichen Inhalten überleben? Doch hier liegt vielleicht das größte Missverständnis von allen: Gerade für wissenschaftliche Inhalte sind die Neuen Medien besonders geeignet. Denn Online-Plattformen sind viel „nischiger“ als konventionelle Medien: Das Usererlebnis ist stark personalisiert, die Leute konsumieren die Inhalte, die sie interessieren. Im Gegensatz zu einem Fernsehbeitrag im linearen Programm kann ich bei einem YouTube-Video zum Beispiel eher auf die Methoden von wissenschaftlichen Studien eingehen oder statistische Auswertungen diskutieren. Denn ich spreche zu einem Publikum, das bewusst auf mein Video geklickt hat, um etwas zu erfahren. Die User suchen Informationen, nach denen sie vielleicht bereits gegoogelt haben, ohne befriedigende Antwort. Sie möchten wirklich wissen, was los ist – ein unglaublich dankbares Publikum für wissenschaftliche Inhalte.

Doch angesichts des Informationsüberflusses und der vielen widersprüchlichen Aussagen, die man im Netz findet, ist es nachvollziehbar, dass Menschen skeptischer werden – auch der Wissenschaft gegenüber. Schließlich gibt es wenige Möglichkeiten für den Einzelnen, wissenschaftliche Zusammenhänge selbst zu verifizieren. Wissenschaftliche Veröffentlichungen sind nun einmal nicht für Fachfremde geschrieben. Diese sind auf Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftsjournalismus angewiesen. Vertrauen darf man hier aber nicht selbstverständlich voraussetzen.

Wenn wir das Vertrauen der Menschen gewinnen möchten, müssen wir auch ihnen vertrauen. Wir müssen ihnen mehr zutrauen. Auch deswegen plädiere ich für mehr inhaltliche Tiefe bei der Wissenschaftsvermittlung im Netz. Über skeptische Zuschauerinnen und Zuschauer sollten wir meiner Meinung nach nicht die Augen verdrehen, sondern ihnen eine Chance zur Verifizierung bieten. Wenn wir nicht nur Social Media, sondern auch unsere Zuschauer ernst nehmen, müssen wir sie mit mehr Details versorgen, statt welche auszulassen, komplexe Zusammenhänge aufzeigen, statt zu vereinfachen. Wir sollten nicht sagen: „Das ist zu kompliziert, das muss gekürzt werden.“ Sondern: „Das ist zu kompliziert, wir brauchen mehr Zeit hierfür.“ Und nach jedem maiLab-Video zeigen mir die Zuschauerinnen und Zuschauer in den Kommentaren, dass sie nicht nur bereit, sondern dankbar sind für Komplexität und Differenzierung. Ich musste mich nur darauf einlassen.

Die Zwiebel des Wissenschaftsjournalismus

Wie vermittelt man nun Komplexität mithilfe von Social Media? Wie kann man zum Beispiel Instagram nutzen, um differenzierten Wissenschaftsjournalismus zu betreiben? Kurz gesagt: gar nicht. Doch Plattformen wie Instagram sind trotzdem nicht unwichtig.

Um das zu begreifen, müssen wir vielleicht Wissenschaftsvermittlung grundsätzlich neu denken. Wenn wir uns Wissenschaftsvermittlung als Waage mit zwei Waagschalen vorstellen, auf der einen Seite Verständlichkeit, auf der anderen Seite Komplexität, dann geht Verständlichkeit immer auf Kosten von Komplexität – oder andersherum. Die Waage ist ein unbefriedigendes Bild, denn jedes Aufwiegen ist immer nur ein Kompromiss.

Nehmen wir doch ein neues Bild: die Zwiebel. Jedes wissenschaftliche Thema kann man sich als Querschnitt einer Zwiebel vorstellen. Innen haben wir kleine Schalen, hier erreichen wir wenige Menschen, aber dafür gehen wir ins Detail. Außen sind große Schalen, ein größeres Publikum, aber wir sind inhaltlich oberflächlicher. Zum Beispiel kann ich durch ein Instagram-Selfie mit Weinglas ganz außen auf der Zwiebel Aufmerksamkeit wecken. Weiter innen in der Zwiebel finden die Selfie-Liker mein YouTube-Video über die gesundheitlichen Folgen von Alkohol. Manche hätten sich – ohne die Abholung auf der äußeren Schale – von alleine nie ein Wissenschaftsvideo angesehen. In der Videobeschreibung sind die wissenschaftlichen Veröffentlichungen als Quellen verlinkt. Wer da reinschaut, ist plötzlich im Innern der Zwiebel angelangt. Anstatt Social Media als zwecklos zu betrachten, weil viele Plattformen zu oberflächlich sind, um komplexe Wissenschaftsthemen zu tragen, sollten wir daran denken, dass jedes noch so komplexe Thema von vielen Zwiebelschichten umgeben ist und wir die Menschen außen verpassen, wenn wir sie dort nicht abholen.

Vielleicht muss ich das hier gar nicht so sehr betonen. Wenn Wissenschaftsjournalisten an Social Media und neue Formate denken, orientieren sich die meisten derzeit ohnehin aus der Zwiebel raus. Es ist naheliegend, dass in den oft oberflächlichen Neuen Medien die äußeren Zwiebelschalen eine größere Rolle spielen. Doch wenn wir mit wissenschaftlichen Inhalten online erfolgreich sein wollen, müssen wir mehr ins Detail gehen. Indem wir tiefer in die Zwiebel reingehen, können wir nicht nur besser unserer Verantwortung nachkommen, die Öffentlichkeit aufzuklären, sondern begeben uns auch noch in die richtige Nische des lauten Online-Dschungels, in der wir uns sichtbar positionieren können. Um online vernünftige Aufklärung und guten Wissenschaftsjournalismus zu gewährleisten, gibt es für mich nur eine Richtung: Rein in die Zwiebel!

Die äußeren Schalen müssen wir dabei als Unterstützung nutzen. Während sich Wissenschaftsjournalismus nichts von Popularität diktieren lassen darf, dürfen wir durchaus wissenschaftliche Aufklärung populär machen, mit allen Mitteln, die uns die Medienlandschaft bietet. Je tiefer ich thematisch in der Zwiebel bin, desto stärker sollte ich Social Media einsetzen, um Menschen von äußeren Zwiebelschalen reinzuholen. Die äußeren Zwiebelschalen sind also weniger die Essenz von Social Media, sondern vielmehr Mittel zum Zweck. Sie sind der Weg zum Ziel, das im Innern der Zwiebel liegt. Solange wir dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren, bin ich optimistisch, dass wir immer mehr Menschen tiefer in die Zwiebel ziehen können und dass wir das scheinbar so faktenfeindliche Internet mit wissenschaftlicher Aufklärung füllen können.

Noch sind wir mitten im Medienwandel. Ich sage: Die Zeit des Wissenschaftsjournalismus fängt jetzt erst richtig an.